Ost-westliche Wechselwirkungen
Die Europäer sind bei ihren
modernen Wohlfahrtsstaaten angelangt, ohne ihre Religion und
ihre Gepflogenheiten auszurangieren.
Auch Japan hat ungewöhnliche
Fortschritte gemacht und dabei seine Religionen, seine Sitten
und seine Charakteristika bewahrt, und es ist mit rasanter
Geschwindigkeit zu einem hohen Zivilisationsstand
aufgestiegen. Nachdem es jahrhundertlang eine der
rückständigsten Nationen geblieben war, ist es in bloß 60
Jahren in die Reihen fortschrittlicher Nationen eingetreten.
Dabei hat es sich nie an den Westen angelehnt oder Augen und
Ohren auf Europa gerichtet, um das dortige Modell einfach zu
kopieren. Es hat fanatisch an seinem Erbe und seinem Brauchtum
festgehalten. Es hat die Traditionen der großen Männer seiner
Geschichte gepflegt, es hat den ehrwürdigen Schintoismus und
Buddhismus bewahrt, seine eigenen Gottesdienstformen
leidenschaftlich beibehalten, so frivol ein außenstehender
Betrachter sie auch bewerten mag.
Aber revolutionäres
Freidenkertum kann nicht diagnostizieren. Es kann nicht einmal
die augenfälligsten sozialen Probleme analysieren oder
entwirren. Dagegen heißt es jede Form des Protestes oder
Kritik gegenüber der Religion mit Achtung, ja freudig
willkommen; sie sind ihm Wahrzeichen der „Erleuchtung“. Aber
solche Oberflächlichkeit kann niemals den Wirklichkeiten des
Lebens unvoreingenommen ins Auge sehen.
Die weite Ausdehnung
wissenschaftlicher allseitiger Erforschung des materiellen
Lebens hat uns in die Lage versetzt, einen erstaunlichen
Sprung nach vorn zu tun. So eifrig die Wissenschaftler die
Naturkräfte bloßlegen und sie gezielt technologischer
Verarbeitung zuführen - sie bemerken gar nicht, dass sie sich
nun mit einer Ecke eines immensen Laboratoriums abgeben und
außer der physischen Seite der menschlichen Natur alles andere
vernachlässigen. Könnte dies der eigentliche Grund für die
steigende Flut des Sich-Gehen-Lassens und des
Über-die-Stränge-Schlagens sein?
Die Verfeinerung der
materiellen Wissenschaften ist nicht mit einer Vertiefung
ethischer Einsichten einhergegangen. Die zwei Disziplinen
gehen also verschiedene Wege, und zwar so verschieden, dass
Fortschnitt auf der einen sogar der Rückschritt auf der
anderen beschleunigen kann - aus reiner Übersättigung.
Kürzlich sprach ein
europäischer Professor vor einer naturwissenschaftlichen
Konferenz in Teheran: „Auf dem Felde der Moral beneidet der
Westen den Osten. Denn die moralischen Leistungen des Ostens
sind reicher und feiner als die des Westens. Während der Osten
aus westlicher Wissenschaft mit Industrie Gewinn zieht, hat
der Westen es nötig, von der ethischen Errungenschaften des
Ostens zu profitieren.“
Um am Leben zu bleiben,
benötigt die menschliche Gesellschaft noch andere Leitsätze
neben industrieller und technischer Verfeinerung. Wenn die
politische und soziale Struktur die menschliche Gemeinschaft
von den Grundlagen ihrer Lebensphilosophie trennt, so das das
Leben seinen altruistischen Ideen gegenseitiger Hilfe
verlustig geht und sich in eine monotone, erbarmungslose Jagd
nach Essen verwandelt, dann fallen die Massen jenen Gewalt
anheim, welche der Dichter die „Unmenschlichkeit des Menschen
am Menschen“ nennt.
Unglücklicherweise befindet
sich die Welt immer noch im Kindergartenstadium, müssen wir
immer noch Erwachsene werden, um von den unschätzbaren
Reserven im Schoße der Erde vollen Gebrauch zu machen und
zugleich unser geistiges Kapital in einer Weise zu
investieren, welche Dividenden an innerem Glück und geistiger
Bereicherung erbringt. Unsere unerwachsene Menschheit ist
kindisch wechselnden Launen und Begierden ausgesetzt, statt
die Gebote eines reif gewordenen gesunden Menschenverstandes
zu befolgen. Die Masse der Menschheit vermag nicht Vorurteile
und Aberglauben als Trugbilder zu erkennen, sondern vergöttert
sie, genau wie die sogenannten „Progressiven“ die
„Wissenschaft“ vergöttern.
Tausende von unangenehmen
Erfahrungen und ständig neue Missgeschicke müssen den Menschen
dahin bringen, dass er erkennt: Die einzige Alternative zur
unvermeidlichen Vernichtung ist die Bindung an das, was recht
ist, und an göttliche Führung.
