Zweite Grundlage der sozialen Sicherung
Aber der Staat leitet die Rechtfertigung
für die soziale Sicherheit, die er gewährleistet, nicht nur
von dem Grundsatz der allgemeinen gegenseitigen
Verantwortlichkeit ab, sondern es lässt sich, wie wir
erfuhren, eine weitere Grundlage der sozialen Garantie
hervorheben, nämlich das Recht der Gemeinschaft auf die
Quellen des natürlichen Reichtums. Aufgrund dieses Anrechts
ist der Staat direkt verantwortlich, den Lebensunterhalt der
Bedürftigen und Erwerbsunfähigen zu garantieren, abgesehen von
der Bürgschaft, zu welcher die einzelnen Muslime selbst
verpflichtet sind. Wir werden zunächst über diese direkte
Verantwortlichkeit für die soziale Sicherung und deren Umfang,
wie sie den dafür maßgeblichen gesetzgeberischen Texten zu
entnehmen ist, sprechen, und dann von der theoretischen
Grundlage, auf welcher das Konzept dieser Sicherung aufbaut,
nämlich dem Anrecht der Gemeinschaft auf die Schätze der
Natur.
Was nun diese direkte Verantwortlichkeit
für die soziale Sicherung betrifft, so unterscheidet sie sich
in ihrem Umfang von der Garantie, welche der Staat aufgrund
des Prinzips der allgemeinen gegenseitigen Verantwortlichkeit
leistet. Denn die erstere Verantwortung des Staates besteht
nicht nur darin, den Einzelnen innerhalb der Grenzen seiner
lebenswichtigen Bedürfnisse abzusichern, sondern sie
verpflichtet den Staat, dem Einzelnen einen angemessenen
Lebensstandard zu garantieren, so wie ihn die übrigen
Mitglieder der islamischen Gesellschaft genießen, da die
Sicherung durch den Staat hier die Garantie der Versorgung
impliziert, und Versorgung einer Person bedeutet, für deren
Lebensunterhalt aufzukommen und sie angemessen auszustatten.
Und “Angemessenheit“ ist ein flexibler Begriff, dessen Inhalt
sich in dem Maße erweitert, wie das Land in der islamischen
Gesellschaft an Prosperität und Wohlstand zunimmt.
Unter dieser Voraussetzung muss der Staat
die Grundbedürfnisse des Einzelnen, wie Nahrung, Wohnung und
Kleidung, befriedigen, und zwar in einer Art und Weise und in
einem Umfang, wie es im Verhältnis zu den Lebensbedingungen
der islamischen Gesellschaft angemessen ist. Ebenso muss der
Staat außer den Grundbedürfnissen noch weitere Bedürfnisse
befriedigen, die entsprechend der Höhe des Lebensstandards in
der islamischen Gesellschaft zu deren Begriff von
“Angemessenheit“ gehören. Die gesetzgeberischen Textquellen,
welche auf die direkte Verantwortlichkeit des Staates für die
soziale Sicherung hinweisen, bestätigen in aller Deutlichkeit
die Tatsache dieser Verantwortung, und dass mit der Sicherung
hier die Garantie der Versorgung, d.h. die Garantie eines
angemessenen Lebensstandards, gemeint ist. So heißt es in
einer Überlieferung von Imam Dschafar al-Sadiq (a.):
„Allahs Gesandter (s.) verkündete
bei seiner Predigt: 'Wer geschäftlichen Verlust hinterlässt,
dessen Verlust trage ich, wer Schulden hinterlässt, dessen
Schulden übernehme ich, und wenn jemand ohne Erben Vermögen
hinterlässt, dann verbrauche ich es.'
In einer anderen Überlieferung heißt es,
Imam Musa ibn Dschafar (a.) habe – zur Definition der Rechte
und Pflichten des Imam – gesagt:
„Er ist der Erbe dessen, der keinen
Erben hat, und er versorgt den, der keinen Erwerb hat.“
In der Überlieferung des Musa ibn Bakr
heißt es, Imam Musa ibn Dschafar (a.) habe ihm gesagt:
„Wer auf legitime Weise seinen
Lebensunterhalt verdient, um damit sich selbst und seine
Angehörigen zu versorgen, ist einem Kämpfer für die Sache
Allahs vergleichbar. Denn wenn er bei seinen Geschäften keinen
Erfolg hat, obliegt es Allah und seinem Gesandten für den
Lebensunterhalt seiner Angehörigen aufzukommen, und wenn er
stirbt, und eine Schuld nicht beglichen hat, dann muss der
Imam sie begleichen, oder die Verantwortung dafür übernehmen.
