Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Loslösung gesetzlicher Belege aus dem Zusammenhang ihrer speziellen Umstände von Voraussetzungen

Unter der Loslösung des gesetzlichen Beleges von seinen Umständen und Voraussetzungen verstehen wir eine Manipulation, welche die rechtliche Relevanz dieses Beleges ohne objektive Rechtfertigung ausdehnt. Dies geschieht oft mit einer besonderen Art von Belegen des islamischen Gesetzes, die in der Terminologie der Rechtswissenschaft [fiqh] als “Billigung“ bezeichnet werden; und in Anbetracht der großen Bedeutungen, die dieser Art von Belegen für die Herausfindung von Bestimmungen und Begriffsinhalten, die mit der Wirtschaftsideologie zusammenhängen, zukommen, ist es notwendig, die Gefahr aufzuzeigen, die droht, wenn derartige Belege aus ihrem Zusammenhang und ihren Vorbedingungen herausgelöst werden. Wir wollen zunächst die Bedeutung des Begriffes “Billigung“ klarstellen: Die “Billigung“ ist eines der Phänomene der edlen Verfahrensweise [sunna], und wir verstehen darunter das Schweigen des Propheten Muhammad (s.) oder des Imam (a.) zu einer bestimmten Handlung, die sich vor seinen Augen und Ohren abspielte, derart, dass dieses Schweigen seine Erlaubnis dieser Handlung und damit deren Zulässigkeit im Islam anzeigt.

Es gibt zwei Arten von “Billigung“: Einmal kann es die stillschweigende Zustimmung zu einer bestimmten Handlung eines Einzelnen sein, etwa dass jemand vor den Augen des Propheten Palmwein[1] getrunken hat, wozu der Prophet schwieg, und dieses Schweigen würde die islamische Erlaubnis, Palmwein zu trinken, zeigen. Die andere Möglichkeit ist die stillschweigende Zustimmung zu einer allgemeinen Handlungsweise, wie sie im Alltagsleben der Menschen ständig vorkam; so wissen wir z.B. von der Gewohnheit der Menschen zur Zeit der islamischen Gesetzgebung, jedem Einzelnen zu erlauben, Bodenschätze an ihren Fundorten aufzusammeln, und dadurch Eigentumsrechte an diesen zu gewinnen, und die Tatsache, dass sich das islamische Recht [scharia] nicht zu dieser Gewohnheit äußert und ihr nicht widerspricht, wird als deren Zustimmung ausgelegt, und als Beleg dafür, dass der Islam dem Einzelnen die Förderung und Aneignung der Rohstoffe der Natur gestattet. In den Abhandlungen der Rechtswissenschaft [fiqh] wird so etwas als allgemeines Gewohnheitsrecht oder als “die Verhaltensweise der Klugen“ bezeichnet, und es beruht tatsächlich darauf, dass man das Einverständnis des islamischen Rechts [scharia] mit allgemeine Verhaltensweisen, die zur Zeit der Gesetzgebung üblich waren, daran erkennt, dass diese im islamischen Recht [scharia] an keiner Stelle verboten werden. Denn wenn das islamische Recht [scharia] mit jenem zu ihrer Zeit verbreiteten Verhalten nicht einverstanden gewesen wäre, hätte sie es sicherlich verboten. Das nicht vorhandene Verbot weist also auf Einverständnis hin. Allerdings muss die Schlussfolgerung nach den Kriterien der Rechtswissenschaft [fiqh] von einigen Voraussetzungen anhängig gemacht werden:

Erstens: Man muss sicher sein, dass jenes Verhalten historisch zur Zeit der Gesetzgebung tatsächlich praktiziert wurde, denn wenn es zeitlich später als die Gesetzgebung einsetzte, dann ist das Schweigen des islamischen Rechts [scharia] dazu kein Beweis für deren Zustimmung. Aus dem Schweigen lässt sich nur dann auf Einverständnis schließen, wenn das fragliche Verhalten zur Zeit der Gesetzgebung erwiesenermaßen anzutreffen war.

Zweitens: Man muss sicher sein, dass das islamische Recht [scharia] tatsächlich kein Verbot des fraglichen Verhaltens erlassen hat. Es reicht nicht aus, nichts über ein solches Verbot zu wissen, denn solange der Untersuchende nicht absolut sicher ist, dass kein Verbot ausgesprochen wurde, hat er nicht das Recht, auf eine Erlaubnis des besagten Verhaltens durch den Islam zu schließen, da es das islamische Recht [scharia] vielleicht doch verboten hat.

