Gedichte im Islam
Vor jenem trunknen Türken

von Dschalaleddin Rumi, aus dem Mesnewi übersetzt von Georg Rosen

Vor jenem trunknen Türken setzte dann
Der Sänger sich und hub zu singen an.
Und in der Dichtkunst Schleier tat sein Mund
Ihm der Mysterien allertiefste kund:
„Ich weiß es nicht, bist du der volle Mond?
Bist du ein Götterbild, das vor mir thront?
Ich weiß nicht, wie du mich so ganz erfüllst,
Ich weiß auch gar nicht, was du von mir willst. -
Ich weiß nicht, was mich zieht, Luft oder Schmerz?
Bald drückst du mich zu Tod, bald an dein Herz.
Ich weiß es nicht, wie soll ich vor dich treten?
Soll ich dich lieben? Soll ich zu dir beten?
Und, da ich aufgegangen ganz in dich bin,
So weiß ich nicht, wo du bist und wo ich bin.“

Als so der Sänger zu der Laute Klang
„Ich weiß nicht“ und „ich weiß nicht“ weiter sang,
Da ward es unserm Türken doch zu viel,
Voll Zorn griff er nach seiner Keule Stiel
Und schlug damit nach dem erschreckten Sänger:
Dieses „ich weiß nicht“ mag ich nun nicht länger -
Wenn du was weißt, so tu's gefälligst kund,
Und wenn du nichts weißt, nun, so halt' den Mund!
Zum Beispiel: frag' ich dich: Wo bist du her?
So sagst du: „Nicht vom Land und nicht vom Meer.
Nicht aus Herat, aus Balkh nicht, noch aus Rom,
Nicht aus Damaskus, nicht vom Euphratstrom.
Aus Bagdad nicht und nicht vom Perserland,
Aus China nicht und nicht vom Tigrisstrand.“
Statt so zu fuchteln in die Kreuz und Quer,
Sag' doch ganz einfach, Mensch, wo bist du her?
Und frag' ich dich: Was gab es heut zu Tisch?
So sagst du gleich: „Nicht Braten und nicht Fisch,
Nicht Käse und nicht Lauch, nicht Hülsenfrüchte,
Nicht Zucker, Honig oder Milchgerichte.“
Statt mir zu sagen, was es gab zu essen,
Nennst du mir alles, was du nicht gegessen!
Dies ew'ge Nicht und Nein ist mir zu viel!“
Der Sänger sprach: „Verborgen war mein Ziel.
Du fragst mich nach dem Sinn des vielen Neins,
Das Nein erst führt dich auf die Spur des Seins.
Scheint auch das Negative eitel Luft dir,
Bringt's doch vom Positiven einen Duft dir.
Die Negation nur stimmt mein Instrument,
So wie im Tod man erst die Wahrheit kennt.
Bis du das Leben nicht ganz aufgegeben,
Spannt einen Schleier vor dein Aug' das Leben.
Eh' dir nicht ganz verblich der Sterne Licht
Erblickst du ja die helle Sonne nicht.
Drum kehr die Keule lieber gegen dich!
Schlag' tüchtig zu, Freund, und zerschlag' dein Ich!
Denn, willst du hier Erkenntnis schon erwerben,
Folg' des Propheten Rat: Stirb vor dem Sterben.“

© seit 2006 - m-haditec GmbH - info@eslam.de