Im Namen Gottes des Gnädigen, des Begnadenden
Zur Westlichen Demokratie
Übersetzt und herausgegeben von:
Botschaft der Islamischen Republik Iran
Presse- und Kulturabteilung
Godesberger Allee 133-137
5300 Bonn 2
Bonn, im März 1981
(die Rechtschreibung wurde von eslam.de der
neuen Rechtschreibung angepasst)
Zu dieser Reihe
Der Islam hat besonders während der letzten Jahrzehnte für
die islamischen Völker ständig an Bedeutung gewonnen, so dass
im Zusammenhang mit der Islamischen Revolution im Iran häufig
von der Islamischen Renaissance gesprochen wird. Dabei wird
das Ziel des iranischen Volkes, zu den islamischen Werten
zurückzukehren und diese der politischen, sozialen und
kulturellen Neugestaltung zugrunde zu legen, fehlgedeutet. #
Der Islam kennt keine Trennung von Religion und Politik.
Die ständige Entwicklung von Individuum und Gesellschaft
gehört zu den islamischen Grundprinzipien. Die islamischen
Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit gelten für alle Zeiten. #
Die Islamische Revolution im Iran ist sowohl Ergebnis wie
auch Beginn dieser Islamischen Renaissance, d.h. eines
umfassenden Aufklärungs- und Bewusstseinsbildungsprozesses.
Gedanken, die im Rahmen der Islamischen Renaissance diskutiert
wurden, sollen in dieser Reihe auch der deutschen
Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Dadurch soll
aufgezeigt werden, welcher Meinungsbildungsprozess zu dieser
Revolution geführt hat.
Zur Westlichen Demokratie - Vorwort
Im Namen Gottes
Einleitung
Die Diskussion über die
westliche Demokratie und Volksdemokratien ist in der Dritten
Welt noch nicht abgeschlossen. Sie geht auf die Zeit der
Unabhängigkeitsbewegungen dieser Völker zurück. Es wurden
Überlegungen darüber angestellt, wie der künftige Staat nach
der Erlangung der Unabhängigkeit beschaffen sein soll. Die
Diskussion ging auch dann mit unverminderter Intensität
weiter, als sich einige Staaten nach Erlangung ihrer
Unabhängigkeit für die eine oder die andere Form entschieden.
Der Enthusiasmus der ersten Zeit war schnell verflogen, als
sich optimistisch vorausgesehene Erfolge nicht einstellen
wollten. Die ersten Zweifel kamen dann, als manche dieser
Völker wieder dort landeten, wo sie vorher gewesen waren,
nämlich in einer anderen Abhängigkeit. Es wurden Fragen nach
den Ursachen des Fehlschlages laut. Die Behandlung dieser
Fragen aus soziologischer, politischer und ökonomischer Sicht
führte je nach Weltanschauung des Betrachters zu
unterschiedlichen Ergebnissen. Einige entschieden sich trotz
nachweisbarer Mängel und Misserfolgen weiterhin für die
nördlichen Demokratien, weil sie der Meinung waren, dass das
Scheitern der ersten Versuche eher mit den Unzulänglichkeiten
der betreffenden Gesellschaft zu tun gehabt hätte. Die
Gesellschaft müsse je nach Art der Demokratie umgekrempelt
oder allmählich fortentwickelt werden, bis die Mechanismen der
Demokratie greifen; andere forderten eine Art angepasste
Demokratie, weil sie der Meinung waren, dass bei der Übernahme
der nördlichen Regierungsformen auf die traditionellen
Gesellschaftsstrukturen des betreffenden Landes Rücksicht
genommen werden müsse. Diese Ansichten forderten mehrere
Fragen heraus, die nicht befriedigend und abschließend
beantwortet werden konnten. Der ersten Gruppe wurde
entgegengehalten, inwiefern eine Gesellschaft umgekrempelt
oder fortentwickelt werden müsse, ° um eine der nördlichen
Demokratien fruchtbar aufnehmen zu können; wie wolle man der
Gefahr der Entwurzelung entgehen, wenn man eine Gesellschaft
ihrer ureigenen Traditionen entfremden möchte. Die zweite
Gruppe stand vor der Frage, wie viel Tradition zugunsten der
Demokratie aufgegeben werden müsse und wo die Demokratie
Federn zu lassen habe. Wo solle man beim Beschneiden der einen
oder anderen haltmachen? Durch unbefriedigende Antworten
gelangte eine dritte Gruppe zu der Ansicht, dass bei der
ganzen Diskussion die Fragestellung falsch sei. Da wir unser
kulturelles, geschichtliches und traditionelles Erbe nicht
wegreformieren können, um eine andere Lebens- und
Herrschaftsform, die unter ganz anderen geschichtlichen,
sozialen und kulturellen Voraussetzungen zustande gekommen
ist, zu übernehmen, sei es zwecklos, in dieser Diskussion die
Frage nach der Anwendungsart der nördlichen Demokratien zu
stellen. Es ginge vielmehr darum herauszufinden, welche
Regierungsform unter den gegebenen Voraussetzungen zur
Befreiung der Menschen aus ihrer Abhängigkeit und zur
Entfaltung ihrer Fähigkeiten aus eigenem kulturellem und
geschichtlichem Erbe abstrahiert und in Anwendung gebracht
werden könne, ohne befürchten zu müssen, die Gesellschaft
ihrer selbst zu entfremden und den nächsten Misserfolg
vorprogrammiert zu haben.
Wie in anderen Ländern der Dritten Welt wurden diese Themen
vor der Islamischen Revolution Iran und während der
Meinungsbildung über die neue Verfassung der Islamischen
Republik Iran diskutiert. Ali Schariati gehörte zu den ersten,
die vor der Revolution diese Themen aufwarfen, um den Boden
für die Diskussion über die künftige Staatsform vorzubereiten.
Er versuchte, in seinen Schriften und Reden verständlich zu
machen, warum wir scheitern müssen, wenn wir Ideen und
Lebensformen unreflektiert von einer fremden Welt übernehmen
und sie unter Verleugnung der eigenen Identität in die unsere
verpflanzen. Im folgenden Vortrag (Er wurde
innerhalb einer Vortragsserie über „Islamische
Glaubensgemeinschaft und Führung" (Umma wa Imama) vom
31.3.-3.4.1969 in Hosseynieh Erschad Teheran gehalten)
untersucht er die westliche Demokratie aus der Sicht der
Befreiungsbewegungen der unterdrückten Völker. Er zeigt die
Unzulänglichkeiten der Vertreter demokratischer Institutionen
im Umgang mit diesen Völkern. Weder die hier aufgeworfenen
Fragen noch die angedeuteten möglichen Antworten spiegeln
allein die vorrevolutionäre Stimmung der iranischen
Intellektuellen und Gelehrten in der Diskussion über die
künftige iranische Staatsform wider. Sie geben lediglich eine
einflussreiche Stimme unter mehreren anderen wieder, die für
den Meinungsbildungsprozess von Bedeutung waren.
Botschaft der Islamischen Republik Iran
Presse- und Kulturabteilung
März 1981
Zur Westlichen Demokratie
Diese Diskussion beinhaltet verschiedene Fragestellungen:
- Ist die demokratische Regierungsform die bestmögliche
Regierungsform für eine Gesellschaft?
- Wenn ja, trifft diese Feststellung für alle
Entwicklungsstufen der menschlichen Gesellschaften zu? Gilt
sie ohne Unterschied für zivilisierte, nicht-zivilisierte,
sippen-organisierte, feudalistische, bürgerliche,
kolonialisierte, liberale, revolutionäre und
konstitutionelle Gesellschaftssysteme?
- Ist die Demokratie überall im Interesse der
entrechteten, zurückgebliebenen und unterjochten Massen und
Gesellschaftsschichten?
