Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Warum wurde ein Freiraum gelassen?

Der Grundgedanke bei dem Freiraum ist der, dass der Islam seine gesetzgeberischen Prinzipien für das Wirtschaftsleben nicht als zeitlich befristete Maßnahme oder als vorläufiges System, welches die Geschichte nach einer gewissen Zeit durch irgendeine andere Organisationsform ersetzen soll, formuliert hat, sondern als ein zu allen Zeiten anwendbares theoretisches Konzept. Und um diesem Konzept zu einer allgemeinen und umfassenden Anwendbarkeit zu verhelfen, muss sich darin die Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft in historischen Zeiträumen widerspiegeln, und zwar durch ein veränderliches Element, welches das Konzept in die Lage versetzt, sich entsprechend den jeweiligen Umständen zu modifizieren. Um diesen Gedanken in seinen Einzelheiten verstehen zu können, müssen wir den veränderlichen Aspekt im wirtschaftlichen Leben des Menschen definieren, und erkennen, in welchem Umfang er auf das gesetzgeberische Konzept, das diesen Lebensbereich regelt, Einfluss nimmt. Im wirtschaftlichen Leben gibt es Beziehungen des Menschen zur Natur, bzw. zu deren Reichtum, die sich in der Art und Weise, wie er diesen Reichtum gewinnt, bzw. wie er die Natur beherrscht, manifestieren, und es gibt Beziehungen des Menschen zu seinem Mitmenschen, die sich in den Rechten und Privilegien widerspiegeln, welche diese oder jene Person erlangt. Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Beziehungen besteht darin, dass der Mensch die erstere Art von Beziehungen eingeht, unabhängig davon, ob er in einer Gemeinschaft oder isoliert von ihr lebt. Er hat auf jeden Fall in Form bestimmter Beziehungen, welche durch seinen Erfahrungs- und Kenntnisstand geprägt werden, mit der Natur zu tun, er jagt Vögel, kultiviert Land, fördert Kohle und spinnt Wolle mit den jeweiligen Methoden, die er beherrscht. Das Zustandekommen dieser Beziehungen zwischen der Natur und dem Menschen ist selbstverständlich nicht davon abhängig, dass der Mensch innerhalb einer Gemeinschaft lebt. Die Gemeinschaft wirkt sich nur insofern auf diese Beziehungen aus, als sie zu einer Anhäufung vielfältiger Kenntnisse und Erfahrungen, zu einer menschlichen Reserve an Wissen über die Natur, und folglich zur Ausweitung der Bedürfnisse und Wünsche des Menschen führt. Dagegen sind die Beziehungen des Menschen zu seinem Mitmenschen, welche durch die Rechte und Privilegien und die Pflichten bestimmt werden, naturgemäß davon abhängig, dass der Mensch in einer Gemeinschaft lebt. Solange dies nicht der Fall ist, verschafft sich der Mensch keine Rechte oder erlegt sich Pflichten auf. Das Anrecht des Menschen auf das von ihm selbst urbar gemachte Land, das Verbot für ihn, durch Zinsgeschäfte Einkünfte ohne Arbeit zu beziehen, seine Verpflichtung, mit dem Wasser einer von ihm erschlossenen Quelle den Bedarf der anderen zu befriedigen, falls es seinen Bedarf übersteigt ... alle diese Regelungen sind nur im Rahmen einer Gemeinschaft von Bedeutung.

