Gott und die Welt

Gott und die Welt

 Ayatollah Beheschti

Ist Gott sichtbar?

Im Vers 6:102 lesen wir dazu:

„Blicke können ihn nicht erreichen, Er aber erreicht die Blicke. Und Er ist der Unergründliche, der Allkundige.

(Heiliger Qur´an 6:103)

Der Gelehrte Allama Hilli schreibt in seinem Werk „Kaschf-ul-Murad“ (Die Enthüllung des Ersehnten): „Ein durch sich selbst existentes Wesen schließt aus, dass es zu sehen ist.“ [1]

Er führt weiter aus: „Die meisten Gelehrten sind der Überzeugung, dass Gott unsichtbar ist; nur jene, die sich Gott gegenständlich vorstellen, sind gegensätzlicher Meinung. Die Asch’ariten[2] sind der Meinung, dass Gott zu sehen ist, obwohl er kein Ding und aus Materie ist...“ [3]

Al-Aschari schreibt in seinem Buch “Maqalat al-Islamiyun“ über die “Sichtbarkeit Gottes“: „Darüber, dass Gott mit dem Auge zu sehen ist oder nicht, gibt es neunzehn verschiedene Meinungen: Die einen behaupten, wir könnten schon im Diesseits Gott mit dem Auge sehen, vielleicht erscheint Er uns in Gestalt von Personen, denen wir in unserem Leben begegnen. Manche glauben, dass sich uns Gott gar in Gegenständen sichtbar machen kann. Wenn sie einen Menschen treffen, der ihnen Freude bereitet, nehmen sie an, dass sich in ihm gar Gott verbirgt. Viele von jenen, die glauben, dass Gott auf Erden zu sehen ist, meinen, dass man Gott gar anfassen und die Hand geben kann; dass Er den Menschen gar aufsucht. (Sehr wahrscheinlich haben diese Behauptungen ihren Ursprung in der Thora, denn im ersten und zweiten Buch Moses ist wiederholt davon die Rede, dass Gott Abraham, Jakob usw. aufsucht.)[4] Von einer anderen Gruppe wird berichtet, dass sie der Überzeugung sind, dass Menschen, die reinen Gewissens sind, jederzeit Gott begegnen können, im Diesseits wie im Jenseits. Von den Anhängern des Abdulwahid ibn Zaid.[5] wird zitiert, dass sie glauben, dass Gott für jedermann nach Ausmaß seiner Taten zu sehen ist. Wessen Taten besser sind, der werde Gott deutlicher sehen. Wieder andere behaupten, dass wir Gott im Traum sehen, aber im wachen Zustand nicht sehen können. Es gibt viele Menschen, die sich von all den genannten Behauptungen distanzieren und meinen, dass Gott nur im Jenseits zu sehen ist. [6]

Al-Aschari führt im letzten Teil des ersten Bandes in einem gesonderten Kapitel über die “Anhänger der Hadith und die Sunniten“ aus: „Sie behaupten, dass Gott am Tag der Auferstehung für alle Gläubigen mit der Deutlichkeit des Vollmondes am 14. jeden Monats gesehen werden kann, während die Ungläubigen ihn nicht sehen. Denn zwischen ihnen und Gott ist ein Schleier. Sie begründen ihre Auffassung mit dem Qur´an-Vers: „Nein, sie werden an jenem Tag gewiss von ihrem Herrn getrennt sein.“ [7] Moses bat Gott, Ihn auf Erden sehen zu können. Gott ließ ihn einen Berg sehen und ließ ihn auseinanderklaffen, um ihn wissen zu lassen, dass Er ihn im Diesseits nicht sehen kann, schon aber im Jenseits.“ [8]

Diese Aussagen sind es, die Al-Aschari macht und an die er glaubt und über die sich Allama Hilli wundert; denn wenn Gott, wie Al-Aschari selbst gesteht, nicht gegenständlich ist, dann ist Er auch nicht zu sehen, weder im Diesseits noch im Jenseits.

Wie kommt es zu dieser Behauptung? Wenn man alle diese Aussagen erforscht, kommt man zu dem Eindruck, dass solche Personen und Gruppen, die im “Maqhalat-al-lslamiyun“ und an anderen Stellen erwähnt werden, ihre Schlussfolgerungen aus islamischen wie nichtislamischen Quellen beziehen, auch wenn sie in ihren Schriften ausdrücklich betonen, dass diese zum Verständnis des Islam unbedingt notwendig sind. Wie aus ihren Schriften zu ersehen ist, sind es in erster Linie gewisse Stellen aus dem Heiligen Qur´an zum Tag der Auferstehung, die sie zu oben genannten Aussagen verleiten:

„Er ist es, Der euch segnet und Seine Engel beten für euch, dass Er euch aus den Finsternissen zum Licht führe. Und Er ist barmherzig gegen die Gläubigen. Ihr Gruß an dem Tage, da sie Ihm begegnen, wird sein: “Frieden“ und Er hat für sie einen ehrenvollen Lohn bereitet.“ (Heiliger Qur´an 33:43-44)

Es gibt viele weitere Verse des Heiligen Qur´an, die die Begegnung des Menschen mit Gott am Tag des Jüngsten Gerichts zum Inhalt haben, wie z.B.: Heiliger Qur´an 2:46, 2:223, 2:249; 6:31, 6:154, 9:77; 10:7, 10:11, 10:15, 10:45, 11:29, 18:105, 18:110, 25:21, 29:5, 29:23; 30:8, 32:10, 32:25, wobei das Thema unter jeweils unterschiedlichem Gesichtspunkt behandelt wird. An einer Qur´an-Stelle lesen wir dazu:

„Oh Mensch, du mühst dich hart um deinen Herrn, so sollst du Ihm begegnen.“ (Heiliger Qur´an 84:6)

Die Asch’ariten und einige andere wollen darin einen Hinweis auf eine Begegnung von Auge zu Auge sehen und fühlen sich in ihrer Auslegung durch folgende Verse bestätigt:

„Manche Gesichter werden an jenem Tage leuchtend sein und zu ihrem Herrn schauen.“ (Heiliger Qur´an 75:22-23)

Will man den Vers separat vom Kontext betrachten, kann man in der Tat zu dieser Überzeugung kommen. Nun gibt es aber im Qur´an konkrete Hinweise zu diesem Thema wie in den Versen 7:143 und 6:103: Da viele Menschen nicht wahrhaben wollen, was sie nicht mit ihren fünf Sinneswahrnehmungen erfassen können, waren die Propheten von jeher gefordert, Gott “von Angesicht zu Angesicht“ erscheinen zu lassen, damit sie an Ihn glauben:

„Und gedenket der Zeit, da ihr spracht: „Oh Moses, wir wollen dir auf keine Weise glauben, ehe wir nicht Allah von Angesicht zu Angesicht schauen.“ (Heiliger Qur´an 2:55)

Moses fühlte sich so sehr bedrängt, dass er sich schließlich folgendermaßen an Gott wandte:

„Und als Moses zu Unserem Stelldichein kam und sein Herr zu ihm redete, da sprach er: „Mein Herr, zeige Dich mir, auf dass ich Dich schauen mag.“ Er antwortete: „Nimmer siehst du mich, doch blicke auf den Berg; wenn er unverrückt an seinem Ort bleibt, dann sollst du Mich schauen.“ Als sein Herr Sich auf den Berg offenbarte, da brach Er diesen in Stücke und Moses stürzte ohnmächtig nieder. Und als er zu sich kam, sprach Er: „Heilig bist Du, ich bekehre mich zu Dir und ich bin der erste der Gläubigen“.“ (Heiliger Qur´an 7:143)

Auch die Araber hatten diese Forderung an den Propheten gestellt, dass er ihnen Gott erkenntlich zeige, damit sie glauben würden:

„Und sie sprachen: „Wir werden dir nimmermehr glauben, bis du uns einen Quell aus der Erde hervorbrechen lässt“.“

(Heiliger Qur´an 17:90)

„Und diejenigen, die nicht auf die Begegnung mit uns harren, sprechen: “Warum werden nicht Engel zu uns hernieder gesandt? Oder wir sollten unseren Herrn schauen.“ Wahrlich sie denken zu hoch von sich und haben die Schranken arg überschritten. Am Tage, wenn sie die Engel sehen: Keine frohe Botschaft für die Schuldigen an dem Tage! Und sie werden sprechen: „Das sei ferne“.“ (Heiliger Qur´an 25:21-22)

In den Versen wird deutlich, dass die Forderung einiger Zeitgenossen des Propheten Muhammads (s.), Gott von Angesicht zu Angesicht zu schauen, als Zeichen des Unglaubens bewertet und als solches verworfen wird. Daher auch der Hinweis auf die Engel, denen jene am Tage des Jüngsten Gerichts begegnen werden, von denen sie sich aber wünschten, weit entfernt zu sein, da sie ihnen nichts Gutes zu verkünden haben würden. Der Vers 104 der Sure Al-Anam[9] ist noch eindeutiger in seiner Ausdrucksweise:

„Blicke können Ihn nicht erreichen. Er aber erreicht die Blicke. Und Er ist der Gütige, der Allkundige.“ (Heiliger Qur´an 6:103)

Was ist dann aber mit Begegnung gemeint? Möglicherweise soll damit ausgedrückt werden, dass es am Tage des Jüngsten Gerichts keine Zweifel darüber geben kann, ob es Gott gibt oder nicht. Es ist, als wenn sich der Mensch seinem Herrgott gegenüber wiederfindet.

[1] Allama Hilli, “Kaschf-ul-Murad“, Seite 182

[2] Die Aschariyya ist eine frühe philosophische Schule unter Muslimen und benannt nach seinem Gründer den Theologen Abul-Hasan al-Aschari (ca. 873- 935 n.Chr.). Gemäß der Aschariyya unterliegt jeder Atemzug und jede Atombewegung unmittelbar Allahs Willen und jegliche Vorstellung von Freiheit wie auch Ursache-Wirkungs-Prinzipien außer Allah als einzige Ursache sind lediglich Illusionen. Demnach kann Allah willkürlich entscheiden, wen er in die Hölle schickt und wen ins Paradies und ist auch an keine Gerechtigkeit gebunden. Spätere Gewaltherrscher aller Richtungen und Dynastien förderten die Verbreitung der Aschariyya, da sie ihre eigene Gewaltherrschaft somit direkt Allahs Willen zuordnen konnten und die Unterdrückung der eigenen Untergebenen auch.

[3] Allama Hilli, “Kaschf-ul-Murad“, Seite 182-184

[4] Einschub von Ayatollah Beheschti an dieser Stelle

[5] Abdul Waahid in Zaid Abul Fadhl (793 n.Chr. gestorben) war ein Schüler Abu Hanifas

[6] Maqalat-al-Islamiyun, Dschim 1:263

[7] Heiliger Qur´an 83:16

[8] Maqalat-ul-Salamin, Dschim 1:321-322

[9] Die sechste Sure des Heiligen Qur´an

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