Die Kritik, die in letzter Zeit, besonders seit der
Konferenz von Bandung im Jahre 1954, durch die Führer der
asiatischen und afrikanischen Länder geäußert und später von
den Soziologen und Denkern — vor allem von denen aus den
Entwicklungsländern, die ihre Unabhängigkeit neuerlich
erkämpft haben — aufgegriffen wurde und heute zu den neuen und
wichtigen politischen Diskussionen der Soziologie gehört,
betrifft die Demokratie und ihre erneute Erörterung aus der
Sicht der Soziologie. Obwohl uns alle Vorteile der
demokratischen Regierungssysteme klar sind, stellt sich die
Frage, ob die Beachtung der Stimmen der einzelnen Bürger in
einem Gesellschaftssystem, in dem Fortschritt und Führung
einer unbeweglichen und ignoranten Gesellschaft die erklärten
Grundsätze sind, nicht die Führung und den Fortschritt selbst
verhindern würde? Wenn der Grundsatz gilt, dass der jetzige
Zustand, die dekadenten Gesellschaftsverhältnisse, die
Denkweise, Sprache und Religion verändert werden müssen, dass
die Kultur gefördert, der Aberglaube bekämpft, die
Gesellschaft revolutioniert, sprunghafte Veränderungen erzielt
und die verwerflichen Traditionen entwurzelt werden müssen,
wenn also der Grundsatz der Führung und des
Fortschritts in Politik und Regierung gelten soll, was
revolutionäre Veränderungen zur Folge hat, ist es nicht
möglich, dass diese Führung durch die Bürger derselben
Gesellschaft gewählt wird. Denn die Bürger einer Gesellschaft
würden kaum jemandem ihre Stimme geben, der gegen die
Traditionen, Gewohnheiten, Überzeugungen und Sitten aller
Bürger dieser Gesellschaft ist, sie verändern, bekämpfen und
durch fortschrittliche Traditionen ersetzen möchte, die sie
weder kennen noch damit einverstanden sind. Solch eine Führung
würde die Stimmen der Mehrheit, die sich und ihre
Überzeugungen verändern soll, nicht auf sich vereinigen
können. Sollte für das Regieren nicht der Grundsatz der
Bewegung und Erziehung gelten, sondern das Prinzip der
Aufrechterhaltung, d.h. Politik und Verwaltung aus der Sicht
der Griechen, deren Funktion die Erhaltung des Volkes, die
Konservierung der Traditionen und die Aufrechterhaltung der
geltenden gesellschaftlichen Verhältnisse war, damit sich das
Volk in diesem Staat lediglich glücklich und wohl fühlte,
sollten wir also den Grundsatz gelten lassen, dass der Staat
lediglich zum Schutze der Gesellschaft und zur Erhaltung ihrer
gegenwärtigen Form, d.h. zur Erhaltung des Status QUO, ‚dient,
werden wir eine statische Regierungsform haben, die nicht
führt sondern verwaltet. Veränderungen, Fortschritte und
Reformen sind nicht revolutionär; sie dienen der Erhaltung und
Festigung des Systems. Ohne Zweifel ist die höchste und beste
Regierungsform im Hinblick auf dieses Ziel die Demokratie,
denn das Volk wird denjenigen wählen, der ihm am besten
gefällt, d.h. denjenigen, der die gleiche Vorstellung und
Überzeugung hat, sich auf die Traditionen stützt, sie schützt
und den Weg beschreitet, den alle oder die Mehrheit gehen. Ist
jedoch eine aufgeklärte Gruppe mit dem bestehenden Zustand der
Gesellschaft unzufrieden und wünscht schnelle und
revolutionäre Veränderungen in den Ansichten, Vorstellungen
und herrschenden Traditionen der Gesellschaft, SO wird sie
keine Mehrheit der Bevölkerung bekommen. Die Mehrheit bekommen
nur diejenigen, die als Bewahrer des herrschenden Zustandes
auftreten. Also wird die Regierung, die mit den Stimmen des
Volkes bzw. den Stimmen der Mehrheit gewählt wird, zum
Bewahrer der Ansichten der Mehrheit.
Kinder ziehen das Kindermädchen vor, das für ihr Vergnügen
sorgt und ihnen viel Freiheit lässt; dasjenige, das mit ihnen
streng verfährt, sie auf eine feste Ordnung verpflichtet und
ihnen neue Erkenntnisse und Verhaltensweisen aufzwingt und
ständig neue Wege aufzeigt, wird sicherlich nicht bevorzugt.
Ein Schriftsteller erzählt: „Als Kind war ich nicht gut auf
meine Mutter zu sprechen. Sie zwang mich zu waschen, zu
putzen, zu kochen . ...; sobald ich Gelegenheit zum Ausruhen
fand, sagte sie: ‚Mach deine Aufgaben, lies Bücher’. Ich hatte
eine liebe Tante, die mich zu Spaziergängen mitnahm, mir
Spielzeug kaufte und mir Süßigkeiten gab, sobald meine Mutter
nicht anwesend war. Wenn ich zu meiner Tante ging, fühlte ich
mich absolut frei. Daher lobte ich immer meine Tante und
kritisierte meine Mutter. Jetzt bin ich aber erwachsen,
verehre meine Mutter und erwähne meine Tante nicht mehr.”
Unter welchen Voraussetzungen sollte eine Gesellschaft
ihren Führer, ihr Führungssystem wählen? Wer sollte am besten
den Führer wählen? Er sollte sicherlich durch diejenigen
gewählt werden, die wissen, was die beste Führung ist. Hat die
Mehrheit irgendeiner Gesellschaft jemals erkennen können,
welches das beste Führungssystem für die Menschen ist?
Welcher Soziologe hat behaupten und beweisen können, dass
die Mehrheit des Volkes zu irgendeiner Zeit der Entwicklung
der Gesellschaften von primitiven und zivilisierten bis zu
geschichtlichen Phasen, sogar nach der Französischen
Revolution imstande gewesen war, aus der Reihe bekannter
politischer Persönlichkeiten den besten Führer zu erkennen und
zu wissen, welche Art der Führung die beste und höchste für
ihre Gesellschaft ist?
In Bezug auf Demokratie stellt sich heute also die Frage,
ob die ruhige und unveränderliche Glückseligkeit, das Gefühl
der Ungebundenheit der Menschen und die Bewahrung der
herrschenden Traditionen die Grundprinzipien des Regierens
sind, das heißt, ob die Staatsführung nach der altgriechischen
politischen Anschauung die Fortführung der Stadtverwaltung
ist. So gesehen ist die beste Regierungsform diejenige, die
mit der Stimmenmehrheit der Gesellschaft gewählt wird. Denn
diese Regierung stimmt in ihrer Art mit den ihr zuteil
gewordenen Stimmen überein und wird von der Mehrheit
befürwortet. Solch eine Regierung wird nicht bestrebt sein,
das Volk in die beste Richtung zu weisen und die
gesellschaftlichen Verhältnisse sowie die bestehenden
Traditionen bestens zu verändern und zu entwickeln, sondern
sich zum Ziel setzen, die Stimmen des Volkes auch weiterhin
für sich zu erhalten.
Wer kann die Stimmenmehrheit erhalten? Zweifelsohne nur
derjenige; der seine Sprache spricht, nach seiner Vorstellung
arbeitet, denselben Weg beschreitet und nach den gleichen
Überzeugungen handelt wie es. Indien ist heute mit folgendem
Problem konfrontiert: Dort gibt es über 300 Sprachen und noch
mehr Religionen. Die Regierung kann zwei Richtlinien befolgen:
Sie muß entweder an die Stimmen der Mehrheit denken oder sich
die Veränderung des Volkes und die schnelle Entwicklung des
Lebensstandards, der Wirtschaft und der Kultur zum Ziel
setzen; so muss sie eine der Sprachen zur einzigen nationalen
Sprache erklären. Zwingt sie ihr eine einzige nationale
Sprache auf und schreibt ihr vor, nur in dieser nationalen
Sprache zu reden, so verliert sie zwei Drittel der Stimmen der
Bevölkerung. Denn jeder huldigt seinem eigenen Götzen, seiner
Sprache, seiner Lebensform und seinen einheimischen
Stammestraditionen. Die Regierung, die mit den Stimmen dieser
Bürger gebildet wird, muss dies alles schützen. Strebt sie
eine Veränderung an, so verschließt sie sich den Wünschen des
Volkes und verliert ihr Ansehen. Daher beobachtet man, daß die
fortschrittlichen Denker in allen Gesellschaften von der
Mehrheit der Bevölkerung weder erkannt noch beachtet werden.
