Zweiundzwanzigstes KapitelPitzunda und seine Ruinen
In großen Städten, auf den Tummelplätzen
des Lebens, wo Tempel und Paläste zu Hunderten stehen, wo sich
Straßen auf Straßen, Häuser auf Häuser und Menschen auf
Menschen drängen, als ob Eines dem Andern keinen Platz gönne,
gehen wir oft mit übersättigtem Blicke an den großartigsten
Gebäuden, an den herrlichsten Denkmälern der Kunst
gleichgültig vorüber, denn wo die Eindrücke so schnell auf
einander folgen, verwischt oder vermindert einer den andern,
und es ist unmöglich, alle klar in uns aufzunehmen und ordnend
festzuhalten.
Begegnen wir aber einem solchen Palaste, einem solchen
Tempel oder Denkmale in der Wildniß, oder in einer Umgebung,
welche nicht verkleinernd noch störend darauf einwirkt,
vielmehr das Große noch größer, das Schöne noch schöner
erscheinen läßt, so ist die Freude, welche wir fühlen,
unbeschreiblich, und der Genuß ein doppelt hoher.
Wir lassen alsdann dem Kunstwerke nicht nur gerechte
Anerkennung widerfahren, sondern sind in der günstigen
Stimmung des Augenblicks noch geneigt, den Gegenstand unserer
Betrachtung zu überschätzen.
Nichts von dem Prosaischen des Lebens, das ähnliche Genüsse
in den Hauptstädten Europa's oft verleidet, stört uns hier in
unserm Anschauen. Kein Wagengerassel und Zurufen der Kutscher
zwingt uns hier, auf die Seite zu springen, um nicht
überfahren zu werden; kein Schwarm vorübereilender Fußgänger
erinnert uns durch unsanftes Stoßen und Drängen, daß wir nicht
allein sind; kein zudringlicher Führer langweilt uns durch
seine Tausende von Malen abgeleierten Geschichten – wir können
uns ruhig und ungestört dem Genusse hingeben, der uns
erwartet, und während das Auge sich weidet an dem Anblick der
Hallen und Säulen, die sich vor uns aufthürmen, steigt der
forschende Geist zurück in das Dunkel vergangener Jahrhunderte
und findet Stoff zu großen und lehrreichen Betrachtungen, und
wo die Blätter der Geschichte unausgefüllt geblieben, ergänzt
die Phantasie das Fehlende, erfüllt das Leere und ruft das
Todte in's Leben zurück, daß wir die Menschen, die einst hier
gehaust, wieder von Geschlecht zu Geschlecht den Blicken
vorüberwandeln sehen. Alle unsere Aufmerksamkeit, all' unsere
Gedanken werden so dem einen Gegenstande zugewandt; daher
kommt es denn wohl, daß solche vereinzelte Bilder meist
lebendiger im Gedächtniß bleiben und angenehmere Erinnerungen
zurücklassen, als wenn sie sich in Masse und in gemischter
Umgebung dem Auge darbieten.
Mir wenigstens ist es immer so ergangen; aber unter allen
Denkmälern der Vergangenheit, die ich auf meinen asiatischen
Wanderungen besucht, hat mir keines einen so dauernden und
großartigen Eindruck zurückgelassen, als die alte Kirche von
Pitzunda.
Nachdem wir unter unsäglichen Anstrengungen unsere Landung
bewerkstelligt und den in den letztverflossenen Jahren sehr
licht gewordenen Hain durchschritten hatten, welcher sich
zwischen dem Meeresgestade und Pitzunda hinzieht (frühere
Reisende sprechen von einem dichten Walde, wovon seitdem wohl
ein großer Theil der Axt des Zimmermanns hat weichen müssen),
und wo riesige Fichten, herrliche Nußbäume, wahrhaft kolossale
Ulmen und Buchen mit einander abwechseln, gelangten wir zu den
Baracken der Militairkolonie, welche den früher beschriebenen
in jeder Beziehung gleicht. Nach Beseitigung der
Pflichtbesuche und kleinen Plackereien, welche die jedesmalige
Ankunft und Abfahrt von einer Festung bedingt, machten wir uns
unverzüglich auf den Weg zur Kirche, deren etwas beschädigte
Kuppel wir schon von ferne durch das dunkle Laubwerk
hervorragen sahen.
