Musawi Lari

Westliche Zivilisation und Islam

Sayyid Mudschtaba Musawi Lari

Ins Englische übersetzt von J.F. Goulding, hiernach ins Deutsche übertragen durch R.H. Sengler

Das folgende Manuskript ist eine geringfügig überarbeitete und sprachlich verfeinerte Version der 1995 in Qum erschienenen deutschen Übersetzung.

Delmenhorst 2004

Ost-westliche Wechselwirkungen

Die Europäer sind bei ihren modernen Wohlfahrtsstaaten angelangt, ohne ihre Religion und ihre Gepflogenheiten auszurangieren.

Auch Japan hat ungewöhnliche Fortschritte gemacht und dabei seine Religionen, seine Sitten und seine Charakteristika bewahrt, und es ist mit rasanter Geschwindigkeit zu einem hohen Zivilisationsstand aufgestiegen. Nachdem es jahrhundertlang eine der rückständigsten Nationen geblieben war, ist es in bloß 60 Jahren in die Reihen fortschrittlicher Nationen einge­treten. Dabei hat es sich nie an den Westen angelehnt oder Augen und Ohren auf Europa gerichtet, um das dortige Modell einfach zu kopieren. Es hat fanatisch an seinem Erbe und seinem Brauchtum festgehalten. Es hat die Traditionen der großen Männer seiner Geschichte gepflegt, es hat den ehrwürdigen Schintoismus und Buddhismus bewahrt, seine eigenen Gottesdienst­formen leidenschaftlich beibehalten, so frivol ein außenstehender Betrachter sie auch bewerten mag.

Aber revolutionäres Freidenkertum kann nicht diagnostizieren. Es kann nicht einmal die augenfälligsten sozialen Probleme analysieren oder ent­wirren. Dagegen heißt es jede Form des Protestes oder Kritik gegenüber der Religion mit Achtung, ja freudig willkommen; sie sind ihm Wahrzeichen der „Erleuchtung“. Aber solche Oberflächlichkeit kann niemals den Wirklichkeiten des Lebens unvoreingenommen ins Auge sehen.

Die weite Ausdehnung wissenschaftlicher allseitiger Erforschung des materiellen Lebens hat uns in die Lage versetzt, einen erstaunlichen Sprung nach vorn zu tun. So eifrig die Wissenschaftler die Naturkräfte bloßlegen und sie gezielt technologischer Verarbeitung zuführen - sie bemerken gar nicht, dass sie sich nun mit einer Ecke eines immensen Laboratoriums ab­geben und außer der physischen Seite der menschlichen Natur alles andere vernachlässigen. Könnte dies der eigentliche Grund für die steigende Flut des Sich-Gehen-Lassens und des Über-die-Stränge-Schlagens sein?

Die Verfeinerung der materiellen Wissenschaften ist nicht mit einer Ver­tiefung ethischer Einsichten einhergegangen. Die zwei Disziplinen gehen also verschiedene Wege, und zwar so verschieden, dass Fortschnitt auf der einen sogar der Rückschritt auf der anderen beschleunigen kann - aus reiner Übersättigung.

Kürzlich sprach ein europäischer Professor vor einer naturwissenschaftli­chen Konferenz in Teheran: „Auf dem Felde der Moral beneidet der Westen den Osten. Denn die moralischen Leistungen des Ostens sind reicher und feiner als die des Westens. Während der Osten aus westlicher Wissenschaft mit Industrie Gewinn zieht, hat der Westen es nötig, von der ethischen Errungenschaften des Ostens zu profitieren.“

Um am Leben zu bleiben, benötigt die menschliche Gesellschaft noch andere Leitsätze neben industrieller und technischer Verfeinerung. Wenn die politische und soziale Struktur die menschliche Gemeinschaft von den Grundlagen ihrer Lebensphilosophie trennt, so das das Leben seinen altruistischen Ideen gegenseitiger Hilfe verlustig geht und sich in eine mono­tone, erbarmungslose Jagd nach Essen verwandelt, dann fallen die Massen jenen Gewalt anheim, welche der Dichter die „Unmenschlichkeit des Men­schen am Menschen“ nennt.

Unglücklicherweise befindet sich die Welt immer noch im Kindergarten­stadium, müssen wir immer noch Erwachsene werden, um von den unschätzbaren Reserven im Schoße der Erde vollen Gebrauch zu machen und zugleich unser geistiges Kapital in einer Weise zu investieren, welche Divi­denden an innerem Glück und geistiger Bereicherung erbringt. Unsere unerwachsene Menschheit ist kindisch wechselnden Launen und Begierden ausgesetzt, statt die Gebote eines reif gewordenen gesunden Menschenverstandes zu befolgen. Die Masse der Menschheit vermag nicht Vorurteile und Aberglauben als Trugbilder zu erkennen, sondern vergöttert sie, genau wie die sogenannten „Progressiven“ die „Wissenschaft“ vergöttern.