So gesehen steht die demokratische Regierungsform trotz der
mit dem Ausdruck verbundenen, aufregenden Erhabenheit im
Widerspruch zu revolutionären Veränderungen und Fortschritten
sowie zur geistigen Führung. Wenn die politische Führung einer
Gesellschaft mit einer besonderen Ideologie die Veränderung
der rückständigen Ansichten, Gedanken und Traditionen
propagiert, kann sie wohl nicht aus den Stimmen der Mehrheit
bzw. nach dem Willen der rückständigen Massen hervorgegangen
sein.
Hier handelt es sich um eine besondere Entwicklungsstufe
der Gesellschaft, die sich mit der Demokratie nicht
vereinbaren lässt.
Warum wird diese Frage in Bandung aufgeworfen, warum wird
sie von den Soziologen behandelt, die über die Dritte Welt
nachdenken? Warum wird sie häufig von den Soziologen gestellt,
die selbst aus den Entwicklungsländern und aus Afrika,
Lateinamerika und Asien stammen? Der Grund liegt darin, dass
in den Entwicklungsländern, die einer Veränderung ihrer
Gesellschaftsstruktur bedürfen, deren Bevölkerung ihre
Lebensauffassung zum größten Teil ändern muss, die das Wohl
des Volkes und die Staatsraison nicht zu erkennen vermögen,
die Führung sich von ihnen nicht unterscheiden wird, wenn sie
mit ihren Stimmen gewählt worden ist. Beispielsweise in der
Gesellschaftsordnung der Stämme und Nomaden ist der erste
Schritt zur Entwicklung und zum Fortschritt die
Sesshaftmachung der Stämme, damit die Landwirtschaft, die den
Unterbau für den Beginn der Zivilisation bildet, in Angriff
genommen werden kann. Gibt es zwei Personen, von denen eine
als Bewahrer der Traditionen des Nomadentums und der Viehzucht
auftritt und die Fortführung dieser Lebensart befürwortet,
während die andere sich für die Sesshaftmachung der
Nomadenstämme und den Beginn der Landwirtschaft und des
bürgerlichen Lebens ausspricht, dann geben ohne Zweifel die
Masse der Nomadenstämme und die einflusseichen
Persönlichkeiten sowie die Stammesführer, die ja konservativer
und traditionsbewusster sind, demjenigen ihre Stimme, der sich
bemüht, den Stamm in derselben sozialen Struktur, in den
selben Lebensverhältnissen und nomadischen Traditionen zu
erhalten. Sicherlich wird die Mehrheit des Stammes einem
Menschen, der nicht an die Traditionen des Nomadenlebens
glaubt und sie revolutionieren möchte, ihre Stimme verweigern.
Warum sind Länder, die vor kurzem befreit worden sind (damit
meine ich die historischen oder primitiven Gesellschaften in
Afrika, Asien oder Lateinamerika, die Länder des Ost-Blocks
und der Dritten Welt, die den wirtschaftlichen Stillstand und
den gesellschaftlichen Verfall schnell überwinden, sich vom
Joch der Versklavung und des Kolonialismus schnell befreien,
ihre allseitige und unheilvolle Wirkung auf die Mentalität,
Denkweise, Moral, Erziehung, Kultur, Religion, Wirtschaft,
Politik und die gesellschaftlichen Verhältnisse beseitigen,
die ungesunden und gefährlichen inneren Ursachen bekämpfen und
Bewegung, Fortschritt, Initiative, menschliche Unabhängigkeit,
Produktivkraft, geistige und materielle Verteidigungsfähigkeit
in ihrer Gesellschaft zustande bringen müssen) heute über den
Wert der demokratischen Regierungsform, des Liberalismus, der
individuellen Freiheiten und der individuellen Rechte (wer
auch immer diese Individuen und die Gemeinschaft sind, wie
auch immer der Zustand der Gemeinschaft sein mag) in Zweifel
geraten?
Henri Martinet erzählt: „Ich fuhr nach Tschad und sprach
dort mit Stammesmitgliedern, Bauern, Proletariern und
Sub-Proletariern dieses Landes, das seine Unabhängigkeit vor
kurzem (vor etwas mehr als einem Jahr) erlangt hatte. Nachdem
wir uns öfter getroffen und näher kennengelernt hatten,
machten allmählich die anfängliche Reserviertheit, Angst und
Schüchternheit, die diese Gesellschaftsschichten den
Ausländern, besonders den Europäern gegenüber zeigen, einer
Art Vertrautheit und Freundschaft Platz, und sie redeten sich
ihren Kummer von der Seele. Leise, vorsichtig und verborgen
vor den Augen der Fremden (vor Beamten, politischen
Persönlichkeiten und Funktionären der nach Unabhängigkeit
strebenden Partei ihrer Regierung) fragten sie mit Neugier und
tiefer Besorgnis: ‚Sie kennen doch diese Ausdrücke. Wir hätten
gern gewusst, wie lange diese Unabhängigkeit, die vor einem
Jahr gekommen und überall verbreitet worden ist, dauern wird?
Wird sie von Dauer sein oder wird sie einmal wieder zu Ende
gehen?’ Welchen Wert hat die Stimme eines Menschen für den
Aufbau einer unabhängigen und freien Gesellschaft, wenn er nur
so begrenzt denken kann? Er wünscht, dass seine Unabhängigkeit
beendet wird. Mit einer unglaublichen Ungeduld fragt er, wann
die Katastrophe der Unabhängigkeit endlich vorbei ist und ihn
in Ruhe lässt?! Das sind die Stimmen der Menschen in dieser
Gesellschaftsordnung und auf dieser Ebene.”
Aus diesem Grund lautet heute die Fragestellung in der
Soziologie der neu befreiten Länder, ob die Demokratie doch
eine schwache, gar gefährliche und konterrevolutionäre
Regierungsform sei. Im Frankreich der Gegenwart, als General
de Gaulle an die Macht kam und erklärte, dass in den
Nachtlokalen sehr abstoßend und schamlos getanzt werde, und
anordnete, dass eine kleine Bedeckung als Cache-sexe (ein
Stoff, so groß wie die Handfläche) an bestimmten Stellen
getragen werden müsse, erhob sich das Geschrei der
Freiheitsliebenden: „Mit weichem Recht will er diesen
Menschen die Freiheit nehmen? Ist es nicht das Recht eines
jeden Menschen, in einem liberalen und demokratischen System
so zu tanzen, wie er es wünscht?” Die Verfallserscheinung
in den Ländern mit dem Liberalismus und der westlichen
Demokratie ist ein Zeichen der Schwäche dieser Ordnung bei der
Führung der Gesellschaft.
Nach den Worten von Professor Chandel: „Die größten
Feinde der Freiheit und Demokratie westlicher Prägung sind die
Demokratie, der Liberalismus und die individuellen Freiheiten
selbst.” Wenn Sie heute nach Frankreich, das auf eine
liberale Tradition von 200 Jahren zurückblickt, fahren, sehen
Sie, dass in den öffentlichen Bedürfnisanstalten und auf den
Straßen zahlreiche Menschen übernachten. Die Clochards breiten
sich überall aus. Sie sind auf allen Straßen, auch dort, wo
Ausländer verkehren, zu sehen. Sie schädigen das Ansehen des
französischen Volkes auf übelste Weise. Die Clochards benehmen
sich in der Öffentlichkeit schamlos und abstoßend. Mit
schmutzigen Gesichtern und Kleidern laufen sie herum, tragen
gewöhnlich eine Flasche Alkohol in der Hand, trinken daraus,
packen die Passanten am Kragen, machen obszöne Witze,
beschimpfen die Leute und führen manchmal sexuell abartige
Handlungen vor. Nachtlokale und Bordelle breiten sich in
schwindelerregender Geschwindigkeit qualitativ und quantitativ
aus. Diejenigen, die sich Gedanken über die Gesundung der
Gesellschaft machen, müssen befürchten, dass das Land dem
Niedergang geweiht ist.
