Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Allgemeiner Rahmen der islamischen Wirtschaft

Die Wirtschaftsideologie des Islam unterscheidet sich von den anderen Wirtschaftsideologien, die wir untersuchten[1], durch ihren allgemeinen religiösen Rahmen. Denn im Islam ist die Religion der umfassende Rahmen für alle Ordnungselemente im Leben. Jeden Bereich des Lebens, den der Islam regelt, verquickt er mit der Religion und gestaltet ihn innerhalb eines Rahmens von religiösen Verbindungen des Menschen mit seinem Schöpfer und seinem jenseitigen Schicksal. Es ist dieser Rahmen, der den Islam zum Erfolg befähigt, und ihn in die Lage versetzt, das allgemeine gesunde Funktionieren der menschlichen Gesellschaft zu garantieren, weil diese “sozialen Interessen“ nur mit Hilfe der Religion verwirklicht werden können. Um dies zu verdeutlichen, müssen wir untersuchen, wie der Mensch sein soziales Leben optimal gestalten würde, und in welchem Maße dieses jeweils möglich ist und realisiert werden kann. Dabei werden wir die oben erwähnte Tatsache bestätigt finden, dass die “sozialen Interessen“ des Menschen nur mit Hilfe einer Gesellschaftsordnung gewährleistet und gesichert werden können, die über einen wirklichen religiösen Rahmen verfügen. Wenn wir die Bedürfnisse des Menschen für die Gestaltung seines Lebens untersuchen, können wir diese in zwei Kategorien aufteilen:

Die erste Kategorie umfasst Bedürfnisse des Menschen nach Dingen, die ihm die Natur in seiner Eigenschaft als Einzelwesen zur Verfügung stellt, wie z.B. medizinische Heilmittel. So hat der Mensch ein Interesse daran, sie aus der Natur zu gewinnen, und dieses Interesse hat nichts mit seinen sozialen Beziehungen zu den Anderen zu tun, sondern der Mensch als Wesen, das schädlichen Bakterien ausgesetzt ist, braucht solche Medikamente, ob er für sich allein lebt oder innerhalb einer Gesellschaft mit gegenseitigen Abhängigkeiten.

Die zweite Kategorie umfasst Bedürfnisse des Menschen nach Dingen, die ihm die gesellschaftliche Ordnung in seiner Eigenschaft als soziales Wesen, das mit den Anderen durch soziale Beziehungen verbunden ist, sichert, wie den Vorteil, die Produkte seiner Arbeit mit den Produkten der Anderen austauschen zu können, oder dass ihm die Gesellschaft im Falle seiner Arbeitsunfähigkeit oder erzwungenen Arbeitslosigkeit den Lebensunterhalt sichert.

Wir werden im Folgenden die erste Kategorie als “natürliche Interessen“ und die zweite Kategorie als “soziale Interessen“ bezeichnen. Um seine natürlichen und sozialen Bedürfnisse befriedigen zu können, muss der Mensch beurteilen können, was gut für ihn ist, er muss wissen, wie er das erreichen kann, und motiviert sein, sich darum zu bemühen. So kommt der Mensch z.B. zu Medikamenten gegen die Tuberkulose, wenn er weiß, dass es gegen diese Krankheit Heilmittel gibt, herausfindet, wie diese herzustellen sind, und über die Motivation verfügt, sich die Entdeckung und Herstellung dieser Medikamente zunutze zu machen. Ebenso beruht die Institution des gesicherten Lebensunterhaltes im Falle der Arbeitsunfähigkeit – als soziales Interesse – darauf, dass der Mensch den Vorteil dieser Sicherheit erkennt, weiß, mit welcher Art von Gesetzgebung die es gewährleistet wird, und motiviert ist, die entsprechenden Gesetze zu erlassen und anzuwenden. Es sind also zwei Grundvoraussetzungen, ohne die das Menschengeschlecht nicht zu einer vollkommenen Lebensweise, in der für die natürlichen und sozialen Bedürfnisse gesorgt ist, finden kann: Erstens müssen diese Bedürfnisse (Interessen) und die Art und Weise, sie zu verwirklichen, richtig erkannt werden, und zweitens muss der Antrieb vorhanden sein, diesem Wissen entsprechend zu handeln.

