72. Asmai erzählt
Asmai erzählt:
Auf meinem Wege nach der Wüste des Stammes Beni Saad kam
ich nach Bassora in den Tagen der Herrschaft Chaled, des Sohns
Abdallahs Alkapseri. Ich fand den Hof angefüllt mit einer
Menge Volks, die sich um einen Jüngling von schöner edler
Gestalt drängte. Ich fragte, was der Auflauf bedeute, und man
sagte mir, es sei ein Dieb, der die vorige Nacht eingebrochen
habe. Chaled, der Statthalter, heftete die Augen auf ihn mit
Wohlgefallen, befahl dem Haufen abzutreten, um ihn allein
auszuforschen über seine Schuld. Die Sache ist, antwortete der
Jüngling, wie sie sagen, und verhält sich, wie sie es angeben.
– Und was konnte dich denn zu dieser Tat bewegen, dich, dessen
edle schöne Gestalt die Ankläger zu Lügen straft? Die Begierde
nach Reichtum, und das von Gott dem Herrn verhängte Schicksal
brachte mich zum Falle. – Dein Aussehen, deine Sitten, Alles
spricht für dich, und bestärkt mich in der Meinung, dass du
durch irgend einen außerordentlichen Notfall gezwungen worden,
zu außerordentlicher Hülfe Zuflucht zu nehmen. – Suche mich
nicht zu retten, o Fürst, und vollstrecke das Gesetz des
Herrn. Richte mich nach den Werken meiner Hände, Gott der Herr
ist nicht ungerecht mit seinen Dienern. Chaled schwieg lange
nachdenkend, und sagte dann, du bist frey, deine Aussage in
Angesicht der Zeugen umzuändern, denn ich halte dich für
keinen Dieb. Vertraue mir deine Geschichte an, und du darfst
meines Stillschweigens gewiss sein. – Lass dir, o Fürst,
nichts Anderes in den Sinn kommen, als was ich bereits bekannt
und gestanden; ich habe dir nichts Anderes zu vertrauen. Ich
brach in das Haus, man ergriff mich, und schleppte mich vor
dich, um meine verdiente Strafe zu finden. – Chaled befahl der
Wache, ihn zu ergreifen, und ließ den Gerichtsausruf ergehen.
Da schrieen die Ausrufer durch ganz Bassora: »Wer schauen
will, was das Gesetz verhängt über die Diebe, finde sich
morgen am Richtplatz ein, wo die Hand fallen wird, so fremdes
Gut entwendet hat.«
Als der Jüngling in Ketten gelegt war, hörten ihn die
Wächter singen im Kerker:
Chaled wollte mich erschrecken
Mit dem Droh'n, die Hand mir abzuhauen.
Falls ich sollte nicht entdecken,
Was mir Niemand darf im Herzen schäuen,
Mögen sie den Spruch vollstrecken,
Rett' ich nur hierdurch die Ehr' der Frauen! –
Man hinterbrachte die Worte dem Statthalter, und dieser
ließ ihn noch spät Abends zu sich rufen, um sich mit ihm zu
unterhalten. Er fand, dass seine geistige Bildung seiner
Gestalt entsprach, und dass er in allen schönen Künsten
bewandert war.
Junger Mensch, sprach Chaled, ich bin überzeugt, du bist
kein Verbrecher, und es hat mit deinem Diebstahl eine andere
Bewandtnis. Morgen, wenn die Ankläger zum letzten Male
auftreten, und die Richter zum letzten Male sprechen werden,
kannst du noch dich retten, wenn du nur eine wahrscheinliche
Ausflucht vorbringst, welche dem Gesetze ausbeugt; sagt doch
selbst der Prophet: Beugt den Strafgesetzen durch Zweifel aus.
Hierauf sandte er ihn ins Gefängnis zurück.
Am folgenden Morgen versammelte sich ganz Bassora auf dem
Richtplatze, um die Vollstreckung des Urteils zu schauen.
