Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Die Islamische Wirtschaftslehre ist keine Wissenschaft

Jede einzelne Wirtschaftslehre, die wir dargestellt haben, bildet einen Teil einer vollständigen Ideologie, die jeweils verschiedene Bereiche und Aspekte des Lebens behandelt. So ist die islamische Wirtschaftslehre ein Teil der islamischen Ideologie, welche die verschiedensten Bereiche des Lebens umfasst, und die kapitalistische Wirtschaft ist ein Teil der kapitalistischen Demokratie, die in ihre Ordnungsprinzipien die ganze Gesellschaft einbezieht, wie auch die marxistische Wirtschaftstheorie ein Teil der marxistischen Ideologie ist, in deren besonderen Rahmen das ganze gesellschaftliche Leben gestaltet werden soll. Diese Ideologien unterscheiden sich in ihren geistigen Ursprüngen und ihren hauptsächlichen Wurzeln, aus denen sie ihre geistige und reale Existenz herleiten, und dementsprechend unterscheiden sie sich in ihrem jeweiligen Charakter. So hat die marxistische Wirtschaftsideologie nach marxistischer Ansicht Wissenschaftscharakter, weil sie nach der Überzeugung ihrer Anhänger das zwangsläufige Endergebnis von Naturgesetzen ist, die den Lauf der Geschichte bestimmen sollen. Im Gegensatz dazu wird der kapitalistische Weg von seinen Anhängern … nicht als notwendige Folge natürlicher Gesetzmäßigkeiten der Geschichte angesehen, sondern als eine Form der Gesellschaftsordnung, die mit den praktischen Wertemaßstäben und Idealen übereinstimmt, welche sie sich zu Eigen gemacht haben. Hingegen maßt sich der islamische Weg kein wissenschaftliches Etikett an, wie die marxistische Ideologie, und er ist auch nicht frei von einer bestimmten Glaubensgrundlage und einer prinzipiellen Haltung gegenüber dem Leben und der Schöpfung wie der Kapitalismus.[1]

Wenn wir sagen, die islamische Wirtschaftslehre sei keine Wissenschaft, dann meinen wir, der Islam ist eine Religion, die eine bestimmte Ordnung des wirtschaftlichen Lebens propagiert, genauso wie sie sich um andere Bereiche des Lebens kümmert, und umfasst keine Wirtschaftswissenschaft, vergleichbar der europäischen “politischen Ökonomie“. Mit anderen Worten: Er ist ein revolutionärer Weg zum Umsturz der schlechten Zustände und deren Umwandlung in gesunde Zustände, und keine objektive Interpretation der Realität. Wenn er etwa das Prinzip der verschiedenen Formen des Eigentums festsetzt, so behauptet er nicht, die historische Realität einer bestimmten Phase der menschlichen Entwicklung zu erklären oder das Ergebnis der natürlichen Gesetzmäßigkeiten der Geschichte widerzuspiegeln, wie es der Marxismus behauptet, wenn er das Prinzip des kollektiven Eigentums als zwangsläufigen Zustand einer bestimmten historischen Phase und als deren einzig mögliche Interpretation verkündet. Die islamische Wirtschaft ähnelt in dieser Hinsicht der ideologisch geprägten kapitalistischen Wirtschaft, da sie ein Mittel zur Änderung der Realität und nicht zu deren Beschreibung ist. Die ideologische Aufgabe im Hinblick auf die islamische Wirtschaft besteht also darin, das vollständige Bild des Wirtschaftslebens gemäß der islamischen Gesetzgebung herauszufinden und die allgemeinen Ideen und Vorstellungen, die hinter diesem Bild durchscheinen, zu untersuchen, wie etwa den Gedanken, die Form der Verteilung von Gütern von der Produktionsweise zu trennen, und die damit zusammenhängenden Überlegungen.

