Ist Gott sichtbar?
Im Vers 6:102 lesen wir dazu:
„Blicke können ihn nicht erreichen, Er
aber erreicht die Blicke. Und Er ist der Unergründliche, der
Allkundige.“
(Heiliger Qur´an 6:103)
Der Gelehrte Allama Hilli schreibt in
seinem Werk „Kaschf-ul-Murad“ (Die Enthüllung des Ersehnten):
„Ein durch sich selbst existentes Wesen schließt aus, dass
es zu sehen ist.“
Er führt weiter aus: „Die meisten
Gelehrten sind der Überzeugung, dass Gott unsichtbar ist; nur
jene, die sich Gott gegenständlich vorstellen, sind
gegensätzlicher Meinung. Die Asch’ariten
sind der Meinung, dass Gott zu sehen ist, obwohl er kein Ding
und aus Materie ist...“
Al-Aschari schreibt in seinem Buch
“Maqalat al-Islamiyun“ über die “Sichtbarkeit Gottes“:
„Darüber, dass Gott mit dem Auge zu sehen ist oder nicht, gibt
es neunzehn verschiedene Meinungen: Die einen behaupten, wir
könnten schon im Diesseits Gott mit dem Auge sehen, vielleicht
erscheint Er uns in Gestalt von Personen, denen wir in unserem
Leben begegnen. Manche glauben, dass sich uns Gott gar in
Gegenständen sichtbar machen kann. Wenn sie einen Menschen
treffen, der ihnen Freude bereitet, nehmen sie an, dass sich
in ihm gar Gott verbirgt. Viele von jenen, die glauben, dass
Gott auf Erden zu sehen ist, meinen, dass man Gott gar
anfassen und die Hand geben kann; dass Er den Menschen gar
aufsucht. (Sehr wahrscheinlich haben diese Behauptungen
ihren Ursprung in der Thora, denn im ersten und zweiten Buch
Moses ist wiederholt davon die Rede, dass Gott Abraham, Jakob
usw. aufsucht.)
Von einer anderen Gruppe wird berichtet, dass sie der
Überzeugung sind, dass Menschen, die reinen Gewissens sind,
jederzeit Gott begegnen können, im Diesseits wie im Jenseits.
Von den Anhängern des Abdulwahid ibn Zaid.
wird zitiert, dass sie glauben, dass Gott für jedermann nach
Ausmaß seiner Taten zu sehen ist. Wessen Taten besser sind,
der werde Gott deutlicher sehen. Wieder andere behaupten, dass
wir Gott im Traum sehen, aber im wachen Zustand nicht sehen
können. Es gibt viele Menschen, die sich von all den genannten
Behauptungen distanzieren und meinen, dass Gott nur im
Jenseits zu sehen ist.
Al-Aschari führt im letzten Teil des
ersten Bandes in einem gesonderten Kapitel über die “Anhänger
der Hadith und die Sunniten“ aus: „Sie behaupten, dass Gott
am Tag der Auferstehung für alle Gläubigen mit der
Deutlichkeit des Vollmondes am 14. jeden Monats gesehen werden
kann, während die Ungläubigen ihn nicht sehen. Denn zwischen
ihnen und Gott ist ein Schleier. Sie begründen ihre Auffassung
mit dem Qur´an-Vers: „Nein, sie werden an jenem Tag gewiss von
ihrem Herrn getrennt sein.“
Moses bat Gott, Ihn auf Erden sehen zu können. Gott ließ ihn
einen Berg sehen und ließ ihn auseinanderklaffen, um ihn
wissen zu lassen, dass Er ihn im Diesseits nicht sehen kann,
schon aber im Jenseits.“
Diese Aussagen sind es, die Al-Aschari
macht und an die er glaubt und über die sich Allama Hilli
wundert; denn wenn Gott, wie Al-Aschari selbst gesteht, nicht
gegenständlich ist, dann ist Er auch nicht zu sehen, weder im
Diesseits noch im Jenseits.
