Schuhe ausziehen

Lasst uns unsere Schuhe ausziehen - um den Hass zu überwinden

Dr. Yavuz Özoguz

 

Inhaltsverzeichnis

Erinnert ihr Euch nicht mehr? – Brief an die Altsechziger

Dieser Text ist am 11.11.2004 in den Abschlusstagen des Heiligen Monats Ramadan 1425 (2004) veröffentlicht worden. Der Artikel wurde im Internet zur Kopie frei gestellt und mehrere hundert Mal wiedergegeben.

Viele von uns waren damals noch sehr jung, gingen zur Schule oder standen kurz vor dem Abitur. Auf den Straßen Deutschlands brodelte es. Eine Garde intellektueller Studenten machte einen Aufstand gegen die Gesellschaftsordnung, gegen Heuchelei, gegen Diplomatie auf Kosten von Menschenleben, gegen Unrecht in der Welt, gegen Armut, Hunger und Besatzung. Erinnert ihr Euch nicht mehr?

Einige von Euch lieferten sich Kämpfe mit der Staatsmacht, besetzten Häuser, bewarfen Polizisten - teils lebensgefährlich mit Pflastersteinen[1] - entfachten fürchterliche Straßenschlachten, als ein despotischer Diktator das Land bereiste[2], und leisteten Widerstand gegen jede Form von Unterdrückung, die Ihr zu erkennen glaubtet. Und Ihr hab Euch sehr deutlich gegen die Verstrickung von politischer Macht und Wirtschaft gewehrt! Erinnert ihr Euch nicht mehr?

Die Staatsmacht erklärte Euch zu Verfassungsfeinden, obwohl ihr nie gegen die Verfassung opponiert habt, erklärte Euch zu Gesetzesbrechern, obwohl ihr den Gesetzesbruch der Mächtigen anprangertet, erklärte Euch zu Staatsfeinden und zu Terroristen, obwohl die allermeisten von Euch Terrorismus entschieden ablehnten! Erinnert ihr Euch nicht mehr?

Damals waren die USA in Vietnam eingefallen und überzogen ein ganzes Volk mit den grausamsten Waffen der Zeit. Kuba und Nicaragua waren andere unterdrückte Länder auf Euren Lippen. Und ihr konntet das nicht tatenlos mit ansehen. Deutschland hat die damaligen US-Truppen nicht direkt unterstützt, aber allein die Schweigsamkeit Deutschlands war Euch schon ein Dorn im Auge! Erinnert ihr Euch nicht mehr? Habt Ihr wirklich alles vergessen?

Ihr wart damals das ideale Feindbild. Als “Kommunisten“ wurdet Ihr stigmatisiert, obwohl manche von Euch gar kein kommunistisches Wirtschaftssystem wollten. Das Frauenbild wolltet ihr verändern, weil ihr gegen jede Form der Unterdrückung wart, und die Universitäten wolltet ihr öffnen für die wahre Ausbildung des ganzen Volkes. Aber mit Berufsverboten wurdet Ihr überhäuft, insbesondere, wenn ihr Lehrer werden wolltet! Erinnert ihr Euch nicht mehr?

Dafür habt Ihr sogar Märtyrer unter Euch gehabt, die Ihr verehrt habt. Widerstandskämpfer in der ganzen Welt waren Eure Vorbilder. Das Poster eines Soldatenuniform tragenden Che Guevara hing in Euren Zimmern. Erinnert ihr Euch nicht mehr?

Ihr wart damals jung, aktiv, hattet durchtrainierte Körper und - obwohl einige von Euch aus reichen Elternhäusern stammten - habt ihr das einfache Leben vorgezogen. Ihr wollten Solidarität mit den Entrechteten der Welt. Dafür wart ihr sogar bereit, von den Mächtigen zum Abschaum der Gesellschaft erklärt zu werden, Hauptsache Euer Einsatz war gerecht. Ihr wusstet, dass einige unter Euch über das Ziel hinausschossen und auch Fehler gemacht wurden, aber die Grundidee war wichtig, und Euer Idealismus schien unerschütterlich. Ihr habt neue Begriffe geprägt, wie z.B. das Wort APO[3], das die heutige Jugend kaum noch mehr kennt. Erinnert ihr Euch nicht mehr?

Heute seid ihr älter geworden. Vielen von Euch geht es recht gut. Wo sind Eure Ideale geblieben? Erinnert ihr Euch nicht mehr an sie? Habt ihr sie allesamt vergessen?