Im Jahre 1962 wurden an einer Straßenkreuzung von Paris
(die Kreuzung, die St. Michel mit St. Germain verbindet) ca.
1700 Verbrechen begangen. Verbrechen wie Messerstecherei,
Schlägerei, Diebstahl, Vergewaltigung usw., an nur einer
Straßenkreuzung innerhalb eines Jahres. Warum? Weil der Glaube
daran, dass jeder Bürger sein Leben gestalten kann, wie er es
für richtig hält, dazu geführt hat, dass der Kapitalismus aus
Gewinnsucht diesen Grundsatz ausnutzt und jede Art von Laster
und Verletzung der sozialen und moralischen Tugenden für
erlaubt und frei erklärt.
Wer hat in Wirklichkeit den Nutzen von der Freiheit und den
individuellen Freiheiten? Etwa die großen Denker? Niemals. Im
Gegenteil, wer die Macht besitzt, hat den meisten Nutzen
davon, Er nutzt sie aus. In den europäischen Städten sehen
wir, wem die Demokratie und der Liberalismus Reichtum und
Macht, Rang und Würde, Ansehen und Einfluss gebracht haben.
Den Denkern wie Vercors, der einer der größten französischen
Widerstandskämpfer und eine hohe geistige Persönlichkeit ist?
Er wohnt in einer alten, verfallenen Etagenwohnung eines
zweistöckigen Hauses in den Seitengassen eines alten Viertels
von Paris. Wer ihn nicht kennt, hält ihn für einen der ärmsten
und unglücklichsten Bürger dieses Landes. Er ist der Mann, der
den ehrenvollen Widerstand des französischen Volkes gegen
Hitler und die Besetzung von Paris angeführt hat. Er ist der
Nationalstolz dieses großen Volkes. Alle freiheitsliebenden
und fortschrittlichen Kräfte Frankreichs, sogar Europas,
respektieren ihn als eine eindrucksvolle, nationale,
überparteiliche, nicht klassengebundene Persönlichkeit. Den
Vorsitz der Tagung Marxistische Gedenkwoche, die jährlich in
Paris abgehalten wird, wobei sich Kommunisten, Katholiken und
Existentialisten gegenseitig angreifen, führt Vercors. Seine
Persönlichkeit ist dermaßen überragend, dass alle ihn
akzeptieren. Nun, wer kennt überhaupt diesen Mann trotz seiner
Größe? Welche Bedeutung hat er für das einfache Volk? Welche
Macht und welchen Einfluss besitzt er? Welchen Anteil hat er
an der Führung Frankreichs? Es ist zwar richtig, dass allen
Franzosen freigestellt ist, Vercors zu kennen, zu wählen oder
einen anderen ihm vorzuziehen. Wer macht aber von dieser
Freiheit Gebrauch? Nur die Mächtigen, die die Freiheit in
ihrem Interesse manipulieren, Stimmung machen und die
freien Stimmen manipulieren. Die Manipulation der
Wählerstimmen geschieht nicht so, wie wir sie uns vorstellen.
Es sind keine Beamten, die Zehntausende imaginärer Wähler zu
Wahllokalen bringen und Zehntausende gefälschter Stimmzettel
aus den Wahlurnen herausholen oder mitten in der Nacht die
Stimmzettel auswechseln. Es geschieht auch nicht in der uns
bekannten absoluten Freiheit, dass die Leute zwar frei sind,
den gewünschten Kandidaten ihre Stimme zu geben, dass die
Beamten jedoch ebenfalls die Freiheit haben, ihnen genehme
Kandidaten aus der Wahlurne herauszuholen, die Schreiber
ebenfalls die Freiheit haben, beliebig Namenslisten
anzufertigen, und sie ebenfalls frei sind, jeden, den sie
wünschen, zum Sieger der Wahlen zu erklären, und es der
Regierung auch freisteht, nach Bekanntgabe der Stimmzahlen und
der Wahlsieger den ihr genehmen Kandidaten als Abgeordneten
dem Parlament vorzustellen.
Nein, diese Art von Manipulationen wird von den
zurückgebliebenen Ländern, die in Sachen westlicher Demokratie
noch unerfahren sind, praktiziert. Das sind gebildete, aber
unverschämte und lächerliche Beamte, die sich dumm gebärden
und die westliche Demokratie nachahmen, wie sie auch den
Modernismus, den Fortschritt und die europäische Zivilisation
von heute in Wirtschaft, Produktion, Städtebau, Lebensweise,
sozialen Einrichtungen, Verwaltungsorganisationen, sogar in
ihren Sprechweisen, politischen Reden, Entwürfen nachahmen.
Das ist eine Art künstliche und illegale Verfälschung.
So verfährt man nicht im Westen. Man ist vornehm und weiß
mit Umsicht zu handeln, zu verschleiern, seinen schmutzigsten,
unmenschlichen Taten die schönsten Namen zu geben und sie
ansprechend und verführerisch zu verpacken. Man wirft keine
gefälschten Stimmzettel mitten in der Nacht in die Wahlurnen.
Die verfälschte Stimmung erzeugt man Tag und Nacht offen, aber
mit größtem Wissen und Können in den Köpfen und Herzen des
Volkes, ohne dass die Betroffenen sich dessen bewusst sind.
Hier fängt die wirkliche und tatsächliche Demokratie an.
Danach ist nämlich jeder Bürger wirklich frei, seine Stimme
dem zu geben, der ihm am besten gefällt, der seine
Gedanken beschäftigt, der sein Vertrauen besitzt und dessen
Tugenden und Vorteile ihm genauestens bekannt sind. Seine
Stimme wird in aller Korrektheit behandelt, aus der Wahlurne
geholt und in größter Eile gezählt. So erhalten diejenigen in
den Parlamenten ein Mandat, die sich in den Köpfen der
Menschen und in ihren Herzen einen Platz erobert hatten, Und
das ist die natürliche und legale Verfälschung! In
Wahlzeiten werden plötzlich die Menschen mit Hunderten von
Aufsätzen, Büchern, Filmen, Theaterstücken und tausend anderen
mittelbaren und unmittelbaren Reklamen verschiedener Art und
Farbe, Biographien und Bildern überhäuft. Beine, Brüste und
andere, für die Wahlen und die Demokratie wichtige Stellen der
bekannten und beliebten Mannequins, Tänzerinnen und
Schauspielerinnen werden beschriftet. In Kinos, Tanzlokalen,
Vergnügungsvierteln und Parkanlagen wird für die Kandidaten
Reklame gemacht.
Wie kommen denn sonst Meinungsbildung und Beeinflussung der
Gefühle zustande? Bei der Beurteilung der gesellschaftlichen,
besonders der politischen Fragen wäre es sehr naiv und
illusorisch anzunehmen, dass die Masse des Volkes, die die
Mehrheit bildet (die zahlenmäßige Mehrheit ist in der
Demokratie für die Bildung der Regierung und die Wahl des
Führers maßgebend), durch eigene, auf soziologische und
philosophische Denkweisen gestützte Untersuchung und
wissenschaftliche Forschung zu einer Meinung gelangt sei und
sich entschieden habe, zur Wahlurne zu gehen. Träfe dies zu,
so hätten die Wahlkampfveranstalter sinnlos und aus
Unwissenheit Millionen Dollar und Mark für Reklame ausgegeben
und Tausende von Initiativen und Kunstgriffen vergeblich
gezeigt.
Wenn die Mehrheit des französischen Volkes Gaullisten sind,
warum haben sie ihn gestürzt? Wenn er keine Mehrheit besaß,
warum haben sie einen bekannten Gaullisten, der seinen
Einfluss und sein politisches Ansehen de Gaulle verdankte, nur
deswegen zu seinem Nachfolger gewählt, weil er sich politisch
zum Gaullismus bekannte?