Die Aufgabe der Wissenschaft im Hinblick auf die islamische Wirtschaft setzt erst danach ein, nämlich den Ablauf des realen wirtschaftlichen Lebens und seine Gesetzmäßigkeiten innerhalb einer islamischen Gesellschaft, in der die islamische Ideologie vollständig praktiziert wird, zu untersuchen. Der Wissenschaftler würde die ideologisch geprägte Wirtschaftspraxis im Islam dann als feststehende Grundregel der Gesellschaft ansehen und sich bemühen, sie zu interpretieren und ihre Erscheinungsformen miteinander in Beziehung zu setzen. Dies entspräche der Entwicklung der “politischen Ökonomie“ seitens der kapitalistischen Wirtschaftswissenschaftler, die erst die ideologischen Grundlinien entwarfen, und dann die Realität innerhalb dieses Rahmens interpretierten und die Art der Gesetzmäßigkeiten untersuchten, die in einer Gesellschaft herrschen, in der solche Prinzipien angewandt werden. Das Produkt solcher Studien ist die Wissenschaft der “politischen Ökonomie“. Ebenso wäre es möglich, eine Wissenschaft der islamischen Wirtschaft zu entwickeln – nachdem eine umfassende ideologische Untersuchung vorausgegangen ist – anhand der Beobachtung der Realität in ihrem Rahmen. Und es stellt sich die Frage: Wann und wie kann man eine islamische Wirtschaftswissenschaft entwickeln, wie die kapitalistischen Wirtschaftstheoretiker die Wissenschaft der “politischen Ökonomie“, oder mit anderen Worten, eine Wirtschaftswissenschaft, welche die Phänomene der kapitalistischen Gesellschaft interpretiert, einführten? Die Antwort auf diese Frage ist, dass die wissenschaftliche Darlegung von Erscheinungsformen des wirtschaftlichen Lebens sich auf zwei Methoden konzentriert:

·       Ersten: Die Bestandsaufnahme der wirtschaftlich bedeutsamen Phänomene aus der praktisch erlebten Realität und deren wissenschaftliche Einordnung in einer Weise, welche die Gesetzmäßigkeiten, von denen die untersuchte reale Gesellschaft mit ihren besonderen Bedingungen beherrscht wird, offenlegt.

·       Zweitens: Der theoretische wissenschaftliche Ansatz, der von bestimmten allgemein anerkannten Voraussetzungen ausgeht und in deren Licht die wirtschaftliche Tendenz und den Verlauf des realen wirtschaftlichen Lebens voraussagt.

Wissenschaftliche Abhandlung der ersteren Art sind darauf angewiesen, dass die untersuchte Ideologie bereits praktiziert wird und in einem realen gesellschaftlichen Gebilde Gestalt angenommen hat, damit der Wissenschaftler die Erscheinungsformen dieser Realität dokumentieren und ihre allgemeinen Charakteristika und Gesetzmäßigkeiten herausfinden kann. Diese Gelegenheit hatten die Wirtschaftsexperten der kapitalistischen Länder, da sie in einer Gesellschaft lebten, die an den Kapitalismus glaubt und ihn praktiziert; so konnten sie ihre Theorien auf der Grundlage von Erfahrungen mit der gesellschaftlichen Realität, die sie selbst erlebten, aufstellen. Dagegen haben die islamischen Wirtschaftsspezialisten keine vergleichbaren Möglichkeiten, solange die islamische Wirtschaft noch weit von ihrer Verwirklichung entfernt ist. Sie können in ihrem heutigen Leben keine Erfahrungen mit der islamischen Wirtschaft in der Praxis machen, in deren Licht sie die Art der Gesetzmäßigkeiten, die sich in einem auf der Grundlage des Islam auf gebaute Wirtschaftsleben heranbilden, verstehen könnten.

