Religionspraxis im materialistischen Europa
So weit hat der
materialistische Geist die zivilisierten Völker infiziert,
dass man heute kaum noch einen Europäer findet mit einem
Lebensziel, das größer wäre als seinen Lebensunterhalt
zusammenzukratzen. Trotzdem haben viele noch einen religiösen
Glauben und halten an ihrem überkommenen Christentum fest, so
sehr es auch von Ketzereien verfälscht sein mag und so wenig
es imstande ist, jemandes spirituelle und moralische
Bedürfnisse zu befriedigen. Es mag seltsam erscheinen, dass
eine solche Religion immer noch eine gewisse Autorität in
dieser „fortschrittlichen“ Welt genießt; aber sie hat immerhin
die geistliche und ethische Form westlicher Zivilisation
geschaffen und trägt auch heute noch dazu bei. An den
Sonntagen sind die Geschäfte und weltlichen Institutionen
geschlossen. Kirchenglocken läuten von allen Seiten mit ihren
charakteristischen Klängen. Kongregationen verschiedensten
sozialer Schichten versammeln sich und lauschen aufmerksam den
Predigten. Das Fernsehen veranstaltet besondere religiöse
Sendungen, die von der Kirche beaufsichtigt werden. Die
Christen nehmen ihre Kinder mit in die Kirche, wo sie der
Geistliche tauft, und bekräftigen ihren Glauben von ihm.
Geistliche werden respektiert und „Vater“ genannt.
Während der langen
Jahrhunderte kirchlichen Aufstiegs, wo die gesamte
Volkswirtschaft Europas auf Landbesitz gegründet war, wurde
der Zehnte auf alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse erhoben,
um die großen Ausgaben kirchlicher Institutionen zu
ermöglichen. Etwa während der letzten 200 Jahre, mit der
fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft und der
Verlagerung der wirtschaftlichen Basis auf Handel und
Industrie, hat ein Land nach dem anderen das System des
„Zehnten“ und die besonderen pfarrherrlichen Einkünfte
abgeschafft. Aber gewaltige Stiftungen sind immer noch
vorhanden, und die Gläubigen spenden weiter regelmäßig
freiwillig, wobei sie oft ein Verwaltungssystem anwenden. Auf
diese Weise können die geistlichen Führer der Christenheit
stets über ein auskömmliches Budget für ihre weitgespannten
Untennehmungen verfügen.
Eine Druckkommission
kontrolliert Veröffentlichungen und darin spielt die Kirche
eine führende Rolle. Sie beaufsichtigt die erzieherische
Planung für Kindergärten und Grundschulen. Sämtliche neun
Jahre ihrer Schulzeit hindurch werden die Schüler angehalten,
die Kirche an Sonntagen zu besuchen, wo es dann besondere
Gottesdienste mit religiösen Unterweisung gibt, die ihren
Altersgruppen gemäß sind. Und das Allerseltsamste: unschuldige
Kleinkinder müssen zur Beichte und vor dem Priester ihre
Sünden ablegen.
Es gibt keine
Filmvorführungen ohne die Erlaubnis eines Gremiums, das aus
Kirchenführern, Ärzten, Soziologen, Volkswirtschaftlern und
Psychologen zusammengesetzt ist; und die Gesichtspunkte der
Religion, Psychologie, Soziologie und Volkswirtschaft werden
sämtlich in Betracht gezogen.