Während des französischen Studentenaufstandes im Jahre 1968
haben wir erlebt, dass französische Francs und sogar Dollar
bei der Meinungsbildung nicht nur unter den Rechten,
traditionalistischen Konservativen und Kapitalisten, sondern
auch unter den Linken, jungen Menschen, Gebildeten, Schülern
und Studenten im Hintergrund eine Rolle spielten. Es hat schon
einen Sinn, dass die Präsidentschaftskandidaten in Amerika und
Frankreich sowie die Parteiführer in England in ihren
Wahlkampfreden mit Vorsicht, Akribie und sogar Schmeichelei
diese Fragen behandeln, um Bankiers, Großkapitalisten, sogar
Nachtclubbesitzer, Besitzer von Spielkasinos und Rassisten an
ihre politische Linie zu binden, statt für die amorphe Masse
der Bevölkerung Partei zu ergreifen; denn ein Schmuggler oder
Gangster kann in Amerika einem Präsidentschaftskandidaten zu
mehr Stimmen verhelfen als ein Schriftsteller oder Denker. Die
ersteren haben einfach mehr Stimmen zur Verfügung.
Es ist kein Zufall, dass die Kennedys es für opportun
halten, in ihren Wahlkampfreden gegen die Erwartungen der
Weltöffentlichkeit und gegen die eigene, stets vertretene
politische Richtlinie offiziell für Israel Partei zu ergreifen
und mit den steinreichen Juden von New York, die das
politische Schicksal des amerikanischen Volkes mit Hilfe der
Mafia-Gangster bestimmen, zu flirten und ihre Ehre für die
Stimmen, die mit Geld, Sex und Revolver gewonnen
werden, herzugeben — andernfalls würden sie nicht gewählt.
Zweifellos machen Geld und Macht es möglich, alle zur
Verfügung stehenden Propagandamittel, die großen
künstlerischen, literarischen und gesellschaftlichen
Begabungen und Möglichkeiten in den Dienst des Stimmenfanges
zu stellen. Gewiss, sie sind frei bei der Stimmabgabe, aber
versklavt durch die Stimmungsmache. Man hat ihre
Meinung durch Geld beeinflusst und ihnen dann die Freiheit
gelassen, ihre Stimme nach eigenem Gutdünken abzugeben!
In Anbetracht der politischen Lage Europas und Amerikas
wäre es eine große Beleidigung zu behaupten, diejenigen, die
mit der Stimme der Mehrheit in diesen Kontinenten
gewählt worden sind, seien die hervorragendsten und fähigsten
Menschen in diesen Mustergesellschaften der Zivilisation und
Kultur. Das wäre eine große Beleidigung sowohl für Europa und
Amerika als auch für die Menschheit. Eine Persönlichkeit wie
Schwartz, der zu den größten Mathematikern Frankreichs gehört
und in Europa als fortschrittlicher Denker bekannt ist, kann
seinen Wahlkampf und die Veröffentlichung seiner
Wahlpropaganda nicht finanzieren und ist gezwungen, die
Unterstützung der Stadtverwaltung in Anspruch zu nehmen, weil
er sich weder auf die Kapitalisten, für die die stärksten
Gruppen der Meinungsmacher arbeiten, noch auf die Kommunisten
stützen möchte. Es gibt also Freiheit, aber auf diese Weise.
Sie können ihre Meinung zwar frei äußern, sie aber nicht frei
bilden. Die Meinungen werden vorab manipuliert und dann wird
der Bevölkerung freigestellt, sie nach Belieben zu vertreten,
denn in einer kapitalistischen Gesellschaft sind die
Politiker, die Herren über das Schicksal der Gesellschaft, und
sogar die Meinungsmacher sicher, dass die Wähler die Stimmen
abgeben, die man ihnen vorher suggeriert hat, auch wenn sie
die Freiheit haben, anders zu stimmen. In diesem freien Feld,
in dem jeder frei ist, so zu reiten wie er will, wird das
Fußvolk zweifelsohne zurückbleiben. Die Reiter haben das
Rennen schon längst für sich entschieden.
Für den Liberalismus im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts
haben die Bourgeoisie und der Kapitalismus Pate gestanden.
Beide wollten die wirtschaftlichen Einschränkungen aufheben,
die Grenzen öffnen, Zoll- und Investitionsbestimmungen außer
Kraft setzen und die Voraussetzungen für freies: Unternehmen,
für die Investition und Gewinne schaffen, damit jeder
arbeitet, wie er will, was er will und solange er kann. Nun,
es ist zweifellos klar, wer mit jeder gemeint ist, nicht nur
aus rationalen, sondern aus traditionellen und objektiven
Gegebenheiten kann jeder sehen, dass diese Freiheit nur dazu
dient, dass jeder Kapitalist ohne jegliche Einschränkung, ohne
rechtliche Voraussetzungen und ohne mäßigende wirtschaftliche,
soziale und menschliche Vorbehalte frei ist, jedes Mittel nach
Belieben in Anspruch zu nehmen, um aus hundert Mark einen
Gewinn von zehntausend im Jahr zu erzielen, gleichgültig, ob
er es in Europa anstellt oder außerhalb. Wessen Losung war es:
Laissez faire, laissez passer? Wer soll es lassen, und
wer soll es tun? Die Antworten auf diese Fragen sind schon
klar. Der Kapitalismus, der Kolonialismus und die
erbarmungslose Ausbeutung der letzten beiden Jahrhunderte sind
klare Antworten auf diese Fragen. Wer soll hingehen und etwas
tun? Natürlich derjenige, der Geld hat, der Kapital besitzt,
der eine Ware aus dem Zollamt herausholen möchte.
Bei dem Liberalismus und der individuellen Freiheit, die
jahrelang die Intellektuellen und Humanisten der Welt,
besonders die Intellektuellen und Reformatoren der
unterentwickelten Länder stark beeindruckt haben, als ob sie
göttliche Offenbarung wären, handelt es sich um
wirtschaftlichen, nicht aber um menschlichen Liberalismus!
Wir, die naiven Humanisten, haben ihn für den menschlichen
Liberalismus gehalten, ihn hochgepriesen, uns dafür geopfert
und unsere Patrioten dafür verbluten lassen, und die
niederträchtige Bourgeoisie hat unter dem Banner des
Liberalismus die europäischen Arbeiter ausgebeutet und die
asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Menschen
unter Kolonialherrschaft gebracht. Wir, die naiven Orientalen,
wurden durch den Liberalismus zu Modernisten, die westlichen
Bourgeois zu Kapitalisten. Als in Europa der Ruf der
Humanisten nach Demokratie, Liberalismus, individuellen
Freiheiten und Menschenrechten ertönte, das Fieber des
Humanismus immer höher stieg und die schönsten
Wortschöpfungen, die reizenden und scharfsinnigen Gedichte,
die Meisterwerke der Musik, des Theaters, des Schrifttums, der
Malerei mit Lobeshymnen auf Freiheit und Liberalismus die
obdachlosen Intellektuellen und die ehrenhaften und naiven
Humanisten in Erregung versetzten, erklärte die demokratische
und liberale Regierung von Frankreich, die nach der Großen
Französischen Revolution mit der Stimme der Mehrheit gewählt
worden war, in einer Mitteilung: Meine Damen und Herren,
französische Bürger, jeder, der die Bombardierung von Algier
aus der Nähe beobachten möchte, kann sich am Tage X des Jahres
1812 am Ort Y, den die französische Armee für die
französischen Zuschauer eingerichtet hat, einfinden, um die
militärischen Aktionen der Armee aus der Nähe zu sehen,
Jawohl, die liberale Regierung, die aus demokratischen Wahlen
hervorgegangen ist, verkündet die Bombardierung einer
Großstadt und den Massenmord an einem Volk, dessen einzige
Schuld darin besteht, schwach zu sein. Eben diese
demokratische und liberale Regierung, die die Erbin der
Errungenschaften der Großen Französischen Revolution ist,
lässt an einem Tag 45 000 Menschen in Madagaskar töten. Diese
Verbrechen sind nicht im Mittelalter und zu Zeiten Ludwigs,
des Schlossherren von Versailles, begangen worden. Den
Kolonialismus, der Massenmord an Völkern, Vernichtung der
Kulturen, Reichtümer, Geschichten und Zivilisationen der
nicht-europäischen Menschen mit sich brachte, verdanken wir
den Regierungen, die demokratisch gewählt wurden, Regierungen,
die an Liberalismus glaubten. Diese Verbrechen wurden nicht
von Priestern, Inquisitoren und Cäsaren begangen, sondern im
Namen der Demokratie und des westlichen Liberalismus. Wann? Im
19. und 20. Jahrhundert. D.h. in den Jahren, als Liberalismus,
Demokratie, Humanismus und Brüderlichkeit von den Europäern in
der Welt verkündet wurden, als Kunst, Literatur, Poesie,
Kultur und Philosophie von dieser neuen Welle überflutet
wurden und die Intellektuellen der ausgebeuteten Länder der
Dritten Welt, die selbst wehrlose und unwissende Opfer dieser
verführerischen Worte geworden waren, sich dafür begeisterten.