Die Kirche liegt nur ein paar hundert Schritte von den
Häusern der Militairkolonie, und der Weg dahin führt über
einen großen, üppig bewachsenen, von alten, ehrwürdigen Bäumen
überschatteten Rasenplatz, welcher einem Garten gleich von
reingehaltenen Fußpfaden durchschnitten und an der einen Seite
mit Bänken und Lauben geschmückt ist. An der andern Seite
befinden sich Schaukeln und Anstalten anderer Art zur
Belustigung und Leibesübung der Soldaten der Garnison. Hinter
diesem Platze dehnen sich die halbzerfallenen Mauern aus, in
deren Mitte die herrliche Kirche liegt, ein Edelstein in
kolossalem Ringe. Ebenfalls im Bereiche der Mauern und
gerade der Kirche gegenüber, ziehen sich die unansehnlichen
hölzernen Gebäude der Kasernen hin.
Lange stand ich in stummer Bewunderung verloren, als ich
die am Eingange stehenden Wachen passirt, das Thor
durchschritten hatte und plötzlich den herrlichen, in
einfachem aber edlem Style erbauten Tempel, diese Perle im
Schlamme der Wildniß, vor mir aufsteigen sah. Die Sonne war
bereits ihrem Untergange nahe, als ich des ersten Anblicks
dieses Prachtgebäudes theilhaftig wurde, und ich mußte daher
meine Zeichnungen und nähern Untersuchungen des Innern bis auf
den folgenden Tag verschieben, aber auch der erste Anblick
schon war ein wahrhaft erhebender. Fernher, durch einige
lichte Stellen der Feigenbäume, Ulmen, Granatbäume und
Hainbuchen erschimmerte im Glanze der untergehenden Sonne die
große Kette des Kaukasus, und der ehrwürdige Tempel selbst,
mit seinem alle Mauern und Dächer umrankenden und
übersteigenden Laubwerke und Blüthenschmucke, kam mir vor wie
ein riesiges Grabmal, auf welches liebevolle Hände in
andächtiger Erinnerung Blumen und Epheu gepflanzt.
Auf der großen, etwas beschädigten Kuppel und dem
zerrissenen Dache der Façade haben sich mit der Zeit förmlich
hängende Gärten gebildet, deren dunkles Grün mit den alten aus
grauen Kalksteinen und rothen Backsteinen seltsam gemischten
Mauern wunderlieblich kontrastirt. Sogar unser sonst nicht
leicht zu rührender Gjül-Bassar war von den großartigen
Formen der schönen Ruine ergriffen, und meinte, das müsse eine
herrliche Moschee abgeben. Bei dem immer noch streitigen und
unsichern Besitze dieses Küstenstriches ist es schwer, die
Zukunft des herrlichen Gebäudes, das
dreizehn Jahrhunderte den Verwüstungen der Zeit und der
Menschen getrotzt hat, zu entscheiden.
Schon seit vielen Jahren gehen die Russen mit dem Plane um,
die Kirche neu herzustellen und Gottesdienst darin halten zu
lassen, was nach meinem Dafürhalten sehr leicht thunlich wäre.
Bis jetzt sind noch keine ernsten Anstalten getroffen; der
General von Wrangel sagte mir jedoch, daß der Kaiser,
welcher sich aus guten Gründen immer großartig bei dergleichen
Unternehmungen zeigt, bereits 200,000 Rubel zur Restauration
des Gebäudes bewilligt habe.
Zu interessanten Betrachtungen über die Stabilität der
griechischen Kirche giebt der Gedanke Anlaß, daß, bei
Wiederbelebung des Tempels von Pitzunda durch die Russen, der
Gottesdienst hier heute genau auf dieselbe Weise, unter
denselben Formen gehalten werden würde, wie vor 1300 Jahren
geschehen; ja ich glaube, die Priester, welche heute die Messe
hier lesen, würden mit ihren weiten, patriarchalischen
Gewändern, mit ihrem langen ehrwürdigen, nie von einer Scheere
berührten Barte und Haupthaar, den Priestern, welche zur Zeit
der Einweihung des Tempels die Messe an diesen Altären
gelesen, zum Verwechseln ähnlich sehen; und wie viel
Geschlechter sind nicht seit jener Zeit Angesichts dieser
Mauern in's Grab gesunken!
