Loslösung gesetzlicher Belege aus dem Zusammenhang ihrer
speziellen Umstände von Voraussetzungen
Unter der
Loslösung des gesetzlichen Beleges von seinen Umständen und
Voraussetzungen verstehen wir eine Manipulation, welche die
rechtliche Relevanz dieses Beleges ohne objektive
Rechtfertigung ausdehnt. Dies geschieht oft mit einer
besonderen Art von Belegen des islamischen Gesetzes, die in
der Terminologie der Rechtswissenschaft [fiqh] als
“Billigung“ bezeichnet werden; und in Anbetracht der großen
Bedeutungen, die dieser Art von Belegen für die Herausfindung
von Bestimmungen und Begriffsinhalten, die mit der
Wirtschaftsideologie zusammenhängen, zukommen, ist es
notwendig, die Gefahr aufzuzeigen, die droht, wenn derartige
Belege aus ihrem Zusammenhang und ihren Vorbedingungen
herausgelöst werden. Wir wollen zunächst die Bedeutung des
Begriffes “Billigung“ klarstellen: Die “Billigung“ ist eines
der Phänomene der edlen Verfahrensweise [sunna], und
wir verstehen darunter das Schweigen des Propheten Muhammad
(s.) oder des Imam (a.) zu einer bestimmten Handlung, die sich
vor seinen Augen und Ohren abspielte, derart, dass dieses
Schweigen seine Erlaubnis dieser Handlung und damit deren
Zulässigkeit im Islam anzeigt.
Es gibt zwei
Arten von “Billigung“: Einmal kann es die stillschweigende
Zustimmung zu einer bestimmten Handlung eines Einzelnen sein,
etwa dass jemand vor den Augen des Propheten Palmwein
getrunken hat, wozu der Prophet schwieg, und dieses Schweigen
würde die islamische Erlaubnis, Palmwein zu trinken, zeigen.
Die andere Möglichkeit ist die stillschweigende Zustimmung zu
einer allgemeinen Handlungsweise, wie sie im Alltagsleben der
Menschen ständig vorkam; so wissen wir z.B. von der Gewohnheit
der Menschen zur Zeit der islamischen Gesetzgebung, jedem
Einzelnen zu erlauben, Bodenschätze an ihren Fundorten
aufzusammeln, und dadurch Eigentumsrechte an diesen zu
gewinnen, und die Tatsache, dass sich das islamische Recht [scharia]
nicht zu dieser Gewohnheit äußert und ihr nicht widerspricht,
wird als deren Zustimmung ausgelegt, und als Beleg dafür, dass
der Islam dem Einzelnen die Förderung und Aneignung der
Rohstoffe der Natur gestattet. In den Abhandlungen der
Rechtswissenschaft [fiqh] wird so etwas als allgemeines
Gewohnheitsrecht oder als “die Verhaltensweise der Klugen“
bezeichnet, und es beruht tatsächlich darauf, dass man das
Einverständnis des islamischen Rechts [scharia] mit
allgemeine Verhaltensweisen, die zur Zeit der Gesetzgebung
üblich waren, daran erkennt, dass diese im islamischen Recht [scharia]
an keiner Stelle verboten werden. Denn wenn das islamische
Recht [scharia] mit jenem zu ihrer Zeit verbreiteten
Verhalten nicht einverstanden gewesen wäre, hätte sie es
sicherlich verboten. Das nicht vorhandene Verbot weist also
auf Einverständnis hin. Allerdings muss die Schlussfolgerung
nach den Kriterien der Rechtswissenschaft [fiqh] von
einigen Voraussetzungen anhängig gemacht werden:
Erstens: Man
muss sicher sein, dass jenes Verhalten historisch zur Zeit der
Gesetzgebung tatsächlich praktiziert wurde, denn wenn es
zeitlich später als die Gesetzgebung einsetzte, dann ist das
Schweigen des islamischen Rechts [scharia] dazu kein
Beweis für deren Zustimmung. Aus dem Schweigen lässt sich nur
dann auf Einverständnis schließen, wenn das fragliche
Verhalten zur Zeit der Gesetzgebung erwiesenermaßen
anzutreffen war.
Zweitens: Man
muss sicher sein, dass das islamische Recht [scharia]
tatsächlich kein Verbot des fraglichen Verhaltens erlassen
hat. Es reicht nicht aus, nichts über ein solches Verbot zu
wissen, denn solange der Untersuchende nicht absolut sicher
ist, dass kein Verbot ausgesprochen wurde, hat er nicht das
Recht, auf eine Erlaubnis des besagten Verhaltens durch den
Islam zu schließen, da es das islamische Recht [scharia]
vielleicht doch verboten hat.