Wenn wir die natürlichen Interessen des Menschen –wie z.B. die Herstellung von Medikamenten zur Behandlung der Tuberkulose – betrachten, bemerken wir, dass die Menschheit mit den Möglichkeiten ausgestattet ist, diese Interessen wahrzunehmen, nämlich durch die geistige Fähigkeit, die Phänomene der Natur zu durchschauen und die darin verborgenen Nutzungsmöglichkeiten zu erkennen. Auch wenn sich diese Fähigkeit nur langsam im Laufe der Zeit entwickelt hat, führt sie doch zu immer weiterer Vervollkommnung durch neue Erkenntnisse und Erfahrungen, und im gleichen Maße begreift der Mensch immer besser, was gut für ihn ist, und erkennt den Nutzen, den er aus der Natur ziehen kann. Neben dieser intellektuellen Fähigkeit besitzen die Menschen eine persönliche Motivation, die sie veranlasst, ihre natürlichen Interessen zu verfolgen, denn diese stimmen mit dem persönlichen Antrieb in jedem Menschen überein. So geschieht es nicht nur im Interesse einzelner Menschen oder zum Nutzen einer bestimmten Gruppe, dass beispielsweise Medikamente aus der Natur gewonnen werden. Die menschliche Gesellschaft bemüht sich immer mehr, die Natur für ihre gemeinsamen Interessen nutzbar zu machen, und zwar durch den persönlichen Antrieb jedes Einzelnen, da alle in gleicher Weise betroffen und sich über die Notwendigkeit dieser Art von Ausnutzung einig sind, die jedem Einzelnen persönlichen Vorteile bringt. So wissen wir, dass der Mensch in besonderer Weise geistig und seelisch derart beschaffen ist, dass er aus der Natur Nutzen ziehen und den “natürlichen“ Bereich seines Lebens durch immer neue Erkenntnisse über das Leben und die Natur vervollkommnen kann.

Die Verwirklichung des Allgemeinwohls hängt ihrerseits – wie bereits erwähnt – ebenfalls davon ab, dass der Mensch die dafür angemessene Gesellschaftsordnung herausfindet, sowie von der psychologischen Motivation, so eine Ordnung aufzubauen und in Kraft zu setzen. In welchem Maße sind nun diese beiden Voraussetzungen für das Allgemeinwohl beim Menschen vorhanden? Besitzt der Mensch die geistige Fähigkeit, das im Interesse der gesamten Gesellschaft Richtige zu erkennen, und die Motivation, dies zu verwirklichen, ebenso wie er seine “natürlichen Interessen“ zu verfolgen weiß?

Was die erste Voraussetzung betrifft, so ist es eine verbreitete Ansicht, dass der Mensch nicht selbstständig in der Lage sei, die Gesellschaftsordnung zu erkennen, die allen seinen sozialen Bedürfnissen gerecht wird und mit seiner allgemeinen Natur und psychologischen Konstitution harmoniert, weil er angeblich nichts schwerer durchschaut, als die soziale Situation mit ihren Einzelheiten und die menschliche Natur in ihrer ganzen Tiefe. Und die Verfechter dieser Ansicht kommen zu der Schlussfolgerung, dass die Gesellschaftsordnung den Menschen von höherer Warte bestimmt werden muss und es ihnen nicht selbst überlassen werden darf, sich eine eigene Ordnung zu geben, solange ihre Erkenntnisfähigkeit begrenzt bleibt und ihnen die geistigen Voraussetzungen fehlen, die Geheimnisse der sozialen Situation ganz zu durchschauen. Auf dieser Grundlage weisen sie die Notwendigkeit der Religion im Leben des Menschen nach, und dass die Menschheit der Gesandten Gottes und Propheten bedürfe, die als einzige in der Lage seien, über die Offenbarung die wahren Bedürfnisse des Menschen im gesellschaftlichen Bereich zu erfassen und dieses Wissen den Menschen zu enthüllen. Unserer Meinung nach stellt sich das Problem jedoch mit größerer Deutlichkeit dar, wenn wir uns mit der zweiten Voraussetzung befassen.

