Warum wurde ein Freiraum gelassen?
Der Grundgedanke bei dem Freiraum ist
der, dass der Islam seine gesetzgeberischen Prinzipien für das
Wirtschaftsleben nicht als zeitlich befristete Maßnahme oder
als vorläufiges System, welches die Geschichte nach einer
gewissen Zeit durch irgendeine andere Organisationsform
ersetzen soll, formuliert hat, sondern als ein zu allen Zeiten
anwendbares theoretisches Konzept. Und um diesem Konzept zu
einer allgemeinen und umfassenden Anwendbarkeit zu verhelfen,
muss sich darin die Weiterentwicklung der menschlichen
Gesellschaft in historischen Zeiträumen widerspiegeln, und
zwar durch ein veränderliches Element, welches das Konzept in
die Lage versetzt, sich entsprechend den jeweiligen Umständen
zu modifizieren. Um diesen Gedanken in seinen Einzelheiten
verstehen zu können, müssen wir den veränderlichen Aspekt im
wirtschaftlichen Leben des Menschen definieren, und erkennen,
in welchem Umfang er auf das gesetzgeberische Konzept, das
diesen Lebensbereich regelt, Einfluss nimmt. Im
wirtschaftlichen Leben gibt es Beziehungen des Menschen zur
Natur, bzw. zu deren Reichtum, die sich in der Art und Weise,
wie er diesen Reichtum gewinnt, bzw. wie er die Natur
beherrscht, manifestieren, und es gibt Beziehungen des
Menschen zu seinem Mitmenschen, die sich in den Rechten und
Privilegien widerspiegeln, welche diese oder jene Person
erlangt. Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten von
Beziehungen besteht darin, dass der Mensch die erstere Art von
Beziehungen eingeht, unabhängig davon, ob er in einer
Gemeinschaft oder isoliert von ihr lebt. Er hat auf jeden Fall
in Form bestimmter Beziehungen, welche durch seinen
Erfahrungs- und Kenntnisstand geprägt werden, mit der Natur zu
tun, er jagt Vögel, kultiviert Land, fördert Kohle und spinnt
Wolle mit den jeweiligen Methoden, die er beherrscht. Das
Zustandekommen dieser Beziehungen zwischen der Natur und dem
Menschen ist selbstverständlich nicht davon abhängig, dass der
Mensch innerhalb einer Gemeinschaft lebt. Die Gemeinschaft
wirkt sich nur insofern auf diese Beziehungen aus, als sie zu
einer Anhäufung vielfältiger Kenntnisse und Erfahrungen, zu
einer menschlichen Reserve an Wissen über die Natur, und
folglich zur Ausweitung der Bedürfnisse und Wünsche des
Menschen führt. Dagegen sind die Beziehungen des Menschen zu
seinem Mitmenschen, welche durch die Rechte und Privilegien
und die Pflichten bestimmt werden, naturgemäß davon abhängig,
dass der Mensch in einer Gemeinschaft lebt. Solange dies nicht
der Fall ist, verschafft sich der Mensch keine Rechte oder
erlegt sich Pflichten auf. Das Anrecht des Menschen auf das
von ihm selbst urbar gemachte Land, das Verbot für ihn, durch
Zinsgeschäfte Einkünfte ohne Arbeit zu beziehen, seine
Verpflichtung, mit dem Wasser einer von ihm erschlossenen
Quelle den Bedarf der anderen zu befriedigen, falls es seinen
Bedarf übersteigt ... alle diese Regelungen sind nur im Rahmen
einer Gemeinschaft von Bedeutung.
Der Islam – so wie wir ihn uns vorstellen
– unterscheidet zwischen diesen beiden Arten von Beziehungen.
So berücksichtigt er, dass sich die Beziehungen des Menschen
zur Natur, bzw. zu deren Reichtum, im Laufe der Zeit
weiterentwickeln, entsprechend den neu auftauchenden
Problemen, mit denen der Mensch bei seiner Arbeit an der Natur
ständig und immer wieder konfrontiert wird, und den
vielfältigen Lösungen, mit denen er diese Probleme bewältigt.
Und in dem Maße, wie sich seine Beziehungen zur Natur
weiterentwickeln, nimmt seine Macht über die Natur und das
Potenzial seiner Mittel und Methoden zu deren Nutzung zu.