Ihr sitzt in Aufsichtsräten, Vorständen großer Konzerne und vor allem auch in der Politik. Ihr kassiert die sicheren Gehälter der Abgeordneten im Bundestag und im europäischen Parlament. Manche von Euch sind sogar Minister und mehr geworden! Ihr seid satt geworden, und die Armut der Welt interessiert Euch nur noch diplomatisch. Ihr seid angepasst und die heutigen “Unangepassten“ fordert ihr auf, sich zu assimilieren. Ihr tragt jetzt auch Krawatte (was ihr einstmals verabscheut habt) und zwingt Kopftuch tragende Frauen, sich zu entblößen und belegt sie sonst mit Berufsverbot!

Die Ursache Eures damaligen Widerstandes gegen Imperialismus, die USA, führen heute weltweit viel mehr Kriege als damals, setzen viel üblere Waffen ein, töten viel mehr Zivilisten, begehen viel mehr und viel offener Verbrechen jeglicher Art, und ihr nennt die USA jetzt Euren Freund, dem man helfen muss. Von Guantanamo und Abu Ghuraib habt ihr gehört, aber es hatte keine Auswirkung auf Eure Denkweise! Das souveräne Land Irak wird tagtäglich ins Mittelalter gebombt, und dabei werden sogar Chemiewaffen eingesetzt, und ihr nennt es verharmlosend “Abenteuer“, an dem ihr nicht mitmachen wollt, um tags darauf den Kriegsverbrechern die Hand zu küssen.

Die israelische Besatzung ist viel schlimmer geworden als zu Euer Widerstandszeit, immerzu werden auch Kinder erschossen, ein zusammenhängender Staat namens Palästina ist unmöglich geworden, aber ihr nennt jetzt jeden Kritiker des zionistischen Regimes “Antisemit“ und gebt einem der schlimmsten Völkerrechtsverbrecher unserer Zeit namens Sharon[4] bereitwillig die Hand und reicht Euch gegenseitig die Türklinke seiner Tür! Ihr wart einstmals gegen Mauern und zeigt jetzt “Verständnis“ für die schlimmste Mauer unserer Zeit in Palästina! Ihr redet von “Menschrechten“ und “Freiheit und Demokratie“ und habe diese Begriffe in dem größten Teil der Welt für ein Synonym jeglicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden lassen! Das Wort Gerechtigkeit habt Ihr aus eurem Gedächtnis gestrichen.

Heute steht Ihr auf der Seite der Unterdrücker! Heute seid Ihr die Garanten des Unrechts im Inneren und in der Außenpolitik. Heute seid Ihr mit der Wirtschaftsmacht derart verstrickt, dass Ihr das Leid der Unterdrückten in der Welt gar nicht mehr sehen könnt. Heute versteckt Ihr eure Unterwerfung unter den Weltimperialismus mit Begriffen wie “Realpolitik“. Und heute seid Ihr es, die diejenigen, die sich gegen das Unrecht wehren, stigmatisieren!

Wir[5] haben keine Polizisten mit Steinen beworfen und wir fordern dazu auf, die Gesetze einzuhalten, aber ihr jagt Eure gesamte Polizeimacht gegen unsere Moscheen und lasst alle 2500 überprüfen, ganz ohne Anhaltspunkte, nur weil es die Gotteshäuser der Muslime sind! Wollt Ihr Eure damaligen Peiniger übertreffen?

Wir haben uns immer vom Terrorismus losgesagt und zweifelsfrei davon distanziert (was Ihr damals nicht so klar getan habt!), und die einzelnen Verbrecher unter Muslimen sind viel weniger, als sie in Euren Reihen waren. Dennoch unterliegen wir dem Generalverdacht Eures Staatsapparates. Wollt Ihr Eure damaligen Peiniger übertreffen?

Wir haben nie gegen die Verfassung gewettert und alle unsere Anhänger zur Einhaltung der Verfassung und der Gesetze aufgerufen. Dennoch erklärt ihr uns aufgrund unseres Glaubens zu Verfassungsfeinden. Wollt Ihr Eure damaligen Peiniger übertreffen?

Wir haben unser Menschenbild und Weltbild immer nur für uns vertreten und nie andere dazu aufgefordert, unseren Idealen zu folgen (wie es damals Eure Art war), und dennoch behauptet Ihr, wir würden die Gesellschaft unterwandern und zur Gefahr werden. Wollt Ihr Eure damaligen Peiniger übertreffen?

