III. Die pythagoreische Philosophie
2. Die treuen Brüder von Basra
1. Im Orient, wo jede Religion einen Staat im Staate
bildete, trat eine politische Partei, schon damit sie
überhaupt Anhänger gewinne, immer zugleich als religiöse Sekte
auf. Prinzipiell kannte nun der Islam keinen Unterschied
zwischen den Menschen, keine Kasten oder Stände. Aber Besitz
und Bildung haben überall dieselbe Wirkung. Und in ihrem
Gefolge fing man an, Grade der Frömmigkeit und Stufen der
Erkenntnis aufzustellen, danach Gemeinde oder Partei sich
einteilen ließe. So entstanden geheime Gesellschaften mit
verschiedenen Graden, deren [77]höchster oder nächsthöchster
eine Geheimlehre besaß, die der neupythagoreischen
Naturphilosophie manches entlehnte. Zu ihrem Zwecke, Eroberung
politischer Macht, war jedes Mittel erlaubt. Für die
Eingeweihten wurde der Koran allegorisch ausgelegt. Zwar
führte man diese geheime Weisheit auf Propheten mit biblischen
und koranischen Namen zurück, es steckten aber heidnische
Philosophen dahinter. Die Philosophie wurde ganz zu einer
politischen Mythologie umgebildet. Die hohen Geister und
Seelen, die theoretische Denker in Gestirnen und Planeten
erkannten, verkörperten sich für die Realpolitik in
menschliche Wesen, denen zur Gründung eines irdischen Reiches
der Gerechtigkeit behülflich zu sein, als religiöse Pflicht
verkündigt ward. Man kann die Gesellschaften, die solches
betrieben, am besten mit Vereinen vergleichen, wie sie bis auf
den Saint-Simonismus und verwandte Erscheinungen dieses
Jahrhunderts, in Ländern, wo die Geistesfreiheit beschränkt
ist, aufzutreten pflegen.
Urheber einer solchen Bewegung war, in der zweiten Hälfte
des neunten Jahrhunderts, das Haupt der Karmatenpartei,
Abdallah ibn Maimun. Er war ein persischer Augenarzt, in der
Schule der Naturphilosophen gebildet. Gläubige und Freidenker
wusste er in einen Bund zusammenzuschließen, um den Versuch zu
machen, die abbasidische Regierung zu stürzen. Dem Einen war
er ein Gaukler, dem Andern ein frommer Asket oder ein
gelehrter Philosoph. Seine Farbe war weiß, weil seine Religion
die des reinen Lichtes, zu dem die Seele nach ihren irdischen
Wanderungen aufsteigen sollte. Verachtung des Körpers,
Geringschätzung der materiellen, allen Bundesbrüdern
gemeinsamen Güter wurde gepredigt, sowie Hingebung an den
Bund, Treue und Gehorsam bis in den Tod gegen seine Oberen.
Denn der Bund stufte sich in Graden ab. Nach der Stufenfolge
des Seins, Gott, Vernunft, Seele, Raum und Zeit, stellte man
sich die Offenbarung Gottes in der Geschichte und in der
Verfassung seines Bundes vor. [78]
2. Die Hauptstätten der karmatischen Wirksamkeit waren
Basra und Kufa. Nun aber finden wir in der zweiten Hälfte des
zehnten Jahrhunderts in Basra eine kleine Gesellschaft von
Männern, deren Bund vier Grade haben soll. Inwiefern es den
Brüdern gelungen ist, die ideelle Gliederung ihres Bundes zu
verwirklichen, wissen wir freilich nicht. Dem ersten Grade
gehören die jungen Männer von 15 bis 30 Jahren an, deren
Seelen in natürlicher Weise ausgebildet werden. Als Schüler
haben sie sich ganz ihren Lehrern zu fügen. Der zweite Grad
(30–40 Jahre) wird in die Weltweisheit eingeführt und bekommt
eine analoge Erkenntnis der Dinge. Im dritten Grade (40–50
Jahre) wird das göttliche Weltgesetz in adäquater Form
erkannt, es ist das die Stufe der Propheten. Im höchsten Grade
endlich, wenn man über 50 Jahre hinaus ist, erlebt man, wie
die seligen Engel, die wahre Wirklichkeit der Dinge. Man ist
da über Natur, Lehre und Gesetz erhaben.
