IV. Die neuplatonischen Aristoteliker des Ostens
3. Ibn Maskawaih
1. Wir sind an die Wende des zehnten und elften
Jahrhunderts gelangt. Farabis Schule scheint auszusterben und
Ibn Sina, der die Philosophie seines Vorgängers zu neuem Leben
erwecken sollte, ist noch ein Jüngling. Hier aber haben wir
eines Mannes zu gedenken, der zwar dem Kindi näher als dem
Farabi verwandt ist, doch auch, wegen der Gemeinsamkeit ihrer
Quellen, in wesentlichen Punkten mit dem letzteren
übereinstimmt. Sein Beispiel zeigt zugleich, dass die hellsten
Köpfe der Zeit nicht gesonnen waren, Farabi auf das Gebiet
logisch-metaphysischer Spekulationen zu folgen.
Dieser Mann ist der Arzt, Philolog und Historiker Abu Ali
ibn Maskawaih, der Schatzmeister und Freund des Sultans
Adudaddaula war und hochbetagt im Jahre 1030 starb. U. a. hat
er uns eine bis heute im Orient geschätzte philosophische
Ethik hinterlassen. Sie ist eine Mischung aus Platon,
Aristoteles, Galen und dem muslimischen Religionsgesetz, doch
herrscht darin Aristoteles vor. Mit einer Abhandlung über das
Wesen der Seele hebt sie an.
2. Die menschliche Seele, so führt Ibn Maskawaih aus, ist
eine unkörperliche, einfache, sich ihres Seins, Wissens und
Wirkens bewusste Substanz. Dass sie geistiger Natur sein muss,
folgt schon daraus, dass sie die entgegengesetzten [117]Formen
zugleich in sich aufnimmt, z. B. die Vorstellung von weiß und
schwarz, während ein Körper nur eins von beiden auf einmal
aufnehmen kann. Ferner nimmt sie sowohl die Formen des
Sinnlichen wie des Geistigen in gleicher, geistiger Weise auf,
denn die Länge ist in der Seele nicht lang, wird auch im
Gedächtnis nicht länger. Weit über ihren Körper geht sodann
das Wissen und Wirken der Seele hinaus, ja die ganze
Sinnenwelt genügt ihr nicht. Überdies besitzt sie eine
ursprüngliche Vernunfterkenntnis, die ihr nicht von den Sinnen
zugekommen sein kann, denn durch dieselbe bestimmt sie, bei
der Vergleichung und Unterscheidung des von der sinnlichen
Wahrnehmung ihr Dargebotenen, Wahres und Falsches, die Sinne
beaufsichtigend und berichtigend. Im Selbstbewusstsein
endlich, dem Wissen um das eigene Wissen, zeigt sich am
klarsten die geistige Einheit der Seele, in der Denken,
Denkendes und Gedachtes zusammen fallen.
Von den Tierseelen unterscheidet sich die menschliche Seele
besonders durch vernünftige Überlegung als das Prinzip ihres
Handelns, welches auf das Gute gerichtet ist.
3. Gut ist im allgemeinen dasjenige, wodurch ein Wollendes
den Zweck oder die Vollkommenheit seines Wesens erreicht. Gut
zu sein, dazu ist also eine gewisse auf einen Endzweck
gerichtete Anlage erforderlich. In Bezug auf ihre Anlage
unterscheiden die Menschen sich aber sehr wesentlich. Nur
wenige, meint Ibn Maskawaih, sind von Natur gut und werden nie
schlecht, denn was von Natur ist, ändert sich nicht. Viele
dagegen sind von Natur schlecht und werden nie gut. Andere
aber, die anfangs weder gut noch schlecht sind, werden durch
Erziehung und gesellschaftlichen Verkehr nach einer von beiden
Seiten hin bestimmt.
Das Gute ist nun entweder ein allgemeines oder ein
besonderes. Es gibt ein absolutes Gut, mit dem höchsten Sein
und der höchsten Erkenntnis identisch, dem alle Guten
[118]zusammen zustreben. Aber für jeden Einzelnen stellt sich
ein besonderes Gut subjektiv als Glück oder Lust dar, und
dieses besteht in der vollen Bethätigung des eigenen Wesens,
in der vollständigen Auslebung des Inneren.
Im allgemeinen ist der Mensch gut und glücklich, wenn er
menschlich handelt. Tugend ist menschliche Tüchtigkeit. Da nun
aber die Menschheit in den verschiedenen Individuen
verschieden abgestuft sich darstellt, so ist das Glück oder
das Gut nicht für alle dasselbe. Und weil das auf sich selbst
gestellte Individuum nicht alle möglichen Güter verwirklichen
kann, so müssen viele zusammenleben. Daraus ergibt sich schon
als eine erste Pflicht oder die Grundlage aller Tugenden die
allgemeine Menschenliebe, ohne die keine Gesellschaft möglich
ist. Nur mit und in anderen ist der einzelne Mensch
vollkommen, die Ethik soll Sozialethik sein. Die Freundschaft
ist darum nicht, wie bei Aristoteles, eine Erweiterung der
Selbstliebe, sondern eine Einschränkung oder eine Art der
Nächstenliebe. Und diese, wie die Tugend überhaupt, kann sich
nur bethätigen in der Gesellschaft oder der
Staatsgemeinschaft, nicht aber in der Weltflucht des frommen
Mönches. Der Einsiedler, der glaubt, mäßig und gerecht zu
leben, irrt sich in Bezug auf den Charakter seiner Handlungen.
Diese mögen religiös sein, moralisch sind sie nicht. Ihre
Betrachtung fällt also nicht der Ethik zu.
Übrigens stimmt, nach Ibn Maskawaih, das richtig
aufgefasste Religionsgesetz vorzüglich mit einer humanen Ethik
überein. Die Religion ist eine sittliche Schulung für das
Volk. Ihre Vorschriften über den gemeinschaftlichen
Gottesdienst und die Wallfahrt nach Mekka sollen z. B. die
Pflege der Nächstenliebe in den weitesten Kreisen bezwecken.
Im einzelnen ist es Ibn Maskawaih nicht gelungen, die
ethischen Lehren der Griechen, die er in seine Darstellung
aufnimmt, unter einander und mit dem Gesetz des Islam zu
verschmelzen. Wir übergehen das. Doch ist [119]nicht nur im
allgemeinen sein Versuch zu loben, eine von der Kasuistik der
Pflichtenlehrer und von der Askese der Sufi’s freie Ethik zu
geben, sondern auch in der Ausführung ist die Besonnenheit
eines reichgebildeten Mannes anzuerkennen.