Hingegen sind die Beziehungen der Menschen untereinander nicht
naturgemäß Wandlungen unterworfen, denn diese betreffen
unveränderliche und elementare Probleme, wie sehr sich deren
äußere Rahmen und deren Erscheinungsformen auch unterscheiden
mögen. So erlangt jede Gemeinschaft im Verlaufe ihrer
Beziehungen zur Natur Gewalt über Reichtum und ist mit dem
Problem von dessen Verteilung, d.h. der Festsetzung der Rechte
der einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft daran, konfrontiert,
ob diese Gemeinschaft nun den Produktivitätsstand der
Dampfkraft und Elektrizität oder das Niveau der Handmühle
erreicht hat. Daher hält der Islam das gesetzgeberische
Konzept, welches diese Beziehungen entsprechend seinen
Vorstellungen von Gerechtigkeit regelt, in theoretischer
Hinsicht für geeignet, unverändert bestehen zu bleiben, weil
es sich auf beständige Probleme bezieht. So behandelt z.B. der
gesetzgeberische Grundsatz, wonach persönliches Anrecht auf
Ressourcen der Natur auf Arbeit beruht, ein allgemeines
Problem, welches sowohl im Zeitalter des einfachen Pfluges,
als auch im Zeitalter der komplizierten Maschine besteht, denn
die Art und Weise der Verteilung natürlicher
Produktionsquellen an die einzelnen Menschen ist eine Frage,
die sich in beiden Zeitaltern stellt. Damit widerspricht der
Islam dem Marxismus, welcher glaubt, dass sich die Beziehungen
der Menschen untereinander in Abhängigkeit von deren
Beziehungen zur Natur weiterentwickeln, und dass die Art der
Güterverteilung an die Produktionsweise gebunden sei, weshalb
er eine Untersuchung der Probleme der Gesellschaft nur im
Rahmen der Analyse von deren Beziehungen zur Natur für möglich
hält, was wir im ersten Teil dieses Buches
dargelegt und kritisiert haben.
Unter dieser Voraussetzung ist es
natürlich, dass der Islam seine theoretischen und
gesetzgeberischen Prinzipien so angelegt hat, dass sie
geeignet sind, die Beziehungen der Menschen untereinander in
verschiedenen Zeitaltern zu regeln. Aber das bedeutet nicht,
dass der wandelbare Aspekt, nämlich die Beziehungen des
Menschen zur Natur, vernachlässigt werden, und die Auswirkung
dieses Aspektes unberücksichtigt bleiben darf. Denn die
Weiterentwicklung der Macht des Menschen über die Natur und
seine zunehmende Gewalt über deren Reichtum bedeutet, dass der
einzelne Mensch in zunehmendem Maße eine Gefahr für die
Gemeinschaft darstellt, sie gibt ihm ständig neue
Möglichkeiten der Ausdehnung seiner Macht in die Hand, und
betont das Konzept der sozialen Gerechtigkeit, für welches der
Islam eintritt. So ist z.B. der gesetzgeberische Grundsatz,
welcher besagt, dass jemand, der auf einem Stück Land arbeitet
und Mühe daran wendet, es urbar zu machen, ein größeres
Anrecht darauf hat, als andere, nach der Auffassung des Islam
gerecht, denn es wäre ungerecht, den Arbeitenden, der Mühe an
das Land gewendet hat, mit einem anderen, der keinerlei Arbeit
daran verrichtet hat, gleichzusetzen. Aber indem die Macht des
Menschen über die Natur sich vermehrt, wird es möglich, dieses
Prinzip zu missbrauchen. Denn in einer Zeit, als die
Urbarmachung des Bodens noch in althergebrachter Art und Weise
erfolgte, konnte ein Einzelner nur auf kleinen Flächen die
Arbeiten der Urbarmachung eigenhändig durchführen; aber
seitdem sich die Macht des Menschen vermehrt hat und ihm
reichlich Mittel zur Beherrschung der Natur zur Verfügung
stehen, ist es möglich geworden, dass wenige Personen, wenn
sie die Gelegenheit dazu bekommen, eine riesige Landfläche
erschließen, indem sie über gewaltige Maschinen verfügen und
davon Gebrauch machen, womit die soziale Gerechtigkeit und die
Interessen der Allgemeinheit erschüttert werden könnten. Daher
muss das gesetzgeberische Konzept einen Freiraum vorsehen, der
entsprechend den Umständen ausgefüllt werden kann. So war die
Erschließung von Neuland im erstgenannten Zeitalter allgemein
erlaubt, während im letzteren Zeitalter den einzelnen Personen
Neukultivierungsarbeiten nur in dem Umfang gestattet werden,
der mit den Zielen der islamischen Wirtschaftslehre und deren
Vorstellungen von Gerechtigkeit zu vereinbaren ist.
In diesem Sinne fügte der Islam den
Freiraum in das gesetzgeberische Konzept ein, mit welchem er
das wirtschaftliche Leben regelt, damit dieser das
veränderliche Element widerspiegelt und der Weiterentwicklung
der Beziehungen zwischen dem Menschen und der Natur angepasst
werden kann, womit die Gefahren, die sich möglicherweise aus
dieser kontinuierlichen Weiterentwicklung ergeben, abgewendet
werden können.