Musawi Lari

Westliche Zivilisation und Islam

Sayyid Mudschtaba Musawi Lari

Ins Englische übersetzt von J.F. Goulding, hiernach ins Deutsche übertragen durch R.H. Sengler

Das folgende Manuskript ist eine geringfügig überarbeitete und sprachlich verfeinerte Version der 1995 in Qum erschienenen deutschen Übersetzung.

Delmenhorst 2004

Bewertung der modernen westlichen Zivilisation

Die Welt, in der wir leben, hat riesenhafte Schritte gemacht, die eine gedankliche Revolution zur Folge hatten, da die Wissenschaft geradezu täglich vorankommt beim Studium und der Erfüllung menschlicher Bedürf­nisse. Wissenschaft und Industrie haben die Arbeit, die noch gestern der Menschen zu hartem Fron zwang, maschinellen Werkzeugen überantwortet. Der Mensch wäre nun frei, die Bequemlichkeit des Lebens nach Lust und Laune zu genießen. Dies könnte Sinn und Geist von den Schranken des Geschäfts­denkens befreien, und sie könnten nun in unbegrenzter Erforschung der Geheimnisse der Schöpfung expandieren.

So rasch hat sich dieser Fortschnitt vollzogen, dass Entwicklungen, bei denen es um Jahrhunderte ging (die alte Zeit drückte es in „Tagen und Nächten“ aus), jetzt in Minuten oder bloß noch Sekunden moderner „Zeit“ ablaufen. Schiffe, die Monate und Jahre benötigten, um mit der Kraft des Windes Ozeane zu überqueren, brauchen jetzt, dampf- oder elektrisch getrieben, nur noch Tage. Der Güterverkehr zu Land, einst von Lasttieren abhängig, bewegt sich auf Lkws, Zügen und Flugzeugen mit geisterhaften (arab. Djinn Geisteswesen) Geschwindigkeit fort. Der schauende Blick des Menschen, nicht mehr erdgebunden, erkundet unsere Milchstraße und den Weltraum dahinter, lotet die Weltmeere aus und dringt bis zum Kern der Erde vor. Früheres Nichtwissen um unseren herrlichen Planeten gibt faszinierenden Er­kenntnissen über die Tatsachen der Natur Raum, vom unendlichen Weltall bis zu den winzigen Bestandteilen der Atome, die man millionenfach vergrößern und unter dem Elektronenmikroskop sichtbar machen kann. Die Vielseitigkeit, der Überfluss, der Komfort und die Bequemlichkeit der modernen Zivilisation können weder geleugnet noch verkleinert werden. Die Fortschritte im Gesundheitswesen, in der Wohlfahrt, Kinderversorgung und Mutterschaft haben die Kindersterblichkeit herabgesenkt, das Leben der Alten verlängert, unheilbare Krankheiten heilbar gemacht, Pest und Seu­chen in Vergessenheit geraten lassen.

Und doch, obwohl Wissenschaft und Technologie die Menschheit im letz­ten Jahrhundert weiter und schneller vorangebracht haben als in zehn voran gegangenen Jahrhunderten, haben wir vom Düsen-, Atom- und Weltraum­zeitalten erst angefangen, das ABC dessen, was in dem mächtigen Buch der Natur niedergelegt ist, gründlich zu studieren.

Es muss bedauerlicherweise zugegeben werden, dass die Unzulänglich­keiten und Schwächen der westlichen Zivilisation nicht geringer sind als ihre Vorzüge. Aller Muße und Bequemlichkeit zum Trotz, welche Wissen und Kultur für die Gesellschaft bereithalten, und obwohl die Geschichte ganz neue Seiten aufgeschlagen hat, hat sich das Glück der Menschen nicht vermehrt und haben sich die sozialen Übel nicht vermindert.