Drittens: Alle objektiven Charakteristika und Rahmenbedingungen bei diesem Verhalten müssen in Betracht gezogen werden, denn einige dieser Begleitumstände könnten dazu beigetragen haben, dass das Verhalten erlaubt und nicht verboten wurde. Und erst wenn wir alle Charakteristika und Rahmenbedingungen, die dieses zur Zeit der Gesetzgebung übliche Verhalten auszeichneten, festgestellt haben, können wir aus dem Schweigen des islamischen Rechts [scharia] den Schluss ziehen, dass es erlaubt ist, und zwar wann immer es unter Begleitumständen praktiziert wird, die den von uns festgestellten vergleichbar sind. Nunmehr können wir angesichts dieser Ausführungen verstehen, wie sich das subjektive Element in diese Beweisführung einschleichen kann, indem das Verhalten isoliert von seinen Begleitumständen und Rahmenbedingungen untersucht wird.

Diese verallgemeinernde Abstraktion kann zweierlei Form annehmen: Die eine Möglichkeit ist, dass der Interpret in einer realen Umwelt lebt, in der ein bestimmtes wirtschaftliches Verhalten gang und gäbe ist, und er dieses Verhalten als derart naheliegend, authentisch islamisch und tief verwurzelt empfindet, dass er die Faktoren, die dieses Verhalten aufkommen ließen, und die zeitlich begrenzten Umständen, die es begünstigten, zu vergessen scheint. So erscheint es ihm, als ob es sich um ein ursprüngliches Verhalten handelt, das historisch bis auf die Zeit der islamischen Gesetzgebung zurückgeht, obwohl es das Ergebnis bestimmter Faktoren und Umstände neueren Datums ist, oder zumindest sein könnte.

Nehmen wir als Beispiel die kapitalistische Produktionsweise bei den Arbeitenden und Industrien zur Förderung von Bodenschätzen: In der realen Gegenwart ist diese Art der Produktion massenhaft anzutreffen, in der Lohnarbeiter mineralische Rohstoffe wie Salz oder Erdöl fördern, während ihnen ein Kapitalist ihren Lohn auszahlt und sich aus diesem Grund als Eigentümer der geförderten Bodenschätze betrachtet. Derartige Lohnverträge – wie sie zwischen dem Kapitalisten und den Arbeitern bestehen – erscheinen heutzutage samt der oben erwähnten Implikation und Folgen – nämlich dass die Arbeiter den Lohn erhalten und dem Kapitalisten die Bodenschätze gehören – derart selbstverständlich, dass sich viele vorstellen können, solche Einvernehmen gäbe es schon, seit der Mensch die natürlichen Rohstoffe entdeckte und zu nutzen lernte, und ausgehend von dieser Vorstellung glauben sie, dass derartige Lohnverträge auch zur Zeit der islamischen Gesetzgebung üblich gewesen wären. Und natürlich glauben sie auf derselben Grundlage die Zulässigkeit dieser Lohnverträge, bzw. der Aneignung der Bodenschätze durch den Kapitalisten belegen zu können anhand der “Billigung“. So wird behauptet: Die Tatsache, dass sich das islamische Recht [scharia] zu diesen Lohnverträgen nicht äußert und kein Verbot ausspricht, ist ein Beleg für deren Erlaubnis durch den Islam.

