Eigentlich
sind wir ganz “normal“, fast wie echte Deutsche groß geworden,
sehr modern. Unsere inzwischen verstorbene Mutter – Gott habe
sie selig – hatte das amerikanische College in Istanbul und
unser Vater das französische St. Josef College besucht. Als
Kaufmann kam er noch vor der ersten Gastarbeiterwelle 1959
nach Hamburg. Entsprechend waren unsere ersten Jahre
vorgezeichnet: Grundschule in Hamburg, dann Gymnasium
Corveystraße im Stadtteil Lokstedt; beide hatten wir die
Leistungsfächer Mathe und Physik. Das Studium an der TU
Clausthal im Herzen des Harzes
gehörte sicherlich zu den Höhepunkten unseres Lebens.
Währenddessen Tanzschule, Gitarre und Klavier, Windsurfen,
Schallplattensammlung (inklusive eines extrem wertvollen
Schwarzdrucks eines Konzertmitschnitts von Pink Floyd),
Ausbildung zum Forschungstaucher auf Helgoland usw. usf. ...
eigentlich alles ganz “normal“.
Selbst eigene Songs haben wir
geschrieben und mit Freunden gespielt. Unsere nachgespielten
Lieblingslieder waren “Von guten Mächten wunderbar geborgen“
von Dietrich Bonhoeffer,
“Kinder“ von Bettina Wegner und „Hymn“ von
Barcley James Harvest jeweils untermalt mit zwei Gitarren. Der
Gedanke an das Leben des christlichen Märtyrers Bonhoefer war
dabei immer herzergreifend für uns, da er das Gedicht aus dem
Gefängnis an Seine Familie schrieb und diese damit zu trösten
suchte:
Von
guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.
Noch will das Alte unsre
Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last,
ach, Herr, gib unsern aufgescheuchten Seele
das Heil, für das Du uns bereitet hast.....
Auch
Cat Stevens’ Lieder waren bei uns sehr beliebt, und “Father
and Son“ entsprach unserer Lebenseinstellung.
Aber auch
sonst waren wir “ganz normal“. Wir spielten leidenschaftlich
Fußball bei FC Eintracht Lokstedt in den jeweiligen
Jugendklassen (die dürften noch heute unsere Spielerpässe von
damals haben), Gürhan immer in Sturm, ich entweder im
Mittelfeld oder als Libero. Und in Skiurlaub bin ich mit den
Klassenkameraden in die italienischen Dolomiten gefahren, um
Nachttouren nach Venedig zu machen. Viele alte Freunde von
damals dürften noch zahlreiche Fotos von mir haben, auf denen
man mich heute nicht wieder erkennen würde!
Den Schulabschluss
feierte ich mit einer monatelangen Autotour gemeinsam mit
einem guten Schulkameraden durch fast alle Länder des
damaligen Ostblocks und quer durch die Sowjetunion, um uns
selbst ein Bild vom “bösen“ Ostblock zu machen (der damalige
Schulkamerad ist inzwischen anerkannter Urologe in Hamburg).
Danach verließ ich erstmals mein Elternhaus und zog nach
Clausthal-Zellerfeld, um an der dortigen Technischen
Universität zu studieren.
Meine
Entwicklung war ähnlich. Ich hatte schon als Kleinkind immer
wieder darüber nachgedacht, warum es mich gab. Allerdings
hatte ich nie lange Zeit für diese Gedanken, denn ich war sehr
mit meinen sportlichen Aktivitäten beschäftigt. Zwar hatte ich
immer zum Fastenmonat gefastet, aber das war ja auch eine
wirklich schöne Zeit. Ich empfand es als besonders
faszinierend, einmal dieses Hunger- und Durstgefühl
mitzumachen. So hoffte ich, dass ich die Armen dadurch niemals
vergessen würde. Aber zu mehr war keine Zeit, so dass die
Frage nach meiner Herkunft immer in den Hintergrund gedrängt
wurde.
Erst
zum Abitur hin wuchs in mir die Neugier, auch einmal die
Hintergründe der Religionen zu erfahren. Allerdings hatte ich
eher das Bedürfnis, etwas über die Kirche zu erfahren als über
den Islam, da ich ja meinte, den Islam von der Abstammung her
ohnehin zu kennen. Und dies, obwohl ich noch nicht einmal den
Qur´an in Deutsch gelesen und mich auch sonst kaum mit einem
Thema im Islam auseinandergesetzt hatte.
Ich
erkundigte mich also, ob es irgendwelche Bibelkreise oder
Ähnliches in unserem Stadtteil gab, an denen ich teilnehmen
konnte. Als ich einen fand, der wöchentlich stattfand, fragte
ich den Pastor unserer Gemeinde, ob es möglich sei, als Muslim
daran teilzunehmen. Der sehr freundliche Pastor erlaubte dies,
und so freute ich mich auf die erste Bibelstunde.
Diese
fing allerdings mit einer riesigen Überraschung für mich an:
Der Nächstjüngere nach mir war schätzungsweise 55 Jahre alt!
Es soll meinerseits keine Unhöflichkeit gegenüber dem Alter
sein. Allerdings dachte ich schon, dass die Gruppe ein wenig
gemischter wäre. Leider interessierten sich Jugendliche in
meinem Alter kaum noch für die Kirche.
Dies
hatte allerdings auch einen großen Vorteil. Die Teilnehmer
waren relativ Bibel- und Geschichtsfest, und so konnte ich
mich praktisch kompetent informieren. Jede Woche wurde ein
Thema festgelegt und versucht, aus der Bibelsicht zu
behandeln. Immer mehr lernte ich über das Christentum, und es
gab wirklich vieles, was mich begeisterte. Je mehr ich über
das Christentum und dessen Gedanken erfuhr, umso mehr Fragen
hatte ich.
Nach
ca. einem Jahr kam ich allerdings an den Punkt, an dem es aus
meiner Sicht keine logische Antwort mehr gab. Jeder wusste,
dass in der Bibel vieles später verfälscht wurde. Die Frage
für mich war: Wenn es einen Gott gibt, der in der Lage ist,
das zu erschaffen, was wir heute erkennen können und vieles,
was wir nicht erkennen, warum hat uns der Schöpfer nicht eine
unverfälschbare Botschaft hinterlassen? Wie konnte ein Buch
meine Richtschnur werden, bei dem niemand weiß, welche Stellen
unverfälscht sind, aber jeder weiß, das viele Stellen
verfälscht worden sind? War dieser Gott, an den ich fest
glaubte, nicht in der Lage, seine Botschaft unveränderlich zu
formulieren und zu bewahren?
Meine
persönliche Vorstellung von meinem Schöpfer war, dass die
Existenz der Menschheit eine ganzheitliche (monotheistische)
Erklärung haben musste. Diese ganzheitliche Erklärung musste
in der Sprache sowohl des menschlichen Verstandes als auch des
Herzens vom Schöpfer unmissverständlich vermittelt worden
sein, bzw. vermittelt werden.
So
hatte ich in diesem Jahr unglaublich viel gelernt, weswegen
ich heute noch dem Pastor und den Teilnehmern dankbar bin. Ich
hatte auch gelernt, dass die meisten Christen gar nicht
wissen, was das Christentum eigentlich ist.
Gerade
dieser Aspekt brachte mich dazu, mir die Frage zu stellen, ob
dies im Islam nicht genauso war, dass viele Muslime gar nicht
wissen, was der Islam ist und so auch ich!? Also dachte ich,
dass ich mich bevor ich mir eine endgültige Meinung darüber
bilde, doch zumindest auch mit dem Islam auseinandersetzen
müsste.