Wie kommt es zu dieser Behauptung? Wenn
man alle diese Aussagen erforscht, kommt man zu dem Eindruck,
dass solche Personen und Gruppen, die im
“Maqhalat-al-lslamiyun“ und an anderen Stellen erwähnt werden,
ihre Schlussfolgerungen aus islamischen wie nichtislamischen
Quellen beziehen, auch wenn sie in ihren Schriften
ausdrücklich betonen, dass diese zum Verständnis des Islam
unbedingt notwendig sind. Wie aus ihren Schriften zu ersehen
ist, sind es in erster Linie gewisse Stellen aus dem Heiligen
Qur´an zum Tag der Auferstehung, die sie zu oben genannten
Aussagen verleiten:
„Er ist es, Der euch segnet und Seine
Engel beten für euch, dass Er euch aus den Finsternissen zum
Licht führe. Und Er ist barmherzig gegen die Gläubigen. Ihr
Gruß an dem Tage, da sie Ihm begegnen, wird sein: “Frieden“
und Er hat für sie einen ehrenvollen Lohn bereitet.“
(Heiliger Qur´an 33:43-44)
Es gibt viele weitere Verse des Heiligen
Qur´an, die die Begegnung des Menschen mit Gott am Tag des
Jüngsten Gerichts zum Inhalt haben, wie z.B.: Heiliger Qur´an
2:46, 2:223, 2:249; 6:31, 6:154, 9:77; 10:7, 10:11, 10:15,
10:45, 11:29, 18:105, 18:110, 25:21, 29:5, 29:23; 30:8, 32:10,
32:25, wobei das Thema unter jeweils unterschiedlichem
Gesichtspunkt behandelt wird. An einer Qur´an-Stelle lesen wir
dazu:
„Oh Mensch, du mühst dich hart um
deinen Herrn, so sollst du Ihm begegnen.“ (Heiliger Qur´an
84:6)
Die Asch’ariten und einige andere wollen
darin einen Hinweis auf eine Begegnung von Auge zu Auge sehen
und fühlen sich in ihrer Auslegung durch folgende Verse
bestätigt:
„Manche Gesichter werden an jenem Tage
leuchtend sein und zu ihrem Herrn schauen.“ (Heiliger
Qur´an 75:22-23)
Will man den Vers separat vom Kontext
betrachten, kann man in der Tat zu dieser Überzeugung kommen.
Nun gibt es aber im Qur´an konkrete Hinweise zu diesem Thema
wie in den Versen 7:143 und 6:103: Da viele Menschen nicht
wahrhaben wollen, was sie nicht mit ihren fünf
Sinneswahrnehmungen erfassen können, waren die Propheten von
jeher gefordert, Gott “von Angesicht zu Angesicht“ erscheinen
zu lassen, damit sie an Ihn glauben:
„Und gedenket der Zeit, da ihr
spracht: „Oh Moses, wir wollen dir auf keine Weise glauben,
ehe wir nicht Allah von Angesicht zu Angesicht schauen.“
(Heiliger Qur´an 2:55)
Moses fühlte sich so sehr bedrängt, dass
er sich schließlich folgendermaßen an Gott wandte:
„Und als Moses zu Unserem Stelldichein
kam und sein Herr zu ihm redete, da sprach er: „Mein Herr,
zeige Dich mir, auf dass ich Dich schauen mag.“ Er antwortete:
„Nimmer siehst du mich, doch blicke auf den Berg; wenn er
unverrückt an seinem Ort bleibt, dann sollst du Mich schauen.“
Als sein Herr Sich auf den Berg offenbarte, da brach Er diesen
in Stücke und Moses stürzte ohnmächtig nieder. Und als er zu
sich kam, sprach Er: „Heilig bist Du, ich bekehre mich zu Dir
und ich bin der erste der Gläubigen“.“ (Heiliger Qur´an
7:143)
Auch die Araber hatten diese Forderung an
den Propheten gestellt, dass er ihnen Gott erkenntlich zeige,
damit sie glauben würden:
„Und sie sprachen: „Wir werden dir
nimmermehr glauben, bis du uns einen Quell aus der Erde
hervorbrechen lässt“.“
(Heiliger Qur´an 17:90)
„Und diejenigen, die nicht auf die
Begegnung mit uns harren, sprechen: “Warum werden nicht Engel
zu uns hernieder gesandt? Oder wir sollten unseren Herrn
schauen.“ Wahrlich sie denken zu hoch von sich und haben die
Schranken arg überschritten. Am Tage, wenn sie die Engel
sehen: Keine frohe Botschaft für die Schuldigen an dem Tage!
Und sie werden sprechen: „Das sei ferne“.“ (Heiliger
Qur´an 25:21-22)
In den Versen wird deutlich, dass die
Forderung einiger Zeitgenossen des Propheten Muhammads (s.),
Gott von Angesicht zu Angesicht zu schauen, als Zeichen des
Unglaubens bewertet und als solches verworfen wird. Daher auch
der Hinweis auf die Engel, denen jene am Tage des Jüngsten
Gerichts begegnen werden, von denen sie sich aber wünschten,
weit entfernt zu sein, da sie ihnen nichts Gutes zu verkünden
haben würden. Der Vers 104 der Sure Al-Anam
ist noch eindeutiger in seiner Ausdrucksweise:
„Blicke können Ihn nicht erreichen. Er
aber erreicht die Blicke. Und Er ist der Gütige, der
Allkundige.“ (Heiliger Qur´an 6:103)
Was ist dann aber mit Begegnung gemeint?
Möglicherweise soll damit ausgedrückt werden, dass es am Tage
des Jüngsten Gerichts keine Zweifel darüber geben kann, ob es
Gott gibt oder nicht. Es ist, als wenn sich der Mensch seinem
Herrgott gegenüber wiederfindet.