Wir wollen uns an dieser Stelle weder zur Beurteilung von solchen Lohnverträgen und deren Implikationen in der Rechtswissenschaft [fiqh], noch zu den Stellungnahmen von Rechtsgelehrten, welche die Zulässigkeit dieser Verträge oder deren Folgewirkung in Frage stellen, äußern, denn wir werden das gesetzliche Urteil des Islam über diese Lohnverträge und deren Folgewirkung in einem späteren Kapitel in aller Ausführlichkeit untersuchen, und alle positiven und negativen Belegstellen, die herangezogen werden können, vorstellen, sondern wir wollen hier nur die Methode, die Zulässigkeit dieser Lohnverträge bzw. von deren Implikationen anhand der “Billigung“ zu belegen, untersuchen, um eine mögliche Form der Abstraktion bestimmter Verhaltensweisen von ihren Rahmenbedingungen und Begleitumständen aufzuzeigen. Denn diejenigen, welche die Rechtmäßigkeit der besagten Lohnverträge samt ihrer Folgewirkungen mit dem Argument der “Billigung“ zu belegen versuchen, haben die Zeit der islamischen Gesetzgebung nicht selbst miterlebt, so dass sie sicher sein könnten, dass ein derartiges Lohnsystem damals verbreitet gewesen wäre, sondern sie sehen nur dessen Verbreitung in ihrer realen Umwelt, und seine feste Etabliertheit in der herrschenden Gesellschaftsordnung lässt sie glauben, es handele sich um ein universelles Phänomen, das historisch mindestens bis auf die Zeit der islamischen Gesetzgebung zurückgeht. Das ist es, was wir mit der Herauslösung eines bestimmten Verhaltens aus dem Zusammenhang seiner Begleitumstände und Rahmenbedingungen meinen, oder haben wir etwa einen wirklichen Beweis dafür, dass diese Art von Lohnverträgen zur Zeit der islamischen Gesetzgebung existierten und verbreitet waren?! Und wissen diejenigen, die von deren Vorhandensein zur damaligen Zeit überzeugt sind, etwa nicht, dass solche Lohnverträge eine gesetzmäßige Erscheinung der kapitalistischen Produktionsweise sind, die historisch in größerem Umfang – insbesondere im industriellen Bereich – erst viel später auftrat?! Damit soll nicht gesagt werden, dass die Existenz des kapitalistischen Systems bei der Gewinnung von Bodenschätzen, d.h. deren Förderung auf der Basis von Lohnarbeit, mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, und es soll kein Gegenbeweis vorgebracht, sondern nur Zweifel an dieser Vermutung angemeldet werden, und kritisiert werden, wie ein bestimmtes Phänomen verinnerlicht wird und als selbstverständlich erscheint, so dass mit Überzeugung auf dessen tiefe Verwurzelung und historisches Alter geschlossen wird, nur weil es in der realen Umwelt und dafür, dass es nicht etwa neu eingetretenen Umständen abhängig ist, keinen logischen und vollständigen Beweise erbringen kann. Dies ist eine mögliche Form der unzulässigen Abstraktion – einer erlebten Verhaltensweise von ihren realen Begleitumständen – und der historischen Rückschlüsse auf deren Existenz zur Zeit der islamischen Gesetzgebung.

Die andere Variante einer unzulässigen Abstraktion des “Billigungs-Arguments“ kann eintreten, wenn wir ein Verhalten untersuchen, das tatsächlich zur Zeit der Gesetzgebung anzutreffen war, und aus dessen Nichtbeachtung durch das islamische Recht [scharia] den Schluss ziehen, dass der Islam es erlaubt. Der Interpret kann in diesem Fall den Fehler der Abstraktion begehen, falls er dieses zur Zeit der Gesetzgebung übliche Verhalten von seinen speziellen Rahmenbedingungen trennt, es isoliert von den Faktoren betrachtet, die vielleicht zu dessen Erlaubnis beigetragen haben, und verallgemeinernd behauptet, dieses Verhalten sei im Islam jederzeit zulässig und richtig, obwohl wir doch, damit unsere Argumentation auf der Basis der “Billigung“ objektiv wird, alle Bedingungen, welche die Haltung des Islam zu diesem Verhalten möglicherweise beeinflusst haben, in Betracht ziehen müssen. Sobald sich einige dieser Rahmenbedingungen und Begleitumstände ändern, wird das Argument der “Billigung“ sinnlos; denn wenn dir jemand z.B. sagt, im Islam sei der Genuss von Palmwein erlaubt, mit dem Argument, dass der und derjenige – als er zu Lebzeiten des Propheten Muhammad (s.) krank wurde – Palmwein trank, und dass der Prophet das nicht verboten hat, dann kannst du entgegenhalten, dass das Argument dieser “Billigung“ allein kein ausreichender Beleg dafür ist, dass der Islam jedem Einzelnen, auch dem Gesunden, den Genuss von Palmwein erlaubt, sondern dass dieser möglicherweise nur im Falle einiger Krankheiten ausnahmsweise erlaubt ist. Es wäre dann ein Fehler, eine Handlung, die zur Zeit der islamischen Gesetzgebung stattfand, von ihren besonderen Rahmenbedingungen zu isolieren, und das Urteil über diese Handlungsweise ohne plausiblen Grund als relevant für alle vergleichbaren Handlungsweisen zu verallgemeinern, die sich vielleicht in ihren Besonderheiten so unterscheiden, dass auch das Urteil des Islam anders ausfallen würde. Vielmehr müssen wir alle individuellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die zur Zeit der islamischen Gesetzgebung bei diesem Verhalten vorausgesetzt werden konnten, in Betracht ziehen.

[1] Der Genuss von Wein ist für Muslime verboten.

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