Gott und die Welt

Gott und die Welt

 Ayatollah Beheschti

Die Gedanken des Ibn Sina (Avicenna)

Ibn Sina[1] führt in seinem wahrscheinlich letzten philosophischen Werk “Ischarat wa Tanbihat“ (Zeichen und Ermahnungen) eine ganz neue Formulierung ein. Anstatt sich mit den “Ursprüngen der Natur“ auseinanderzusetzen, spricht er vom “Sein“ und von “den Ursachen des Seins“: „Ein Wesen ist (von seiner Existenz her) entweder notwendig [wadschib] oder möglich [mumkin]. Ein mögliches Wesen muss notgedrungen aus einem Wesen außerhalb seiner Existenz hervorgegangen sein. Wenn dieses Wesen nun von seiner Essenz her die Notwendigkeit seiner Existenz in sich trägt (wadschib-ul-wudschud), dann ist es selber Ursprung und Schöpfer. Stellt es eine “mögliche Existenz“ (mumkin-ul-wudschud) dar, dann ist es aus einem anderen Wesen hervorgegangen. Wenn wir nun diese Kette unendlich fortsetzen würden, dann existierte keines der in dieser langen Kette angenommenen Wesen in Wirklichkeit. Denn die Existenz jedes mit dem nächsten verflochtenen Gliedes der Kette ist von der Existenz des vorhergegangenen Gliedes abhängig. Sollte sich diese Abhängigkeit auch unendlich fortsetzen, so würde sich an der Existenz der Abhängigkeit nichts ändern.“[2]

An einem Beispiel können die Ausführungen Ibn Sinas verständlicher gemacht werden: Nehmen wir an, ein großer Stein mitten auf einer Straße versperrte den Durchgang. Nun kann sich dieser Stein nicht von selber bewegen. Der erste Passant sieht die versperrte Straße vor sich und will auf eine zweite Person warten, um mit ihr den Stein fortzutragen. Der zweite Passant aber will lieber auf einen dritten warten, um das Hindernis zu dritt fortzutragen. Der nächste Passant würde wiederum auf den vierten warten usw. Der Stein könnte erst dann aus dem Weg geräumt werden, wenn sich jemand bereit finden würde, unabhängig von dem nächsten, den Stein alleine oder gemeinsam mit den vorangegangenen fortzutragen.

Ibn Sina argumentiert weiter: „Bevor wir nicht auf eine Ursache gestoßen sind, deren Existenz aus sich selbst besteht und die von anderen Existenzen unabhängig ist, wird kein Glied unserer Kette Wirklichkeit werden. Wir müssen daher zu einem Wesen gelangen, das durch sich selbst Wirklichkeit oder mit anderen Worten “Wadschib-ul-Wudschud“ (zwingend aus sich selbst bestehend) ist. Erst dann hat das Sein einen Anfang und schenkt im Laufe der Entwicklung jedem einzelnen Glied der Daseinskette sein Dasein. Erst dank jener unabhängigen Existenz, die keine Einschränkungen, kein “Wenn und Aber“ kennt, bekommt alles Wirklichkeit.“

Ibn Sina gelangt also nicht über die Suche nach den Ursachen und Ursprüngen der Natur, sondern durch die Frage nach der „möglichen oder notwendigen“ Existenz zu einer notwendigerweise aus sich selbst bestehenden Essenz. Über die Frage nach den Abhängigkeiten der “möglichen“ [mumkin] von der “notwendigen“ Existenz [wadschib] kommt er zum absolut Seienden.

Ibn Sina widmet sich dann Themen wie Einheit, Wissen und anderen notwendigen Eigenschaften des Schöpfers. Er führt aus, dass der Beweis des absolut Seienden schlagkräftiger sei, weil wir über das eigentliche Dasein nachdächten und uns von diesem inspirieren ließen, als wenn wir über die Phänomene zum absoluten Wahren gelangten. Schon im Heiligen Qur´an wird auf diese Betrachtungsweise hingewiesen:

„Bald werden wir ihnen Unsere Zeichen an den Horizonten und an ihnen selbst zeigen, damit ihnen deutlich wird, dass es die Wahrheit ist…“ (Heiliger Qur´an 41:53)

Eine andere Gruppe wird folgendermaßen angesprochen:

„Ist es nicht genug, dass Dein Gott Zeuge über alles ist?“

 (Heiliger Qur´an 41:53)

Ibn Sina fährt fort: „Es sind die Wahrhaftigen, die Gott für die Ursache von allem Existierenden halten und nicht umgekehrt die Existenz von allem für die Ursache von Gott erachten.“[3]

Der bekannte persische Gelehrte Nasruddin Tusi[4] bemerkt zu Ibn Sinas Aussagen sinngemäß:

Schriftgelehrten [mutakallimun] halten das In-Erschei­nung­tre­ten der Materie und ihrer Eigenschaften für den Beweis einer göttlichen Existenz und gelangen durch das fachspezifische Denken über die Schöpfung zu den Merkmalen Gottes.