Der Islam – so wie wir ihn uns vorstellen – unterscheidet zwischen diesen beiden Arten von Beziehungen. So berücksichtigt er, dass sich die Beziehungen des Menschen zur Natur, bzw. zu deren Reichtum, im Laufe der Zeit weiterentwickeln, entsprechend den neu auftauchenden Problemen, mit denen der Mensch bei seiner Arbeit an der Natur ständig und immer wieder konfrontiert wird, und den vielfältigen Lösungen, mit denen er diese Probleme bewältigt. Und in dem Maße, wie sich seine Beziehungen zur Natur weiterentwickeln, nimmt seine Macht über die Natur und das Potenzial seiner Mittel und Methoden zu deren Nutzung zu. Hingegen sind die Beziehungen der Menschen untereinander nicht naturgemäß Wandlungen unterworfen, denn diese betreffen unveränderliche und elementare Probleme, wie sehr sich deren äußere Rahmen und deren Erscheinungsformen auch unterscheiden mögen. So erlangt jede Gemeinschaft im Verlaufe ihrer Beziehungen zur Natur Gewalt über Reichtum und ist mit dem Problem von dessen Verteilung, d.h. der Festsetzung der Rechte der einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft daran, konfrontiert, ob diese Gemeinschaft nun den Produktivitätsstand der Dampfkraft und Elektrizität oder das Niveau der Handmühle erreicht hat. Daher hält der Islam das gesetzgeberische Konzept, welches diese Beziehungen entsprechend seinen Vorstellungen von Gerechtigkeit regelt, in theoretischer Hinsicht für geeignet, unverändert bestehen zu bleiben, weil es sich auf beständige Probleme bezieht. So behandelt z.B. der gesetzgeberische Grundsatz, wonach persönliches Anrecht auf Ressourcen der Natur auf Arbeit beruht, ein allgemeines Problem, welches sowohl im Zeitalter des einfachen Pfluges, als auch im Zeitalter der komplizierten Maschine besteht, denn die Art und Weise der Verteilung natürlicher Produktionsquellen an die einzelnen Menschen ist eine Frage, die sich in beiden Zeitaltern stellt. Damit widerspricht der Islam dem Marxismus, welcher glaubt, dass sich die Beziehungen der Menschen untereinander in Abhängigkeit von deren Beziehungen zur Natur weiterentwickeln, und dass die Art der Güterverteilung an die Produktionsweise gebunden sei, weshalb er eine Untersuchung der Probleme der Gesellschaft nur im Rahmen der Analyse von deren Beziehungen zur Natur für möglich hält, was wir im ersten Teil dieses Buches[1] dargelegt und kritisiert haben.

Unter dieser Voraussetzung ist es natürlich, dass der Islam seine theoretischen und gesetzgeberischen Prinzipien so angelegt hat, dass sie geeignet sind, die Beziehungen der Menschen untereinander in verschiedenen Zeitaltern zu regeln. Aber das bedeutet nicht, dass der wandelbare Aspekt, nämlich die Beziehungen des Menschen zur Natur, vernachlässigt werden, und die Auswirkung dieses Aspektes unberücksichtigt bleiben darf. Denn die Weiterentwicklung der Macht des Menschen über die Natur und seine zunehmende Gewalt über deren Reichtum bedeutet, dass der einzelne Mensch in zunehmendem Maße eine Gefahr für die Gemeinschaft darstellt, sie gibt ihm ständig neue Möglichkeiten der Ausdehnung seiner Macht in die Hand, und betont das Konzept der sozialen Gerechtigkeit, für welches der Islam eintritt. So ist z.B. der gesetzgeberische Grundsatz, welcher besagt, dass jemand, der auf einem Stück Land arbeitet und Mühe daran wendet, es urbar zu machen, ein größeres Anrecht darauf hat, als andere, nach der Auffassung des Islam gerecht, denn es wäre ungerecht, den Arbeitenden, der Mühe an das Land gewendet hat, mit einem anderen, der keinerlei Arbeit daran verrichtet hat, gleichzusetzen. Aber indem die Macht des Menschen über die Natur sich vermehrt, wird es möglich, dieses Prinzip zu missbrauchen. Denn in einer Zeit, als die Urbarmachung des Bodens noch in althergebrachter Art und Weise erfolgte, konnte ein Einzelner nur auf kleinen Flächen die Arbeiten der Urbarmachung eigenhändig durchführen; aber seitdem sich die Macht des Menschen vermehrt hat und ihm reichlich Mittel zur Beherrschung der Natur zur Verfügung stehen, ist es möglich geworden, dass wenige Personen, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen, eine riesige Landfläche erschließen, indem sie über gewaltige Maschinen verfügen und davon Gebrauch machen, womit die soziale Gerechtigkeit und die Interessen der Allgemeinheit erschüttert werden könnten. Daher muss das gesetzgeberische Konzept einen Freiraum vorsehen, der entsprechend den Umständen ausgefüllt werden kann. So war die Erschließung von Neuland im erstgenannten Zeitalter allgemein erlaubt, während im letzteren Zeitalter den einzelnen Personen Neukultivierungsarbeiten nur in dem Umfang gestattet werden, der mit den Zielen der islamischen Wirtschaftslehre und deren Vorstellungen von Gerechtigkeit zu vereinbaren ist.

In diesem Sinne fügte der Islam den Freiraum in das gesetzgeberische Konzept ein, mit welchem er das wirtschaftliche Leben regelt, damit dieser das veränderliche Element widerspiegelt und der Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen dem Menschen und der Natur angepasst werden kann, womit die Gefahren, die sich möglicherweise aus dieser kontinuierlichen Weiterentwicklung ergeben, abgewendet werden können.

[1] Siehe Iqtisaduna Seite 69-154, hier nicht übersetzt.

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