Chaled und die Vornehmsten der Einwohner kamen zu Pferde, die
Richter folgten ihnen auf schön gezäumten Mauleseln. Der
Jüngling ward vorgeführt in Ketten, und kein weibliches[131]
Auge blieb bei seinem Anblick trocken. Rundum erscholl Weinen
und Wehklagen; Chaled sah sich gezwungen, Stille zu gebieten,
und redete dann den Jüngling folgendermaßen an: Diese Leute
klagen dich aus Irrtum an, du habest gestohlen, was sagst du
hierauf? – Ich sage, sie haben Recht, o Fürst! ich brach in
ihr Haus ein, mit dem Vorhaben zu stehlen; – vielleicht hat
dich hiezu ein besonderer Zufall verleitet? – Nichts
Besonderes hat mich verleitet. Vielleicht hast du gerechte
Forderungen an die Eigentümer des Hauses? – Ich habe keine; so
hattest du wenigstens Helfer, die mit dir die Schuld des
Diebstahls teilen? – Mitnichten, ich trage die ganze Schuld
allein. Chaled, erzürnt, gab dem Jüngling eine Ohrfeige, und
rief den Henker, daß er durch das Abhauen der Hand die
gesetzmäßige Strafe vollzöge. Schon lag die Hand ausgestreckt
auf dem Blocke, schon war der Arm des Henkers zum Streiche
gehoben, da brach mit Jammer und Zetergeschrei aus den Reihen
der Frauen ein junges Mädchen hervor. Sie warf den Schleyer
zurück und erschien wie der Vollmond in Regenwolken. Es erhob
sich ein allgemeines Geschrei bei ihrem Anblicke. Halt ein,
halt ein, o Fürst! rief sie, mit der Vollstreckung des
Urteils, halt ein, und lies zuvor diese Bittschrift. Mit
diesen Worten reichte sie ihm ein Papier dar, auf dem die
folgenden Verse geschrieben waren:
Halt Chaled! halt! du bist betrogen,
Es kam von meiner Brauen Bogen
Der Pfeil des Unheils angeflogen;
Lies hier, was sonst verborgen bliebe,
Es machte ihn die reinste Liebe,
Zum Ehrenretter – nicht zum Diebe.
Chaled las die Verse mit Rührung, und ließ das Mädchen
sogleich vor sich kommen, um die ganze Geschichte ausführlich
zu erzählen. Sie gestand, der Jüngling brenne schon seit
langem von Liebe, die sie nicht unerwidert lasse. Vorgestern
habe er sich ins Haus gestohlen, und mit Steinwürfen das
abgeredete Zeichen gegeben. Vater und Brüder hätten es gewahrt
– und sogleich eine Untersuchung vorgenommen. Da der Jüngling
nicht mehr entfliehen konnte, griff er nach einigen Stücken
Zeuges, welche ihm unter die Hände kamen, weil er lieber
wollte als Dieb ergriffen und bestraft werden, als den guten
Namen seiner Geliebten ins Geschrei bringen. Chaled, entzückt
über den hohen Sinn und die edle Großmut des Jünglings, küsste
ihn auf der Stirne, ließ den Vater des Mädchens vorrufen, und
sprach zu ihm: Scheich! ich war nahe daran, an diesem Jüngling
ein ungerechtes Urteil vollstrecken zu lassen. Gott der Herr
hat mich davor bewahret; ich habe ihm zehntausend Dirhems bei
der Schatzkammer angewiesen, und ersuche dich nun um die
Erlaubnis, ihn mit deiner Tochter vermählen zu dürfen. Von
ganzem Herzen, o Fürst, antwortete der Vater des Mädchens.
Chaled dankte ihm dafür, und nahm sogleich die Vermählung vor
mit aller Feierlichkeit und nach der gewohnten Formel:
Ich vermähle dich mit diesem Mädchen nach ihrem und ihres
Vaters Willen; sie bringt dir zehntausend Dirhems mit. Und der
Jüngling antwortete nach Gebrauch: Ich nehme an das Mädchen
zur Frau mit dem genannten Haab' und Gut.
Chaled ließ sogleich das gezählte Geld in silberbernen
Geschirren in das Haus des Jünglings bringen. Ganz Bassora war
im Tumult der Freude. Wo das beglückte Paar vorüberzog,
regnete es Zuckerwerk und Mandeln auf sie aus allen Fenstern,
und der Tag endete eben so freudig, als er traurig begonnen
hatte.