Allah der Erhabene sprach: 'Wahrlich,
die Almosen sind nur für die Armen und Bedürftigen und für die
mit der Verwaltung Beauftragten ...,'
und der Betreffende ist arm, bedürftig und verschuldet.“
In dem Schreiben
von Imam Ali (a.) an seinen Gouverneur in Ägypten heißt es: „(Fürchte)
Allah hinsichtlich der niedrigsten Schicht, bestehend aus den
Hilflosen, den Armen, den Bedürftigen, den im Elend Lebenden
und den chronisch Gebrechlichen, denn in dieser Schicht gibt
es die Bittenden und Bettelnden. So bewahre um Allahs Willen,
was Er dir zu bewahren aufgetragen hat an Seinen Rechten
bezüglich ihrer. Gib ihnen einen Anteil aus deiner
Gemeinwohlkasse [bait-ul-mal] ..., denn wahrlich, den am
entferntesten Lebenden steht das Gleiche zu wie denen in
nächster Nähe. Es wird von dir verlangt, dass du das Recht
eines Jeden (von ihnen) wahrst, und das Leben im Überschuss
soll dich nicht von ihnen fernhalten. Denn es ist keine
Entschuldigung für dich, dass du viele wichtige Dinge zu
entscheiden hast, Geringfügiges zu vernachlässigen. Daher
wende dein Interesse nicht von ihnen ab und zeige ihnen kein
verächtliches Gesicht. Inspiziere die Lage
derer, die sich nicht mit dir in Verbindung setzen, weil (ihre
armselige Erscheinung) ins Auge springt und die Leute sie
verachten. Entsende für sie deine Vertrauenswürdigen unter den
Gottesehrfürchtigen und Bescheidenen, und die sollen dir deren
Lage übermitteln. Dann handle ihnen gegenüber so, dass du es
Allah gegenüber verantworten kannst, an dem Tag, an dem du Ihm
begegnen wirst. Denn das sind diejenigen unter den Untertanen,
die der Gerechtigkeit mehr bedürfen als andere, und gib Allah
Rechenschaft hinsichtlich der Erfüllung ihrer Rechte und der
Fürsorge für die Mittellosen unter den Waisen und den
Betagten, und die das Bitten nicht für sich für angemessen
erachten.“
Diese Textquellen bestätigen in aller
Deutlichkeit den Grundsatz der sozialen Sicherung, und
erläutern die direkte Verantwortlichkeit des Staates dafür,
jeden Einzelnen zu versorgen, und ihm ein angemessenes
Auskommen zu verschaffen. Dieses ist jener Aspekt des Prinzips
der sozialen Sicherung, für dessen Anwendung und Praktizierung
in der islamischen Gesellschaft der Staat als direkt
verantwortlich gilt. Die theoretische Grundlage, auf der das
Konzept der sozialen Sicherheit bei diesem Aspekt des Prinzips
aufbaut, könnte das Bekenntnis des Islam zum Anrecht der
ganzen menschlichen Gemeinschaft auf die Quellen des
natürlichen Reichtums sein, denn diese natürlichen Ressourcen
wurden für die Gemeinschaft insgesamt, und nicht für eine
bestimmte Gruppe unter Ausschluss anderer Gruppen, geschaffen,
entsprechend dem Qur´an-Vers: „Er
erschuf was in der Erde ist für euch alle gemeinsam.“
Dieses Anrecht bedeutet, dass jeder Einzelne aus der
Gemeinschaft das Recht hat, die Reichtümer der Natur zu nutzen
und dadurch einen ehrenvollen Lebensunterhalt zu beziehen.
Der Staat ist
also verpflichtet, denjenigen Mitgliedern der Gesellschaft,
die zur Arbeit im öffentlichen oder privaten Sektor der
Wirtschaft in der Lage sind, im Rahmen seiner Kompetenzen eine
Gelegenheit zur Arbeit zu verschaffen. Und denjenigen, die
keine Gelegenheit zur Arbeit haben oder dazu nicht in der Lage
sind, muss der Staat ihr Anrecht auf eine Nutzung der
natürlichen Reichtümer garantieren, indem er ihnen zu einem
angemessenen Standard des ehrenvollen Lebensunterhalts
verhilft. Die direkte Verantwortlichkeit des Staates für die
soziale Sicherung begründet sich also durch das allgemeine
Anrecht der Gemeinschaft auf die Nutzung der Schätze der
Natur, und die Gültigkeit dieses Anrechts auch für die
arbeitsunfähigen Mitglieder der Gesellschaft. Die Methode,
welche die Ideologie verfolgt, um es dem Staat zu ermöglichen,
dieses Recht der ganzen Gemeinschaft, einschließlich der
Arbeitsunfähigen, zu garantieren und zu schützen, ist die
Einplanung gewisser öffentlicher Sektoren in das islamische
Wirtschaftssystem, die in den Ressourcen des “Eigentums der
Gemeinschaft“ und des staatlichen Eigentums bestehen, damit
die Existenz dieser Bereiche – zusammen mit der religiösen
Pflicht der
Allmosenabgabe [zakat] – das Recht der schwachen
Mitglieder der Gesellschaft garantiert, die Monopolisierung
des ganzen Reichtums durch die Starken verhindert, und eine
Reserve für den Staat darstellt, die ihn mit den nötigen
Mitteln ausstattet, um die soziale Sicherheit zu gewährleisten
und jedem Einzelnen sein Recht auf einen ehrenvollen
Lebensunterhalt von den Reichtümern der Natur zu verschaffen.