Wir in Asien, Afrika und Lateinamerika waren nicht die
einzigen Opfer der bürgerlichen Demokratie und des
Liberalismus der europäischen Geschäftsleute, sondern die
Masse der europäischen Völker fiel in größerem Umfang der
hinterhältigen Ausbeutung und Plünderung durch die
Kapitalisten zum Opfer. Unter der schönen und verführerischen
Maske der Freiheit haben die Blutsauger uns ausgebeutet und
unsere Gegenwart, Zukunft, sogar unsere Vergangenheit
vernichtet, uns verunstaltet und zum Gespött gemacht. In
dieser Freiheit und Demokratie wurde die Bevölkerung Europas
zum Sklaven des Kapitalismus und wir zu Menschen zweiter
Klasse, zu Untermenschen, zu wilden, halbzivilisierten,
kannibalischen, unbegabten, faulen, irrationalen,
rückständigen, kulturlosen, ungebildeten, unlogischen
Eingeborenen. Welcher Denker, Humanist, gar Sozialist und
Kommunist hat in Europa protestiert, als der Kolonialismus und
der Kapitalismus unter der Maske der Demokratie und des
Liberalismus solch ein Feuer in der ganzen Welt entfacht
hatten, als Millionen wehrloser Muslime und Inder, schwarze
und gelbe Völker ausgeplündert und vernichtet wurden?
Victor Hugo hat in seinem Roman Les Miserables solch
ein aufregendes, gefühlvolles und menschliches Werk für die
Armen geschaffen. Kaum zu glauben, dass dieses Buch und Werke
dieser Art in der Zeit geschrieben wurden, als am anderen Ende
der Welt unsere Völker niedergemetzelt und ausgeplündert
wurden.
Ich kann es Marx, Engels, Proudhon und anderen Sozialisten
und Revolutionären nicht verzeihen, dass sie im Westen nur für
die gerechte Verteilung dessen eintraten, was im Osten
geplündert wurde — gerechte Verteilung unter Kapitalisten und
Arbeitern. Das nannten sie dann das Recht der Arbeiter, ihr
Recht auf die Ware, die sie produzierten!
Marx nannte die westliche Ware konzentrierte Arbeit. Ich
als Orientale konnte beobachten, dass sie konzentriertes
Verbrechen und konzentrierter Raub war!
Im 19. Jahrhundert sammelten Hunderttausende von
französischen und englischen Arbeitern Unterschriftslisten und
setzten ihre Regierungen mit Streiks unter Druck, ihre Armeen
aus Ägypten, Nordafrika und Indochina nicht abzuziehen, damit
sie ihre Ware diesen Ländern aufzwingen und sie ausplündern
konnten, so dass die Löhne in England und Frankreich stiegen.
Um die Stimmen von Hunderttausenden englischer Arbeiter nicht
zu verlieren und zu zeigen, dass man auf ihre Forderungen
eingegangen war, hat die demokratische Regierung Englands ihre
Armeen aus Nordafrika nicht abgezogen.
Hier möchte ich auf eine andere Frage eingehen. Es gibt
zwei Arten von Demokratie, die freie Demokratie und die
engagierte bzw. dirigierte Demokratie. Die nicht-engagierte
Demokratie findet ihren Ausdruck in einer freien Regierung,
die mit den Stimmen der Bevölkerung gebildet worden ist, die
keine andere Verpflichtung hat als die Erfüllung des
Volkswillens, nach seinen traditionellen Sitten und Gebräuchen
zu leben.
Die engagierte Demokratie findet ihren Ausdruck in einer
Regierungsform, die aufgrund eines fortschrittlichen und
revolutionären Programms die Menschen, ihre Anschauung,
Sprache, Kultur, gesellschaftlichen Verhältnisse und ihren
Lebensstandard sowie die Struktur der Gesellschaft verändern
und sie in bestmöglicher Form führen möchte. Sie stützt sich
auf eine Ideologie, eine philosophische Schule und verfährt
nach einer genauen Planung. Sie verfolgt nicht das Ziel, die
Stimmen der Bevölkerung auf sich zu einigen, sondern
beabsichtigt, die Gesellschaft so weit zu entwickeln, dass sie
sich auf der Basis dieser Ideologie zu einem höheren Ziel
bewegt und ihre revolutionären Ziele verwirklicht. Wenn es
Menschen gibt, die an diesen Weg nicht glauben, deren
Verhalten und Meinung zum Verfall und Stillstand der
Gesellschaft führen, wenn es Menschen gibt, die ihre Macht,
ihre Freiheit und ihren Reichtum missbrauchen, wenn es
gesellschaftliche Formen und Traditionen gibt, die den
Menschen zur Rückständigkeit verurteilen, muss man mit diesen
Traditionen brechen, jene Denkweise verurteilen und die
Gesellschaft aus ihren verkrusteten Strukturen befreien. Das
sind die engagierte Demokratie und verantwortungsbewusste
Führung, die die Gesellschaft nicht aufgrund der Traditionen,
sondern auf der Basis eines revolutionären Programms zu einem
geistig und sozial fortschrittlichen Ziel führen.
Zweifelsohne ist der Islam eine engagierte Regierungsform
und der Prophet ein engagierter Führer. Rodinson hat unseren
Propheten den bewaffneten Propheten genannt. Wir geben zu,
dass unser Prophet auch bewaffnet ist. Er ist kein Prophet,
der die Offenbarung verkündet und schweigt. Er ist einer, der
die Botschaft verkündet, sich um ihre Verwirklichung bemüht,
dafür leidet, kämpft und bekämpft wird. Er fordert alle
Regierungen der Welt auf, sich zu ergeben oder sich ihm nicht
in den Weg zu stellen, damit er seine Botschaft den Menschen
verkünden kann. Wer sich weigert, wird bekämpft. Der Prophet
ist bewaffnet, weil er engagiert ist. Er kann die Menschen
nicht sich selbst überlassen, er ist ein Reformator und will
die Menschen und die Gesellschaft verändern. Ist eine
Lehrmeinung irrig, akzeptiert er sie nicht als Grundlage
seiner Wahl, seines Glaubens und seiner Politik. Sein Glaube
verpflichtet ihn, diese Meinung zu ändern. Das ist der Sinn
des Sendungsbewusstseins. Wenn daher heute eine engagierte
politische Gruppe oder Regierung die Führung eines Landes
übernimmt, das sich im Stillstand befindet, das unter den
dekadenten Beziehungen und Traditionen’ leidet, dessen
kulturelle und gesellschaftliche Verhältnisse schwach bzw.