Tausende von unangenehmen Erfahrungen und ständig neue Missgeschicke müssen den Menschen dahin bringen, dass er erkennt: Die einzige Alternative zur unvermeidlichen Vernichtung ist die Bindung an das, was recht ist, und an göttliche Führung.

Der Soziologe Stahwood Cobb schreibt in seinem „Herr der “Kaabas“ (S. 1): „Jeder entscheidende Aspekt im Leben der Organisation und Kultur des Westens ist von einer ungewöhnlichen Krise gezeichnet. Das ganze Gemeinwesen, Körper und Seele sind krank, seine Nerven überreizt; gleich schwankenden Wanderern auf einem Grat, der das dahinsiechende Zeitalter wissenschaftlich-materialistischen Herrlichkeit trennt von der heraufdäm­mernden Zeit moralischer Kultur von morgen. Denken und Handeln einer materialistischen Zivilisation in den letzten Minuten von sechs Jahnhunderten spielen sich vor uns ab, und wir sehen bereits das Schimmern der ersten Strahlen des Neuen. Noch sind sie zu schwach, eine sichere Zukunft zu tragen. Die langen Schatten, die das Vergehende wirft, während es unter den Horizont sinkt, trüben die heraufkommende Helligkeit und machen es noch schwieriger, den Weg zum Neuen zu unterscheiden. Die menschliche Natur erlebt die längste Nacht des Wintersolstitiums, die noch über der vergangenen Kultur lastet und uns mit Angstvorstellungen, Schreckgespen­stern und Phantomen, mit Geistern und Ghoulies (leichenfleddernde Unwe­sen, Anm. d. dt. Übersetzers), mit Gänsehaut und Grauen peinigt. Aber Jenseits der Nacht breitet sich der Morgen den neuen Kultur wahrhaft, universal und sittlich, und wartet auf seine Chance, die Menschheit zu beglücken.“

Wir im Osten sind stolz auf unseren „Realismus“. Aber es ist höchst unrealistisch, fremde Sitten und Gebräuche, Institutionen und Rezepte ein­fach zu akzeptieren, nachzumachen und zu kopieren. Mit solcher Imita­tionssucht lädt man sich nun ein neues Joch des Gehorchenmüssens auf. Eigeninitiative ist der Quell der Unabhängigkeit. Nachahmung ist der Parasit, der die Unabhängigkeit vertilgt.

Die Konfusion in unseren Gedankenwelt und unserer Ethik rührt von unserer Benommenheit her, die von ständigen Nachahmung kommt. Auch wenn wir unserer eigenen geschichtlichen und geistigen Überlieferung westlichen Gewohnheiten zuliebe den Rücken kehren, verhilft uns das nicht zur Klarheit.

In seinem Buch „Der Islam und Andere“ schrieb ein großer islamischer Denker: „Wir denken gar nicht daran, uns intellektuell oder gesellschaftlich abzusondern. Den Kurs, den die Geschichte den Zivilisation auferlegt, sagen wir nicht ab, denn wir sind Mitreisende und Teilnehmer im großen Zug der Menschheit. Aber wir waren und sind Muslime, und als solche haben wir der menschlichen Kultur große Schätze vermacht. Die positiven Errungenschaften unserer großen Vergangenheit haben die Fundamente des modernen Weltgebäudes gelegt. Aber leider schätzen wir unsere Pionierarbeit nicht gebührend ein und erhalten daher nicht die ihn zustehende Wertschätzung und Würde. Erst wenn wir lernen, unsere vergangenen Erfolge richtig zu bewerten, werden wir uns von dem Mindenwertigkeits­komplex befreien, der den Nacken von der Tyrannei beugt, und wie freie Männer argumentieren. So aber stehen wir wie Bettler mit der Mütze in der Hand an der Schwelle des reichen Mannes und empfangen Gaben, die wir ihm ins Gesicht schleudern sollten - oder aber wir handeln so edel, dass wir ihn dahin bringen, uns nachzueifern. Für uns hat ja Kultur eine zweifache Bedeutung. Sie umfasst zunächst einmal unseren eigenen, wahrlich nicht unbedeutenden Anteil an ihrer Begründung, der wir nicht der Vergessen­heit überlassen dürfen, sondern erhalten müssen in der stetigen Praxis, in der Persönlichkeit, in der hellleuchtenden Verbreitung menschlichen Erfahrungen, die von der Lebensart unseres Volkes geschaffen worden sind; danach erst die staunenserregenden Offenbarungen fremder Kulturen, die bei jenen reiften und aus denen wir diejenige Auswahl treffen müssen, die wir benötigen, ohne unser Erbe zu schädigen. „Zivilisation“ kommt von der gleichen Wurzel wie City (Stadt) and gehört zum Erhabenen im mensch­lichen Denken. Ihren Schöpferreichtum herabzuwürdigen, bloß um sie epigonisch nachzuahmen, hieße gewachsene Lebensgemeinschaften auf einen Affenstatus reduzieren.“

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