Technologie und Industrialisierung haben einen Zenit erreicht, während Moral und Geist zu ihrem Tiefpunkt abgesunken sind. Die Wissenschaft steigt bergab, aber das Denken verarmt, Spaltungen nehmen überhand, und der Westen, indem er geistige und sittliche Werte von sich weist, hat seinen Nacken unter das Joch der Maschinenergötzung gebeugt. Maschinen­anbeter werden nie auf Freude, Frieden oder Glück aus sein. Die Wissen­schaft legt dem Leben eine Ordnung auf, welche zwar Überfluss, aber kein Glück gewährt. Denn Glück gehört nicht zu ihrem Bereich. Die Wissenschaft unterscheidet nicht zwischen Segen und Unheil, oder Richtiges vom Fal­schen. Eine solche Ordnung, die die Wissenschaft dem Menschen auferlegt, setzt die Hölle in Bewegung; und heute müssen wir ihn, koste es was es wolle, widerstehen. Denn die Zivilisation zieht im Gefolge ihrer unschätzbaren Gaben eine verderbliche, tödliche Unsicherheit nach sich, eine Brutstätte von Verbrechen und Verfall. Sie entfacht die Begier nach Lust, nach Verlangen an, welche die Seele und Geist in Ketten legen und der Freiheit berauben. Weit entfernt davon, ein Licht anzuzünden, um menschliches Verhalten zu erleuchten, stürzt die Wissenschaft es in ein immer nebelhafteres Dunkel.

Die Errungenschaften und Siege der Wissenschaft lassen wie beim Krieg Vergeudung und Verwüstung, unheilbare Trauer und Leid hinter sich. Neben jeder Blüte im Garten der Kultur wächst ein Dorn, der die Seele verwundet. Man wäge die Gaben der Motorisierung, der Flugzeuge, Fabriken, der Operationstechnik, der Wunderdrogen und des Überflusses ab gegen den Fluch von Bomben, Gas, Düsenflugzeugen und Raketen, Todes­strahlen, Verbrechen und Gewalt. Innerhalb seiner eigenen Schranken ist der Verstand ein guter Diener. Aber fürs Nicht-Materielle taugt er nicht. So kommt es, dass mit dem Verfall der Sittlichkeit viele Axiome der Ethik heilloser Vergessenheit anheimgefallen sind.

Die Welt des Islams, obwohl sie nicht im Zentrum der Störungen und den Bestrebungen der Wissenschaft liegt, entrinnt keineswegs ihren Symptomen im persönlichen, gesellschaftlichen, kulturellen Leben und in der Erzie­hung; die Flut der „Zivilisation“ stürmt auf uns ein. Denn Ideen und Moral­vorstellungen kennen keine nationalen Bremsen; sie infizieren ein Land nach dem anderen, ob sie gut oder schlecht sind. So wie die Neigungen der Menschen nun einmal sind, fassen Laster und Verdorbenheit schneller und tiefer Fuß. So manifestiert unsere östliche Gesellschaft, obwohl sie auf naturwissenschaftlichem und technologischem Gebiet den Vergleich nicht aushält, doch schon das komplette Muster westlichen Dekadenz.

Einer Gesellschaft kann kein schlimmeres Unglück widerfahren, als das Abhandenkommen der Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden; keine Gesellschaft, die das durchgemacht hat, kann zu Wohlfahrt und Wohlbefinden gelangen.

Zu viele von uns sehen nun die faszinierende Außenseite der „Zivilisation“, sind aber blind gegen die schmerzlichen Tragödien und die moralische Krise der Moderne. Die „zivilisierte“ Welt lässt ihren oberflächlichen Charme spielen, so dass Personen, die sich dort kurz aufhalten, willig ihr Unterscheidungsvermögen, ihr Unteil dahingeben und die Augen von unan­genehmen Tatsachen und Unrecht verschließen; denn sie fühlen zwar, dass die geringste Abweichung der daheim geltenden Sitten und Gebräuche zu denen im Westen sie beschämen müsste; aber statt sich auf die Ursachen des westlichen Fortschnitts und seiner Wege, solche Ziele zu erreichen, zu konzentrieren, bringen sie dennoch moralischen Niedergang und geistige Erniedrigung als Gaben mit nach Hause. Solcher Selbstbetrug ist der schlimmste Schaden, denn er verursacht den Persönlichkeitsverlust, den Verlust des unabhängigen Denkens und der Hochhaltung der eigenen nationalen Schätze an Kultur, Religion und Brauchtum.

Von religiöser Überzeugung führt solches Denken weg. Es beraubt die Menschen der Fähigkeit, Ereignisse mittels tiefer und universaler Lehren, welche Gut von Böse unterscheiden, zu bewerten und zu analysieren. Gar viele Wahrheiten werden so verdunkelt.

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