Die Philosophen [falasifa] sehen in der Existenz der Bewegung die Notwendigkeit einer bewegungschaffenden Existenz. Sie argumentieren, dass die existierende, in Beziehung stehende Kette der Bewegungen nicht unendlich sein kann, sondern auf etwas Bewegungschaffendes zurück gehen muss, das selbst frei von Bewegung ist. Auf diese Weise gelangen sie zur absoluten Existenz.

Aber die Gottsucher [ilahiyun] erfahren die Existenz Gottes, indem sie über die Existenz als solche meditieren. Sie gehen davon aus, dass die Existenz entweder “notwendig“ oder “möglich“ ist. Über die Wirkungen der notwendigerweise aus sich selbst bestehenden Essenz und des “Möglichen“ gelangen sie zu den Merkmalen [sifat] der ursprünglichen Existenz. Über diese Merkmale kommen sie dann zu den Erscheinungsformen anderer Wesen und erkennen deren Abhängigkeit vom “notwendigen Sein“.

Ibn Sina ist nun der Ansicht, dass diese letzte Art ihrer Beweisführung anderen vorzuziehen sei. Denn das überzeugendste Argument, das dem Menschen Gewissheit verschaffen kann, ist dasjenige, dass wir uns über Ursache der Wirkung klar werden. Aber umgekehrt, nämlich über die Wirkung die Ursache begründen zu wollen, braucht nicht immer überzeugend zu sein.

Zusammenfassend sieht Ibn Sina daher die Zeichen dieser Welt und den Menschen selbst als Beweise für die Existenz Gottes, die Existenz Gottes als Beweis für die Existenz aller anderen Wesen. Er bezeichnet die zweite Art der Beweisführung als die korrektere, die jenen “Wahrhaftigen“ [sadiqin] zuteil wird, die ständig auf der Suche nach der Wahrheit sind.[5]

Nach Ibn Sina galt die Argumentation mit der „möglichen“ und „notwendigen“ Existenz als der häufigste Gottesbeweis. Philosophische Abhandlungen begnügten sich fortan mit dieser Argumentation.

Nasruddin Tusi selbst beschäftigt sich in seinem “Diskurs Klarlegung des Glaubens“ (Tadschrid al-Itiqad) mit dem Gottesbeweis, indem er unter anderem auf das Wesen des Schöpfers eingeht: „Das Wesen ist entweder aus sich selbst bestehend - dann ist unsere Abhandlung abgeschlossen und wir bedürfen keiner weiteren Beweisführung. Oder aber das Wesen ist nicht aus sich selbst bestehend, dann stützt es sich auf ein bereits aus sich selbst bestehendes Wesen. Anderenfalls würde es sich im Kreis oder in der Reihe fortsetzen, wobei beides ausgeschlossen ist.“ [6]

Der Gelehrte Allama Hilli[7] bezieht sich in seinem Werk „Die Erläuterung zur Klarlegung des Glaubens“ auf Tusi: „Bei dem Beweis für die Existenz eines aus sich selbst bestehenden Wesens gehen wir fest davon aus, dass es eine Wirklichkeit gibt. Diese Wirklichkeit, über die wir keinen Zweifel hegen, ist entweder aus sich selbst bestehend - in diesem Fall ist die Sache abgeschlossen - oder sie ist nicht aus sich selbst bestehend, dann handelt es sich um eine “mögliche Essenz“ die einer Ursache bedarf, die sie hervorgebracht hat. In diesem Fall ist die Ursache, die sie hervorgebracht hat, entweder aus sich selbst bestehend – dann ist die Angelegenheit ebenfalls abgeschlossen – oder sie ist eine “mögliche Essenz“, dann bedarf sie wiederum einer Ursache oder sie setzt sich im Kreis oder in der Reihe fort, was aber wie wir bereits anmerkten - ausgeschlossen ist.“

[1] Abu Ali ibn Sina (980-1037 n.Chr.), der im Abendland auch unter dem Namen Avicenna bekannt wurde, war Philosoph und Arzt. Sein Hauptwerk über die Medizin war die wissenschaftliche Grundlage für die Medizin des Abendlandes. Viele Jahrhunderte lang war es an den Universitäten Europas das wichtigste Lehrbuch für Ärzte. Er zählte zu den berühmtesten Persönlichkeiten und Wissenschaftlern einer ganzen Epoche und wird aufgrund seiner philosophischen Arbeit auch von einigen Mystikern dem Sufismus zugerechnet. In der westlichen Welt gilt er zuweilen als berühmtester Wissenschaftler des Islam.

[2] Ibn Sina, Ischarat, S.109-115

[3] Ibn Sina, Ischarat, S.123

[4] Abu Dschafar Muhammad ibn Muhammad ibn al-Hasan Nasir al-Din al-Tusi (oder Nasruddin Tusi) war ein schiitischer Theologe, Mathematiker, Astronom, Philosoph und Forscher des 13. Jh. n.Chr. (1201-1274 n.Chr).

[5] vgl. Ibn Sina, Ischarat, S.123

[6] Nasruddin Tusi, Tadschrid al-Itiqad, S. 123

[7] Hasan ibn Yusuf ibn Ali ibn Mutahhar Hilli, vor allem bekannt als Allama Hilli, war ein hoch angesehener Gelehrter der Schia seiner Zeit (gestorben 1325 n.Chr.).

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