Zugegeben, auch wir würdigen Widerstandskämpfer der Welt, haben aber immer klar gestellt, dass das nur für berechtigten Widerstand gegen Besatzung gilt. Dafür wollt Ihr uns zu Unterstützern von Terroristen abstempeln. Wollt Ihr Eure damaligen Peiniger übertreffen?

Habt Ihr denn gar keine Ideale mehr? Sind alle Eure Ideale in einem vollgefressenen Bauch versackt, mit dem es schwer fällt, aufzustehen? Wollt ihr Euch nur noch “diplomatisch“ gegen den Weltimperialismus wehren? Sind Euch die 30000 Hungertoten an jedem Tag des Herrn gleichgültig geworden, da ihr nun an den Tischen der Konzerne speisen dürft?

Sind Euch die mehrfach über Faludja[6] abgeworfenen Phosphorgranaten der USA gleichgültig geworden, weil ihr Euch gerne von Mächtigen schmeicheln lasst? Sind Euch Guantanamo und Abu Ghuraib gleichgültig geworden, weil Ihr genau wisst, wer der Hauptverantwortliche dafür ist, und Ihr Euch nicht mit allzu Mächtigen anlegt?

Sind Euch die Kinder Palästinas und die tagtäglich von Besatzung und so genannten Siedlern schikanierten Frauen und gebrechlichen Alten gleichgültig geworden, weil ihr lieber mit allen möglichen Preisen überhäuft werdet? Sind euch Frieden und Gerechtigkeit gleichgültig geworden, weil ihr keine Rechenschaft ablegen wollt für den Unfrieden und die Ungerechtigkeit, die Ihr verbreitet?

Weltweit werden heute nicht mehr die Kommunisten, sondern die Muslime gejagt, und Ihr seid jetzt unter den Jägern, ohne mit der Wimper zu zucken. Einige unter Euch heizen die Jagd sogar noch mit an. Und Ihr traut Euch nicht im Geringsten, Euch auf die Seite des heutigen Feinbildes zu stellen. Ist Euch jegliches Verantwortungsgefühl für die Unterdrückten abhanden gekommen, weil Ihr jetzt Verantwortung für die Machthaber pflegt?[7]

Aber es wird der Tag kommen, an dem die Entrechteten ihre Rechte einfordern werden. Daran glauben alle Menschen in ihren tiefsten Herzen, falls sie ihr eigenes Herz nicht zu sehr verdunkelt haben. Erinnert ihr Euch nicht mehr?

Ihr habt ganz offensichtlich Eure Hoffnung verloren und erinnert Euch nicht mehr, aber uns könnt Ihr unsere Hoffnung niemals nehmen - so Gott will - und wir werden uns immer für die Gerechtigkeit einsetzen, selbst wenn Euer Machtgehabe noch martialischer wird!

Denn unsere Hoffnung beruht auf Wahrheit – ein Wort, dass Ihr am liebsten wohl abschaffen wollt. Unsere Hoffnung beruht auf der und vom Schöpfer anvertrauten Verantwortung für die Unterdrückten und Entrechteten – Menschen, die Ihr schon lange nicht mehr kennt. Unsere Hoffnung beruht auf der Gerechtigkeit im ewigen Leben – ein Leben, dessen Existenz Ihr vergessen habt, weil Ihr Euch vor Friedhöfen fürchtet. Unsere Hoffnung könnt Ihr uns nicht nehmen, auch wenn es anderen gelungen ist, Euch Eure Hoffnung zu nehmen. Selbst wenn Ihr tatenlos zuseht, wie die ganze Welt zerstört wird, unsere Herzen liegen nicht in Eurem Macht- oder Einflussbereich!

Einstmals wurdet auch Ihr dafür geschaffen, das Glück im Herzen anzustreben. Erinnert ihr Euch nicht mehr?

Wir erinnern uns! Und Ihr könnt uns weder unsere Erinnerungen noch unsere Ideale nehmen!

[1] Joschka Fischer war zur Zeit des Artikels Außenminister der Bundesrepublik Deutschland

[2] Besuch des damaligen Schah von Persien in Berlin

[3] Außerparlamentarische Opposition

[4] Sharon war damals Ministerpräsident Israels

[5] Gemeint sind deutsche Muslime

[6] Stadt im Irak

[7] Als dieser Brief verfasst wurde, befand sich die Partei der Grünen an der Regierung und vertrat andere Positionen als später in der Opposition.

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