ungesund sind, in dem Streitigkeiten, Unrecht und Korruption
verbreitet sind, wo irrige Meinung und Ignoranz herrschen, ist
sie verpflichtet, nicht zuzulassen, dass das Schicksal der
Revolution durch die Demokratie der gekauften, wertlosen
Stimmen zum Spielball der Ignoranz, des Aberglaubens und der
Feindseligkeit wird. Sie ist verpflichtet, die Revolution zu
starten, zu lenken und zum Ziele zu führen. Sie ist im Sinne
der politischen Soziologie nicht verpflichtet, sich auf die
Stimme der Mehrheit zu stützen. Sie ist verpflichtet, ihre
Ideen und Gedanken über die Veränderung der geistigen Richtung
und der gesellschaftlichen Verhältnisse, über die kulturelle
Entwicklung, industrielles Wachstum und revolutionäres Handeln
aufgrund ihrer Ideologie zu verwirklichen. Wenn also die
politische Führung dieser engagierten Gruppe die Geschicke der
Gesellschaft lenkt, besteht ihr ganzes Ziel darin, sie auf der
Grundlage einer revolutionären Ideologie zu entwickeln, ihre
Gesellschaftsordnung zu erneuern, Kultur, Moral und Meinungen
des Volkes zu revolutionieren, obwohl die Mehrheit eine andere
Meinung vertritt. Warum sollte man sich in diesem Stadium der
Entwicklung nicht um die Demokratie kümmern, sondern sich auf
fähige und revolutionäre Führung stützen? Weil die Stimmen des
Volkes noch nicht die Würdigsten wählen können, weil die
Volksmasse noch nicht die fähigste Führung erkennen kann. Hier
ist also die Rede von einer rückständigen Gesellschaft und
einem revolutionären Regime mit einer fortschrittlichen
Ideologie. Die Revolution mag einen schnellen politischen Sieg
erringen. Geistige Erziehung und revolutionärer Aufbau der
Gesellschaft brauchen jedoch eine längere Zeit. Lenin setze
dafür ein halbes Jahrhundert an. Die chinesische
Kulturrevolution glaubte an eine permanente Revolution! Im
Gegensatz zu früheren Revolutionären, die glaubten, dass die
Machtergreifung eines revolutionären Regimes und der Sturz
seines reaktionären Vorgängers den Sieg der Revolution
bedeuten, glauben gegenwärtige Revolutionäre, dass die
konterrevolutionären Elemente, der entmachtete Feind, der auf
der Lauer liegt, und Schlangen, die durch den plötzlichen
Schlag betäubt sind, Jahre nach der Etablierung der Revolution
eine Gelegenheit suchen, sich in der nachrevolutionären
ruhigen Zeit plötzlich zu erheben und die Bewegung von innen
zu zerschlagen. Die Ruhe setzt nach der ersten Generation der
Revolution, besonders nach dem Tod des ersten
Revolutionsführers, ein. In der Zeit der Stagnation und des
politischen Vakuums in der Führung werden die Revolutionäre
durch die Berufspolitiker und Demagogen ersetzt, gesetzliche
und offizielle Formalitäten, protokollarische Handlungen der
Ämter und der Politik, demokratische Demagogien und die
Wiederholung der Inhaltsleeren und imitierten Parolen
verdrängen die selbstlose Passion, Rechtschaffenheit und
Gerechtigkeit der avantgardistischen Revolutionäre der ersten
Stunde. Nach dem Tode des unbestrittenen Revolutionsführers
zerbrechen die Macht der Volksmasse und die Einheit der
revolutionären Front durch Flügelkämpfe in der Partei,
Klassenkampf in der Gesellschaft, offene und verborgene
Gruppenbildungen und Verfilzungen und wahltaktische
Konfrontationen bei der demokratischen Wahl der politischen
Führungsnachfolge. Die Revolutionäre werden in Bürgerkrieg und
diplomatische Spiele verwickelt, manche von ihnen werden sogar
dazu ermuntert, die Nähe einer fremden Macht (außerhalb der
Revolution, sogar außerhalb des Landes) zu suchen. Hunderte
von Konterrevolutionären, die wie Raubtiere vor der
vernichtenden Gewalt der Revolution und durch die Fähigkeit
des ersten Führers geflüchtet sind und auf der Lauer liegen
wie die Bazillen zahlreicher Krankheiten, die durch die Adern
der Gesellschaft zirkulieren, tauchen wieder auf, wenn sie
nach dem Tode des Führers die Gelegenheit für innere
Zusammenstöße und Streitigkeiten für gekommen sehen. Sie
höhlen die Revolution von innen aus, bauen unter der neuen
Maske die alte Ordnung wieder auf und betreiben die
Unterwerfung des Volkes unter dem Deckmantel der Herrschaft
des Volkes. Die herrschende Klasse und jene Kräfte, gegen
die sich die Revolution richtete, die die Revolution bekämpft
hatten und besiegt wurden, gelangen mit Hilfe von Geld, Macht
und Einfluss, die sie von jeher in der Gesellschaft besaßen,
durch die Hintertür der Wahlurnen an die Oberfläche, sie
verschaffen sich mit Hilfe von wirtschaftlicher und
gesellschaftlicher Macht moralisches Ansehen bei einer breiten
Öffentlichkeit. Sie werden zu Erben der Revolution mit Hilfe
von Propaganda, Inanspruchnahme der Dienste von fähigen
Menschen, Gewinnung der Unterstützung von religiösen und
nationalen Persönlichkeiten, demagogischen Spielen,
Gesinnungswechsel, übertriebenem, revolutionärem Eifer,
Zurverfügungstellung des eigenen Ansehens und der eigenen
Fähigkeiten in den Dienst der Revolution und Kollaboration mit
einer der sich im Machtkampf befindlichen Revolutionsgruppen.
Der Henker von gestern wird zum Anwalt von heute. ‘Ein
ud-Doule, der von Mohammad Ali Mirza bestellte Henker von
Bagh-e Schah, wurde vom Parlament zum Ministerpräsidenten und
später zum Senatspräsidenten gewählt. Er hat den Redner der
Konstitutionellen Revolution, Malek al-Motakallemin, in
Vertretung des despotischen Sultans hinrichten lassen und nach
dem Siege der Revolution in Vertretung des Volkes sein Denkmal
enthüllt. Jedermann weiß, dass der maskierte Feind viel
gefährlicher ist. Diktatur ist wie das Gift in einer
beschrifteten Flasche, das unter Zwang verabreicht wird.
Demokratie in einer rückständigen Gesellschaft ist hingegen
wie der Leckerbissen, der vergiftet wird. Er wird dir als
Gnadenerweis geschenkt, du nimmst ihn hoffend, flehend und
begierig vom Feinde entgegen und schluckst ihn herunter. Er
schenkt ihn dir nicht umsonst! Es ist das Gift, das einem
blinden Patienten nicht etwa von einem Mörder, sondern von
einem Arzt in einer Medikamentenflasche verabreicht wird. Es
ist erstaunlich, dass der arme Patient, der vergiftet wird,
gelähmt ist und im Sterben liegt, noch sein Geburtstagslied
anstimmt.
Daher vertrauen die neuen revolutionären Regime die
Geschicke der Revolution nach ihrem politischen Sieg, der noch
sehr oberflächlich und unvollständig ist, niemals der
Demokratie an. Sie stützen sich nicht auf die Stimmen der
Mehrheit, die keine eigene Meinung hat — und selbst wenn sie
eine hat, ist sie reaktionär — denn hier ist die Rede von
einer traditionell rückständigen Gesellschaft, in der die
Revolution stattgefunden hat. In dieser Gesellschaft
übertrifft der Kollektivgeist der Familie, der Sippe und des
Stammes (Durkheimscher Sozialismus) den individuellen
Unabhängigkeitsgeist (Durkheimscher Individualismus). In
diesem Entwicklungsstadium der Gesellschaft vertritt jede
Gemeinschaft (Familie, Stamm) dieselbe Meinung, denn der Stamm
ist wie eine Person mit einer Meinung. Es gibt keine
potentiell unterschiedlichen Stimmen pro Kopf. Demokratie
unterscheidet nicht zwischen Sammelstimmen und
Pro-Kopf-Stimmen. Die politische Soziologie kennt keinen Ort
der Welt, an dem die Zahl der Personen und Stimmen gleich ist,
nicht einmal im heutigen Westen zwei Jahrhunderte nach der
Französischen Revolution.