Drittens: Alle
objektiven Charakteristika und Rahmenbedingungen bei diesem
Verhalten müssen in Betracht gezogen werden, denn einige
dieser Begleitumstände könnten dazu beigetragen haben, dass
das Verhalten erlaubt und nicht verboten wurde. Und erst wenn
wir alle Charakteristika und Rahmenbedingungen, die dieses zur
Zeit der Gesetzgebung übliche Verhalten auszeichneten,
festgestellt haben, können wir aus dem Schweigen des
islamischen Rechts [scharia] den Schluss ziehen, dass
es erlaubt ist, und zwar wann immer es unter Begleitumständen
praktiziert wird, die den von uns festgestellten vergleichbar
sind. Nunmehr können wir angesichts dieser Ausführungen
verstehen, wie sich das subjektive Element in diese
Beweisführung einschleichen kann, indem das Verhalten isoliert
von seinen Begleitumständen und Rahmenbedingungen untersucht
wird.
Diese
verallgemeinernde Abstraktion kann zweierlei Form annehmen:
Die eine Möglichkeit ist, dass der Interpret in einer realen
Umwelt lebt, in der ein bestimmtes wirtschaftliches Verhalten
gang und gäbe ist, und er dieses Verhalten als derart
naheliegend, authentisch islamisch und tief verwurzelt
empfindet, dass er die Faktoren, die dieses Verhalten
aufkommen ließen, und die zeitlich begrenzten Umständen, die
es begünstigten, zu vergessen scheint. So erscheint es ihm,
als ob es sich um ein ursprüngliches Verhalten handelt, das
historisch bis auf die Zeit der islamischen Gesetzgebung
zurückgeht, obwohl es das Ergebnis bestimmter Faktoren und
Umstände neueren Datums ist, oder zumindest sein könnte.
Nehmen wir als
Beispiel die kapitalistische Produktionsweise bei den
Arbeitenden und Industrien zur Förderung von Bodenschätzen: In
der realen Gegenwart ist diese Art der Produktion massenhaft
anzutreffen, in der Lohnarbeiter mineralische Rohstoffe wie
Salz oder Erdöl fördern, während ihnen ein Kapitalist ihren
Lohn auszahlt und sich aus diesem Grund als Eigentümer der
geförderten Bodenschätze betrachtet. Derartige Lohnverträge –
wie sie zwischen dem Kapitalisten und den Arbeitern bestehen –
erscheinen heutzutage samt der oben erwähnten Implikation und
Folgen – nämlich dass die Arbeiter den Lohn erhalten und dem
Kapitalisten die Bodenschätze gehören – derart
selbstverständlich, dass sich viele vorstellen können, solche
Einvernehmen gäbe es schon, seit der Mensch die natürlichen
Rohstoffe entdeckte und zu nutzen lernte, und ausgehend von
dieser Vorstellung glauben sie, dass derartige Lohnverträge
auch zur Zeit der islamischen Gesetzgebung üblich gewesen
wären. Und natürlich glauben sie auf derselben Grundlage die
Zulässigkeit dieser Lohnverträge, bzw. der Aneignung der
Bodenschätze durch den Kapitalisten belegen zu können anhand
der “Billigung“. So wird behauptet: Die Tatsache, dass sich
das islamische Recht [scharia] zu diesen Lohnverträgen
nicht äußert und kein Verbot ausspricht, ist ein Beleg für
deren Erlaubnis durch den Islam.