Die zweite Methode der wissenschaftlichen Darstellung kann jedoch angewandt werden, um einige Merkmale, durch die sich das Wirtschaftsleben in der islamischen Gesellschaft auszeichnen wird, deutlich zu machen, indem man von bestimmten Besonderheiten der islamischen Ideologie ausgeht und deren Auswirkungen in der angenommenen Praxis schlussfolgert, und mit Blick auf diese ideologischen Besonderheiten allgemeine Theorien über den wirtschaftlichen Aspekt der zukünftigen idealen islamischen Gesellschaft aufzustellen. So kann der islamische Gelehrte voraussagen, dass die Interessen des Handels in der islamischen Gesellschaft mit denen der Geldgeber und Bankeigner übereinstimmen werden, weil die Banken in der islamischen Gesellschaft nach dem Prinzip des Kapitalbeteiligungsvertrag [mudaraba] und nicht auf der Grundlage von Zinsen arbeiten, d.h. sie betreiben Geschäfte mit dem Geld ihrer Klienten und teilen die Gewinne entsprechend dem jeweiligen Anteil der Geldgeber auf, so dass schließlich deren finanzielle Lage von dem Gewinn der Geschäfte, die sie finanzieren, abhängen wird, und nicht von den Zinsen, die sie für Darlehen verlangen. Dieses Charakteristikum – die Tatsache der Übereinstimmung von Interessen der Kreditgeber und Geschäftsleute – ist seiner Natur nach ein objektives Phänomen, das der Wissenschaftler voraussagen kann, wenn er davon ausgeht, das in der islamischen Gesellschaft das System der Zinsnahme abgeschafft sein wird. Vom gleichen Ansatzpunkt ausgehend kann ein weiteres Charakteristikum vorausgesagt werden, nämlich dass die islamische Gesellschaft von einem Hauptfaktor für die wirtschaftlichen Krisen, welche die kapitalistische Gesellschaft befallen, verschont bleiben wird: In einer Gesellschaft, die die Zinsnahme praktiziert, werden die Kreisläufe von Produktion und Verbrauch dadurch behindert, dass ein großer Teil des allgemeinen Vermögens gehortet wird, um Zinsgewinne zu erzielen, und so den Bereichen der Produktion und des Konsum entzogen wird; dies führt zur Stagnation eines großen Teils der Produktion von Investitions- und Konsumgütern in der Gesellschaft. Wird jedoch die Gesellschaft auf der Grundlage der islamischen Wirtschaftsordnung aufgebaut, in der jegliche Zinsgeschäfte verboten sind, ebenso wie die Hortung von Bargeld entweder ganz verboten ist oder mit Steuern belegt wird, werden alle Menschen veranlasst, ihr Vermögen im Interesse der Allgemeinheit auszugeben.

Bei dieser Art von wissenschaftlichen Abhandlungen setzen wir also eine gesellschaftliche Realität und eine Wirtschaftsordnung auf einer bestimmten Grundlage voraus und versuchen, diese angenommene Realität und ihre allgemeinen Merkmale herauszufinden und deutlich zu machen, wobei wir uns an den vorgegebenen Prinzipien orientieren. Jedoch errichten uns solche Abhandlungen kein genaues wissenschaftliches und umfassendes Bild von dem Wirtschaftsleben in der islamischen Gesellschaft, solange für die wissenschaftliche Untersuchung noch keine Belege aus der Erfahrung der konkreten Realität gesammelt werden können. Das reale Leben unter einer bestimmten Gesellschaftsordnung weicht oft von den Prognosen ab, die auf der Grundlage von hypothetisch angenommenen Voraussetzungen aufgestellt wurden. Diese Erfahrung machten die kapitalistischen Wirtschaftstheoretiker, die viele ihrer analytischen Theorien auf angenommenen Voraussetzungen aufbauten, und zu Ergebnissen kamen, die zu der von ihnen selbst erlebten Realität im Widerspruch standen, da sich im praktischen Leben eine Anzahl von Faktoren bemerkbar machten, die nicht in die Annahmen miteinbezogen worden waren. Hinzu kommt, dass das spirituelle und geistige Element, oder mit anderen Worten, die allgemeine psychologische Konstitution der islamischen Gesellschaft, bedeutende Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben haben wird, und diese Mentalität hat keinen definierbaren Grad und keine bestimmte Gestalt, die es möglich machen würde, sie im Voraus einzukalkulieren und auf ihrer Basis die verschiedenen Theorien aufzustellen. Eine islamische Wirtschaftswissenschaft kann also erst dann reelle Ergebnisse hervorbringen, wenn die islamische Wirtschaft, mit ihren Wurzeln, ihren charakteristischen Merkmalen und ihren Details, in einem gesellschaftlichen Gebilde konkrete Formen angenommen hat, und wenn dessen wirtschaftliche Phänomene und Erfahrungen systematisch untersucht werden können.

[1] Siehe zu einer vergleichenden Untersuchung der islamischen und kapitalistischen Ideologie in dieser Hinsicht das Buch: “Unsere Philosophie“ [falsafatuna], Einleitung. (Fußnote des Autors)

© seit 2006 - m-haditec GmbH - info@eslam.de