Somit ist die
theoretische Grundlage das Anrecht der ganzen Gemeinschaft auf
die Nutzung der Reichtümer der Natur. Und das Konzept, das auf
dieser Grundlage beruht, ist die direkte Verantwortlichkeit
des Staates dafür, allen erwerbsunfähigen und bedürftigen
Personen einen angemessenen Standard des ehrenvollen
Lebensunterhaltes zu garantieren. Und die ideologische
Methode, die für die Realisierung dieses Konzeptes vorgesehen
ist, ist die Nutzung des öffentlichen Sektors, den die
islamische Wirtschaftsordnung einrichten soll, um – als eines
von mehreren damit zu erreichenden Zielen – die Verwirklichung
dieses Konzeptes zu gewährleisten. Die vielleicht
unmissverständlichste gesetzgeberische Textquelle, aus welcher
der ideologische Gehalt sowohl der besagten Grundlage, als
auch des darauf aufbauenden Konzeptes und der Methode seiner
Realisierung zu entnehmen ist, ist die Qur´an-Passage aus der
59. Sure “Die Versammlung [al-haschr]“,
welche die Zweckbestimmung der Errungenschaft [fay]
und deren Rolle als “öffentlicher Sektor“ beschreibt, und
welche wir hier zitieren:
„Und
was Allah seinem Gesandten als Errungenschaft [fay] von ihnen
gegeben hat – ihr brauchtet weder die Pferde noch Reittier
dazu aufzubieten; aber Allah gibt seinen Gesandten Gewalt über
wen Er will; und Allah hat Macht über alle Dinge. Was Allah
seinem Gesandten von den Angehörigen der Städte als
Errungenschaft [fay] zugeteilt hat, das ist für Allah und für
den Gesandten und für Eigner der Verwandtschaft und die Waisen
und die Armen und Sohn des Weges, damit es nicht bei den
Reichen zwischen euch kursiert.“
In diesem Qur´an-Zitat können wir einen
Hinweis auf die Grundlage finden, auf welcher das Konzept der
sozialen Sicherung beruht, nämlich das Anrecht der ganzen
Gemeinschaft auf den errungenen Reichtum (“...
damit es nicht bei den Reichen
zwischen euch kursiert
...“), und eine Erklärung dafür, dass die
Errungenschaft [fay] gesetzlich dem öffentlichen
Sektor zugeordnet wird, nämlich weil auf diese Weise das
besagte Anrecht garantiert und die Monopolisierung des
Reichtums durch einige Mitglieder der Gemeinschaft verhindert
wird, und eine Bestätigung dafür, dass der öffentliche Sektor
für das Wohl der Waisen, der Armen und des “Reisenden“ in den
Dienst gestellt werden muss, damit alle Mitglieder der
Gemeinschaft zu ihrem Recht an der Nutzung der Natur gelangen,
die Allah geschaffen hat, damit sie dem Menschen dienstbar
sei. ... Im Lichte dieses Qur´an-Verses werden also die
theoretische Grundlage, das darauf beruhende Konzept, und die
Methode seiner Realisierung allesamt deutlich. Und manche
Rechtsgelehrte, wie Scheich al-Hurr al-Amili, haben
Rechtsgutachten abgegeben, wonach die soziale Sicherung durch
den Staat nicht nur speziell für die Muslime gilt, so dass
auch der Schutzbefohlene [dhimmi],
der unter der Obhut des Islamischen Staates lebt, aus der
Staatskasse versorgt werden soll, wenn er alt und
erwerbsunfähig wird. So überliefert Scheich al-Hurr eine
Überlieferung von Imam Ali (a.), welcher, als er an einem
blinden alten Mann vorüberging, der bettelte, gefragt haben
soll: „Was hat das zu bedeuten?“, worauf ihm gesagt
wurde: „Oh Fürst der Gläubigen, dies ist ein Christ!“
Da sagte der Imam (a.): „Ihr habt ihn arbeiten lassen, und
jetzt, wo er alt und hilflos ist, enthaltet ihr ihm die
Unterstützung vor! Bezahlt seinen Lebensunterhalt aus der
Staatskasse!“