Wir wollen uns
an dieser Stelle weder zur Beurteilung von solchen
Lohnverträgen und deren Implikationen in der
Rechtswissenschaft [fiqh], noch zu den Stellungnahmen
von Rechtsgelehrten, welche die Zulässigkeit dieser Verträge
oder deren Folgewirkung in Frage stellen, äußern, denn wir
werden das gesetzliche Urteil des Islam über diese
Lohnverträge und deren Folgewirkung in einem späteren Kapitel
in aller Ausführlichkeit untersuchen, und alle positiven und
negativen Belegstellen, die herangezogen werden können,
vorstellen, sondern wir wollen hier nur die Methode, die
Zulässigkeit dieser Lohnverträge bzw. von deren Implikationen
anhand der “Billigung“ zu belegen, untersuchen, um eine
mögliche Form der Abstraktion bestimmter Verhaltensweisen von
ihren Rahmenbedingungen und Begleitumständen aufzuzeigen. Denn
diejenigen, welche die Rechtmäßigkeit der besagten
Lohnverträge samt ihrer Folgewirkungen mit dem Argument der
“Billigung“ zu belegen versuchen, haben die Zeit der
islamischen Gesetzgebung nicht selbst miterlebt, so dass sie
sicher sein könnten, dass ein derartiges Lohnsystem damals
verbreitet gewesen wäre, sondern sie sehen nur dessen
Verbreitung in ihrer realen Umwelt, und seine feste
Etabliertheit in der herrschenden Gesellschaftsordnung lässt
sie glauben, es handele sich um ein universelles Phänomen, das
historisch mindestens bis auf die Zeit der islamischen
Gesetzgebung zurückgeht. Das ist es, was wir mit der
Herauslösung eines bestimmten Verhaltens aus dem Zusammenhang
seiner Begleitumstände und Rahmenbedingungen meinen, oder
haben wir etwa einen wirklichen Beweis dafür, dass diese Art
von Lohnverträgen zur Zeit der islamischen Gesetzgebung
existierten und verbreitet waren?! Und wissen diejenigen, die
von deren Vorhandensein zur damaligen Zeit überzeugt sind,
etwa nicht, dass solche Lohnverträge eine gesetzmäßige
Erscheinung der kapitalistischen Produktionsweise sind, die
historisch in größerem Umfang – insbesondere im industriellen
Bereich – erst viel später auftrat?! Damit soll nicht gesagt
werden, dass die Existenz des kapitalistischen Systems bei der
Gewinnung von Bodenschätzen, d.h. deren Förderung auf der
Basis von Lohnarbeit, mit Sicherheit ausgeschlossen werden
kann, und es soll kein Gegenbeweis vorgebracht, sondern nur
Zweifel an dieser Vermutung angemeldet werden, und kritisiert
werden, wie ein bestimmtes Phänomen verinnerlicht wird und als
selbstverständlich erscheint, so dass mit Überzeugung auf
dessen tiefe Verwurzelung und historisches Alter geschlossen
wird, nur weil es in der realen Umwelt und dafür, dass es
nicht etwa neu eingetretenen Umständen abhängig ist, keinen
logischen und vollständigen Beweise erbringen kann. Dies ist
eine mögliche Form der unzulässigen Abstraktion – einer
erlebten Verhaltensweise von ihren realen Begleitumständen –
und der historischen Rückschlüsse auf deren Existenz zur Zeit
der islamischen Gesetzgebung.
Die andere
Variante einer unzulässigen Abstraktion des
“Billigungs-Arguments“ kann eintreten, wenn wir ein Verhalten
untersuchen, das tatsächlich zur Zeit der Gesetzgebung
anzutreffen war, und aus dessen Nichtbeachtung durch das
islamische Recht [scharia] den Schluss ziehen, dass der
Islam es erlaubt. Der Interpret kann in diesem Fall den Fehler
der Abstraktion begehen, falls er dieses zur Zeit der
Gesetzgebung übliche Verhalten von seinen speziellen
Rahmenbedingungen trennt, es isoliert von den Faktoren
betrachtet, die vielleicht zu dessen Erlaubnis beigetragen
haben, und verallgemeinernd behauptet, dieses Verhalten sei im
Islam jederzeit zulässig und richtig, obwohl wir doch, damit
unsere Argumentation auf der Basis der “Billigung“ objektiv
wird, alle Bedingungen, welche die Haltung des Islam zu diesem
Verhalten möglicherweise beeinflusst haben, in Betracht ziehen
müssen. Sobald sich einige dieser Rahmenbedingungen und
Begleitumstände ändern, wird das Argument der “Billigung“
sinnlos; denn wenn dir jemand z.B. sagt, im Islam sei der
Genuss von Palmwein erlaubt, mit dem Argument, dass der und
derjenige – als er zu Lebzeiten des Propheten Muhammad (s.)
krank wurde – Palmwein trank, und dass der Prophet das nicht
verboten hat, dann kannst du entgegenhalten, dass das Argument
dieser “Billigung“ allein kein ausreichender Beleg dafür ist,
dass der Islam jedem Einzelnen, auch dem Gesunden, den Genuss
von Palmwein erlaubt, sondern dass dieser möglicherweise nur
im Falle einiger Krankheiten ausnahmsweise erlaubt ist. Es
wäre dann ein Fehler, eine Handlung, die zur Zeit der
islamischen Gesetzgebung stattfand, von ihren besonderen
Rahmenbedingungen zu isolieren, und das Urteil über diese
Handlungsweise ohne plausiblen Grund als relevant für alle
vergleichbaren Handlungsweisen zu verallgemeinern, die sich
vielleicht in ihren Besonderheiten so unterscheiden, dass auch
das Urteil des Islam anders ausfallen würde. Vielmehr müssen
wir alle individuellen und gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen, die zur Zeit der islamischen Gesetzgebung
bei diesem Verhalten vorausgesetzt werden konnten, in Betracht
ziehen.