Im Innern der Kirche findet man, außer dem zertrümmerten,
marmorüberkleideten Altare und vielen sehr mittelmäßigen, aber
meist gut erhaltenen Freskomalereien, keinen andern Schmuck,
als die Schönheit und das Großartige der Verhältnisse des
Baues.
Die majestätische, von buntverzierten Fenstern mit runden
Scheiben durchleuchtete Kuppel wird von vier riesigen, über
sechzig Fuß hohen Säulen getragen. Hiermit stehen die vier
Haupttheile des Gebäudes in Verbindung, solchergestalt, daß
der von kolossalen Fenstern erleuchtete Chor gegen Morgen, und
das große Schiff gegen Abend liegt. Mit vieler Mühe erstieg
ich die von den engen Seitenwänden getragene Gallerie, von wo
ich mich nach allen Seiten hin einer herrlichen Aussicht
erfreute. In der Mitte der Kirche fanden wir eine Menge
Rüstungen, Metallstücke, Flintenläufe, Panzerhemden und Waffen
aller Art sorgfältig aufgeschichtet; es sind dieses – wie der
uns begleitende Offizier mich belehrte – Weihgeschenke aus
frühern Zeiten, welche die kriegerischen Abchasen, wenn sie
von ihren Streifzügen glücklich heimkehrten und reiche Beute
mitbrachten, der Gottheit opferten. Hart an die Halle stößt
eine mit merkwürdigen griechischen Schriften gezierte kleine
Kapelle, deren Bau augenscheinlich einer späteren Zeit
angehört.
***
Wenn man an einem schönen Frühlingsmorgen die blühenden
Umgebungen von Pitzunda (oder Bitschwinda, wie es die
Eingebornen nennen) durchwandelt, und das Auge an den
mannichfaltigen Naturschönheiten weidet, die uns hier in
üppigster Fülle entgegenlachen, so fällt es schwer, zu
glauben, daß diese scheinbar so gesegnete Küste ein Aufenthalt
des Elends und des Jammers sein soll. Aber leider ist dem so;
die krankhafte Gesichtsfarbe der Soldaten, ihre falben,
eingefallenen Wangen tragen schreckliches Zeugniß davon. Die
Kugeln der Feinde sind hier weniger zu fürchten, als die
Wechsel- und gelben Fieber, Leber- und sonstigen Krankheiten,
welche in Pitzunda wie fast an der ganzen Ostküste des Pontus
ihre Wohnung aufgeschlagen haben, und Verheerungen anstiften,
denen wenige der hier Wohnenden entgehen. Wohl ist das Loos
derer zu bemitleiden, welche ein feindseliges Verhängniß auf
längere Zeit in diese Wildniß geschleudert.
Man darf im Allgemeinen annehmen, daß von den hieher
geschickten Soldaten keiner den Boden seiner Heimath
wiedersieht. Wenn ich alle Nachrichten vergleiche, welche mir
aus verschiedenen Quellen über diesen Gegenstand zugegangen
sind, so stellt sich als Resultat heraus, daß die Besatzung
der Festungen dieser Küste durchschnittlich alle drei Jahre
erneuert werden muß. Zu den hier dienenden untergeordneten
Offizieren nimmt man gewöhnlich solche, welche sich irgend
eines Vergehens schuldig oder verdächtig gemacht haben;
unruhige Köpfe, die das Herz auf der Zunge tragen, liberal
gesinnte Leute, welche nicht leise denken gelernt haben, und
mit der bestehenden Ordnung – oder besser gesagt Unordnung –
der Dinge in Rußland nicht zufrieden sind; junge und alte
Polen der verschiedensten Stände und Ansichten finden hier ein
zweites Vaterland. Es leuchtet ein, daß man unter diesen
Verbannten oft die interessantesten Persönlichkeiten findet,
und keineswegs das Herz der armen Leute nach ihrem
unglücklichen Schicksale beurtheilen darf.