Der Soziologe Stahwood Cobb
schreibt in seinem „Herr der “Kaabas“ (S. 1): „Jeder
entscheidende Aspekt im Leben der Organisation und Kultur des
Westens ist von einer ungewöhnlichen Krise gezeichnet. Das
ganze Gemeinwesen, Körper und Seele sind krank, seine Nerven
überreizt; gleich schwankenden Wanderern auf einem Grat, der
das dahinsiechende Zeitalter
wissenschaftlich-materialistischen Herrlichkeit trennt von der
heraufdämmernden Zeit moralischer Kultur von morgen. Denken
und Handeln einer materialistischen Zivilisation in den
letzten Minuten von sechs Jahnhunderten spielen sich vor uns
ab, und wir sehen bereits das Schimmern der ersten Strahlen
des Neuen. Noch sind sie zu schwach, eine sichere Zukunft zu
tragen. Die langen Schatten, die das Vergehende wirft, während
es unter den Horizont sinkt, trüben die heraufkommende
Helligkeit und machen es noch schwieriger, den Weg zum Neuen
zu unterscheiden. Die menschliche Natur erlebt die längste
Nacht des Wintersolstitiums, die noch über der vergangenen
Kultur lastet und uns mit Angstvorstellungen,
Schreckgespenstern und Phantomen, mit Geistern und Ghoulies (leichenfleddernde
Unwesen, Anm. d. dt. Übersetzers), mit Gänsehaut und Grauen
peinigt. Aber Jenseits der Nacht breitet sich der Morgen den
neuen Kultur wahrhaft, universal und sittlich, und wartet auf
seine Chance, die Menschheit zu beglücken.“
Wir im Osten sind stolz auf
unseren „Realismus“. Aber es ist höchst unrealistisch, fremde
Sitten und Gebräuche, Institutionen und Rezepte einfach zu
akzeptieren, nachzumachen und zu kopieren. Mit solcher
Imitationssucht lädt man sich nun ein neues Joch des
Gehorchenmüssens auf. Eigeninitiative ist der Quell der
Unabhängigkeit. Nachahmung ist der Parasit, der die
Unabhängigkeit vertilgt.
Die Konfusion in unseren
Gedankenwelt und unserer Ethik rührt von unserer Benommenheit
her, die von ständigen Nachahmung kommt. Auch wenn wir unserer
eigenen geschichtlichen und geistigen Überlieferung westlichen
Gewohnheiten zuliebe den Rücken kehren, verhilft uns das nicht
zur Klarheit.
In seinem Buch „Der Islam und
Andere“ schrieb ein großer islamischer Denker: „Wir denken
gar nicht daran, uns intellektuell oder gesellschaftlich
abzusondern. Den Kurs, den die Geschichte den Zivilisation
auferlegt, sagen wir nicht ab, denn wir sind Mitreisende und
Teilnehmer im großen Zug der Menschheit. Aber wir waren und
sind Muslime, und als solche haben wir der menschlichen Kultur
große Schätze vermacht. Die positiven Errungenschaften unserer
großen Vergangenheit haben die Fundamente des modernen
Weltgebäudes gelegt. Aber leider schätzen wir unsere
Pionierarbeit nicht gebührend ein und erhalten daher nicht die
ihn zustehende Wertschätzung und Würde. Erst wenn wir lernen,
unsere vergangenen Erfolge richtig zu bewerten, werden wir uns
von dem Mindenwertigkeitskomplex befreien, der den Nacken von
der Tyrannei beugt, und wie freie Männer argumentieren. So
aber stehen wir wie Bettler mit der Mütze in der Hand an der
Schwelle des reichen Mannes und empfangen Gaben, die wir ihm
ins Gesicht schleudern sollten - oder aber wir handeln so
edel, dass wir ihn dahin bringen, uns nachzueifern. Für uns
hat ja Kultur eine zweifache Bedeutung. Sie umfasst zunächst
einmal unseren eigenen, wahrlich nicht unbedeutenden Anteil an
ihrer Begründung, der wir nicht der Vergessenheit überlassen
dürfen, sondern erhalten müssen in der stetigen Praxis, in der
Persönlichkeit, in der hellleuchtenden Verbreitung
menschlichen Erfahrungen, die von der Lebensart unseres Volkes
geschaffen worden sind; danach erst die staunenserregenden
Offenbarungen fremder Kulturen, die bei jenen reiften und aus
denen wir diejenige Auswahl treffen müssen, die wir benötigen,
ohne unser Erbe zu schädigen. „Zivilisation“ kommt von der
gleichen Wurzel wie City (Stadt) and gehört zum Erhabenen im
menschlichen Denken. Ihren Schöpferreichtum herabzuwürdigen,
bloß um sie epigonisch nachzuahmen, hieße gewachsene
Lebensgemeinschaften auf einen Affenstatus reduzieren.“