Der Kernpunkt des Problems ist nicht: Wie erfasst der Mensch, was das Beste für die Gemeinschaft ist?[2] Vielmehr ist das Grundproblem: Wie wird der Mensch motiviert, das als richtig erkannte in die Tat umzusetzen und die Gesellschaftsordnung in einer Form zu gestalten, die das Allgemeinwohl garantiert? Dieses Problem entsteht, weil die Interessen der Allgemeinheit meistens nicht mit den persönlichen Motiven übereinstimmen, denn sie stehen oft im Gegensatz zu den individuellen Interessen der Menschen. Die persönliche Motivation, die gewährleistet, dass der einzelne sich für die “natürlichen Interessen“ der Menschheit einsetzt, zeigt hinsichtlich der “sozialen Interessen“ nicht die gleiche Wirkung. Während persönliche Motive den Menschen veranlassen, sich um die Herstellung einer Medizin gegen die Tuberkulose zu bemühen, weil dies im Interesse jedes Einzelnen geschieht, bemerken wir, dass ebendiese persönlichen Antriebe die Verwirklichung vieler Dinge im kollektiven Interesse der Allgemeinheit verhindern und die Etablierung einer Gesellschaftsordnung, die dieses Allgemeinwohl sicherstellt, bereits im Ansatz oder aber in der Praxis hemmen. So widerspricht die Sicherung des Lebensunterhaltes von Arbeitslosen den Interessen der Reichen, weil diese die Kosten dafür zu tragen haben, und die Verstaatlichung von Grund und Boden ist gegen die Interessen derjenigen gerichtet, die Landbesitz für sich selbst monopolisieren. Jedes Interesse der Allgemeinheit wird durch die persönlichen Motive der Individuen, deren Interesse diesem Allgemeinwohl entgegensteht, auf die Probe gestellt. In diesem Licht erkennen wir den grundsätzlichen Unterschied zwischen den “natürlichen Interessen“ und den “sozialen Interessen“. Denn die persönlichen Antriebe der Individuen geraten nicht in Konflikt mit den “natürlichen Interessen“ aller Menschen, sondern fördern sie und motivieren jeden Einzelnen, in diesem Sinne von seinen durch Reflektion gewonnenen Erkenntnissen Gebrauch zu machen. Dadurch hat die Spezies Mensch die Fähigkeit, ihre “natürlichen Interessen“ zu verwirklichen, und zwar stufenweise, je nach dem Grad dieser Fähigkeiten, die sich mit der praktischen Erfahrung weiterentwickeln.

Mit den “so­zia­len Interessen“ verhält es sich umgekehrt, denn die persönlichen Antriebe, die der Eigenliebe des Menschen entspringen, und ihn veranlassen, sein Wohl über das Wohl der Anderen zu stellen, diese Antriebe hindern ihn daran, aufrichtig entsprechend den Ergebnissen seiner Reflektion zu handeln, wenn es um die Verwirklichung der Interessen der Allgemeinheit geht, bzw. um die Schaffung und Durchsetzung einer Gesellschaftsordnung, die das Allgemeinwohl sichert. So wird deutlich, dass das soziale Problem, das die Menschheit an der Vervollkommnung ihres sozialen Zusammenlebens hindert, der zwischen den Interessen der Allgemeinheit und den persönlichen Motiven bestehende Gegensatz ist; und solange der Menschheit nicht die Möglichkeiten gegeben sind, die “sozialen Interessen“ und die grundsätzlichen Antriebe, die jeden Einzelnen beherrschen, miteinander in Einklang zu bringen, kann die Menschheit ihre gesellschaftliche Vollkommenheit nicht erlangen. Worin bestehen nun diese Möglichkeiten? Die Menschheit bedarf einer Triebkraft, die im Sinne der Interessen der gesamten Gemeinschaft wirksam ist, ebenso wie die “natürlichen Interessen“ in der persönlichen Motivation einen Verbündeten finden.

[1] Hierzu äußert sich der Autor unter seinen Ausführungen über den Marxismus und den Kapitalismus in einem Teil dieses Buches, der nicht übersetzt wurde.

[2] Wir haben die Möglichkeit des Menschen, eine bessere Gesellschaftsordnung theoretisch zu entwerfen und die wahren Interessen der Allgemeinheit zu verstehen, ausführlich in unserem Buch “Der Mensch der Gegenwart und die soziale Frage“ untersucht, und dort die Bedeutung der bisherigen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Erfahrungen und deren Wert in diesem Zusammenhang dargelegt. (Die Fußnote stammt vom Autor Ayatollah Sadr.)

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