In einer rückständigen Gesellschaft, in der eine Revolution
stattgefunden hat, ist die engagierte und revolutionäre
Führung mit den tief verwurzelten Überresten der Ignoranz und
Abweichung konfrontiert. Es gibt immer noch starke Kräfte, die
Teile der Gesellschaft auf ihre Seite ziehen und Zwietracht
stiften können. Die gefährlichen Bazillen vielfältiger, akuter
sozialer Krankheiten sind immer noch im Unterbewusstsein der
Bevölkerung vorhanden. Die reaktionären Kräfte, die während
der Revolution entwaffnet worden sind, besitzen noch immer in
gefährlichem Maße Macht und Einfluss. Die geschickte und
starke Einflussnahme der Fremdmacht, die schon immer bestanden
hat und sich auf die Hilfe der Kollaborateure stützen konnte,
ist noch nicht beseitigt worden. Sogar die Kräfte, die sich
der neuen ideologischen Linie angeschlossen haben und
theoretisch von der Revolution überzeugt und ihre fanatischen
Anhänger sind, haben noch kein revolutionäres Bewusstsein
entwickelt. Sie sind in ihrem Denken, Verhalten und Charakter
der vorrevolutionären Zeit verhaftete Menschen, auch wenn sie
ihre Meinung geändert haben sollten.
Das sind die größten Gefahren, die der Bewegung von innen
drohen. Da die Revolution die Gesellschaft sehr schnell
überrollt, weichen alle Kräfte, Gesellschaftsgruppen und
-schichten davor zurück. Diese Kräfte sind sich noch fremd. Es
gibt Abtrünnige und Feinde, die ruhig sind und darauf warten,
die kleinste Schwäche der politischen Führung ausnutzen zu
können. Diese Gruppen könnten die Meinungen der Massen
beeinflussen. In dieser Situation dürfen weder die
Revolutionsführung noch die Gründer der Bewegung durch die
schnellen Erfolge in Euphorie verfallen und die Revolution für
unverletzbar halten. Sie dürfen das Volk nicht seinem
Schicksal überlassen, sich von der Verantwortung nicht
lossagen und die Regelung der Nachfolge versäumen. Sie dürfen
sich nicht von der Versuchung des westlichen Liberalismus
irreleiten lassen, die Revolution nicht einer solchen
Gesellschaft der Demokratie der Zahlen anvertrauen, die
Bewegung, die Ideologie und die Erfolge der Revolution nicht
der Gefahr politischer Machenschaften, innerer
Auseinandersetzungen, Feindschaften der Politiker, Abenteurer
und Demagogen des Marionettentheaters der Flügelkämpfe, der
vom ausländischen Feind ausgehenden Versuchung durch Geld und
Betrug und der Unwissenheit einiger noch ungebildeter,
nachahmender, dekadenter und sklavenhafter Teile der Masse,
die ihre Stimme für eine kärgliche Mahlzeit verkauft,
aussetzen. Das sind noch die freien Stimmen. Es gibt auch die
Stimmen der geknechteten Schafsköpfe, über die ihre Herren
entscheiden. Was sie im Kopf haben, ist nicht gut genug, um
ihre Bäuche zu füllen. Darüber hinaus gibt es noch die Stimmen
einer dritten Gruppe: die Stimmen der Verzauberten und
Kolonialisierten. Das sind nach einer koranischen Feststellung
diejenigen, die sich ihre Gelehrten und Mönche sowie
Christus, den Sohn der Maria, an Gottes Statt zu Herren
genommen haben (9,31).
In den zivilisierten Gesellschaften, in denen
Publikationen, Radiosendungen, Filme und andere
fortschrittliche kulturelle, ideologische und
wissenschaftliche Kommunikationsmittel große Verbreitung
gefunden haben, beobachten wir, dass nicht nur in subjektiven,
sondern auch in objektiven Fragen gefälscht, gelogen und
verleumdet wird.
Aus den genannten Gründen fand als Alternative zu
Liberalismus und westlicher Demokratie, die früher ideale
Vorbilder für die Intellektuellen waren, und zu der These der
Diktatur des Proletariats in einer relativ längeren Zeit zum
Aufbau einer neuen revolutionären Gesellschaft die These der
dirigierten bzw. der engagierten Demokratie mit einer
Einheitspartei unter der Führung des Revolutionsstifters —
sogar mit seiner Wahl auf Lebenszeit (der Vorschlag von
Bandung, der im Falle Sukarno und Tito praktiziert wurde) — im
letzten Vierteljahrhundert, besonders nach den
anti-kolonialistischen und fortschrittlichen Revolutionen der
Dritten Welt mit der Begründung Verbreitung, dass die
Einführung der Demokratie während der revolutionären Phase zu
ihrem Sturz bzw. zu ihrer inneren Abweichung und zur
Wiedereinführung der vorrevolutionären Verhältnisse führen
werde. Denn die politische Führung muss während der
Aufbauphase der Revolution, der endgültigen Unabhängigkeit der
Nation und der Erlangung des Selbstbewusstseins und der
politischen Reife der Gesellschaft in der Hand der
Revolutionsführung bleiben. Diese muss die Richtlinien
festlegen, für Berufspolitiker muss der Weg gesperrt bleiben.
Die engagierte geistige Führung, die die Bewegung
hervorgerufen hat, bestimmt solange die Staatsgewalt, bis die
zerstörerischen und korrupten Kräfte beseitigt, die inneren
gesellschaftlichen Gefahren überwunden und die sozialen
Verhältnisse geordnet sind. Die Gesundung und Stärkung der
Gesellschaft muss so weit gediehen sein, dass sie den
repressiven inneren Kräften und äußeren Gefahren geistig und
materiell Widerstand leisten kann. Die Zahl der eigenen
Meinungen soll mit der Zahl der Köpfe übereinstimmen. Die
Bürger sollen das Recht auf eigene Meinung und
Selbstbestimmung bei der Wahl der politischen und
gesellschaftlichen Führung erhalten. Bis zu diesem Zeitpunkt
muss eine bestimmte Führung kontinuierlich ihre Aufgabe mit
Verantwortung wahrnehmen und darf die Geschicke der
Gesellschaft nicht der Demokratie der Zahlen
anvertrauen, bis die Gesellschaft eine Entwicklungsphase
erreicht hat, in der sie sich der Demokratie der eigenen
Stimmen würdig erweist; denn wir gehen davon aus, dass in den
unterentwickelten Gesellschaften, sogar in den heutigen
modernen Gesellschaften, die Zahl der eigenen Stimmen viel
geringer ist als die Zahl der Bürger. Manchmal folgen Tausende
von Bürgern einer einzigen Stimme. So werden die Stimmen
manipuliert. Die Bevölkerung bestimmt ihr Schicksal nach den
alten lokalen, stammesüblichen Traditionen. Wenn wir annehmen,
dass auf dieser besonderen Stufe der gesellschaftlichen
Entwicklung und in dieser Revolutionsphase die Demokratie
und die uneingeschränkten individuellen Freiheiten gegen
die wahre Demokratie und Freiheit des Menschen sind, müssen
wir dagegen annehmen, dass die Gruppe, die die neue
Gesellschaftsordnung eingeführt, die ideologisch revolutionäre
Bewegung angeführt und eine neue Gesellschaft aufgrund dieser
Ideologie aufgebaut hat, die materielle, geistige, politische
und ideologische Führung der Gesellschaft solange behalten
muss, bis die Gesellschaft eine Entwicklungsphase erreicht
hat, in der die Verwirklichung der wahren Demokratie, d.h. der
Demokratie der eigenen Meinungen, möglich ist. Bis zu diesem
Zeitpunkt müssen die ideologische Kultur und die revolutionäre
Gesellschaft aufgebaut sein und die Masse politische Reife und
geistige Unabhängigkeit erreicht haben. Solange darf die
Führung nichts dem Zufall überlassen. Während die kommenden
Generationen die notwendige ideologische Bildung und Erfahrung
im Laufe der revolutionären Aufbauzeit sammeln, muss sie die
Führung der Gesellschaft nach den Prinzipien der
revolutionären Führung, nicht jedoch der demokratischen
Regierungsform fortsetzen, so dass sie die Verantwortung des
Revolutionsführers in kommenden Generationen fortführen
können.