Hier hat schon mancher hoffnungsvolle Jüngling, der in den
Palästen der Hauptstadt aufgewachsen, einsam seinen
fernbeweinten Tod gefunden; wohl mancher Jammerlaut
hoffnungstodter Herzen mischte sich im Grauen der Nacht mit
dem Geheul der unaufhörlich die Küste peitschenden Winde, und
schon mancher lebensmüde Verbannte suchte und fand seinen Tod
in den weißen Wellen des Schwarzen Meeres. Hinsichtlich der
höhern, gewalthabenden Offiziere muß, da so viel von ihnen
abhängt, die Regierung äußerst vorsichtig zu Werke gehen; auch
habe ich unter diesen Herren sehr humane und tüchtige Leute
gefunden.
Bei dem gastfreien Kommandanten von Pitzunda, einem Imerier
von Geburt, fanden wir eine äußerst freundliche Aufnahme und
verfehlten nicht, unsern in letzter Zeit sehr vernachlässigten
Magen an seiner Tafel zu restauriren. Wir besuchten in
Gesellschaft des Kommandanten die in Berücksichtigung der
ungünstigen Verhältnisse trefflich eingerichtete Kaserne, so
wie mehrere Häuser der schon erwähnten Militairkolonie, welche
hier eben so wie in Suchum-Kalé nach Möglichkeit sauber
gehalten sind.
Eine interessante Bekanntschaft machten wir in der Person
der Madame Pépin, oder Frau Hauptmännin Pépin,
wie man in dem titelgesegneten Deutschland sagen muß. Diese
Dame verdiente ihren militairischen Titel eher, als die
meisten ihrer Schwestern; sie ist eine moderne russische
Jeanne d'Arc, deren Name an der ganzen Ostküste des
Schwarzen Meeres mit Respect genannt wird. Schon zu
verschiedenen Malen hat sie sich durch ihre Geistesgegenwart
und Unerschrockenheit in Augenblicken großer Gefahr so
rühmlich hervorgethan, daß der Ruhm ihrer Thaten bis zu den
Ohren des Kaisers gedrungen ist, welcher auch nicht
unterlassen hat, ihr durch Uebersendung eines ehrenvollen
Schreibens und kostbarer Geschenke seine Zufriedenheit und
Anerkennung auszudrücken. Madame Pépin war früher an
den Kommandanten der Festung Sotscha verheirathet,
welcher bei einem nächtlichen Ueberfalle der Tscherkessen das
Leben verlor; eben bei Gelegenheit dieses Ueberfalls soll die
Dame die unläugbarsten Beweise ihres Heldenmuthes gegeben
haben und die Retterin der Festung gewesen sein, indem sie
durch Wort und That die schon wankenden Soldaten zur Ausdauer
anfeuerte, ihren erkalteten Muth wieder belebte, dem Einen
beschämend drohend, dem Andern freundlich zuredend, und sich
selbst inmitten des Donners der Geschütze unerschrocken den
Kugeln der Feinde aussetzend. Eine derselben war ungalant
genug, der Heldenfrau eine Wunde im Arme beizubringen; Madame
ließ sich jedoch dadurch nicht abschrecken, sondern beharrte
ausdauernd im Kampfe, bis der Sieg für die Belagerten
entschieden war. Ich muß hier noch ergänzend bemerken, daß ich
obige Details nicht der Madame Pépin selbst, sondern
verschiedenen Offizieren zu verdanken habe, welche bei der
Belagerung zugegen gewesen sind. Obgleich ich das Vergnügen
hatte, mich längere Zeit mit Madame Pépin zu
unterhalten, so konnte ich doch nur wenig von ihr in Bezug auf
oben erwähnte Begebenheit erfahren. Sie sprach davon, als ob
es etwas ganz Gewöhnliches wäre, und lenkte sofort das
Gespräch auf andere Gegenstände. Ich hatte geglaubt, eine
stämmige, handfeste Frau zu sehen, ein Mannweib, wie man sie
häufig in Rußland, besonders unter den Steppenbewohnern
findet, und war daher nicht wenig erstaunt, eine geschmackvoll
gekleidete, sehr präsentable Person vor mir zu sehen, schlank
von Wuchs, mit sehr feiner Taille, augenscheinlich von etwas
delikater Gesundheit, den Ausdruck ächter Weiblichkeit in dem
blassen Gesichte, gefällig von Manieren und mit einem Paar
durchaus aristokratischer Händchen.