Aus diesem Brüderbunde ist uns eine stufenmäßig
fortschreitende Encyklopädie der damaligen Wissenschaften
erhalten. Sie besteht aus 51 (ursprünglich vielleicht 50)
Abhandlungen, die inhaltlich verschiedener Art und Herkunft
sind, sodass es den Redaktoren oder Compilatoren nicht
gelungen ist, eine durchgängige Übereinstimmung herzustellen.
Im allgemeinen aber findet sich in dieser Encyklopädie ein
eklektischer Gnostizismus auf naturphilosophischer Grundlage
mit politischem Hintergrunde. Mit mathematischen
Betrachtungen, voll Zahlen- und Buchstabenspiel hebt die
Darstellung an, durch Logik und Physik, aber Alles auf die
Seele und ihre Kräfte beziehend, schreitet sie fort, um
endlich in mystisch-zauberischer Weise sich der Erkenntnis der
Gottheit zu nähern. Das Ganze stellt sich als die Lehre einer
verfolgten Sekte dar, ab und zu blickt das Politische
hindurch. Wir sehen noch etwas von Leiden und Kampf, von
Bedrückungen, denen die Männer dieser Encyklopädie oder ihre
Vorgänger ausgesetzt waren, von Hoffnung, die sie hegen, von
Duldung, [79]die sie predigen. Sie suchen in dieser
spiritualistischen Philosophie Trost oder Erlösung, sie ist
ihre Religion. Treu bis zum Tode, heißt es, sollen die Brüder
sein, denn für der Freunde Wohl in den Tod zu gehen, das ist
der wahre heilige Krieg. Auf der Pilgerfahrt des Lebens durch
diese Welt, so wird die verpflichtete Reise nach Mekka
allegorisiert, soll Einer dem Andern mit allen Mitteln
beistehen. Die Reichen sollen von ihren materiellen, die
Weisen von ihren geistigen Gütern den Anderen mitteilen. Doch
ist das Wissen, wie wir es in der Encyklopädie haben, wohl
hauptsächlich den Eingeweihten der höchsten Grade vorbehalten
worden.
Es scheint nun allerdings dieser Bund der treuen Brüder von
Basra, wie vielleicht eine Zweigniederlassung in Bagdad, ein
stilles Dasein geführt zu haben. Die Brüder mögen sich zu den
Karmaten etwa verhalten haben wie die ruhigeren Taufgesinnten
zu den revolutionären Wiedertäufern des Königs von Sion.
Als Mitglieder des Bundes und Verfasser der Encyklopädie
werden uns von Späteren genannt: Abu Sulaiman Mohammed ibn
Muschir al-Busti, genannt al-Muqaddasi, Abu-l-Hasan Ali ibn
Harun al-Zandschani, Mohammed ibn Achmed al-Nahradschuri,
al-Aufi und Zaid ibn Rifaa. Zur Zeit ihres Wirkens hatte das
Chalifat seine weltliche Macht schon ganz dem schiitischen
Bujidenhause (945) abtreten müssen. Wahrscheinlich begünstigte
dieser Umstand das Hervortreten mit einer Encyklopädie, in der
schiitische und mutazilitische Lehren mit den Ergebnissen der
Philosophie zu einem populären System zusammengefasst waren.
3. Die Brüder bekennen sich selbst zum Eklektizismus. Sie
wollen die Weisheit aller Völker und Religionen sammeln. Noah
und Abraham, Sokrates und Platon, Zoroaster und Jesus,
Mohammed und Ali sind ihre Propheten. Sokrates, Jesus und
seine Apostel, sowie die Aliden, werden als heilige Märtyrer
ihres Vernunftglaubens verehrt. Das Religionsgesetz in seinem
buchstäblichen Sinne heißt gut [80]für den gemeinen Mann, eine
Medizin für schwache und kranke Seelen; für starke Geister
aber ist die tiefere philosophische Einsicht. Der Körper wird
dem Tode geweiht, Sterben bedeutet Auferstehen zum reinen
Leben des Geistes, für diejenigen nämlich, die schon während
ihres Erdendaseins durch philosophische Betrachtungen aus
sorglosem Schlummer und thörichtem Schlaf erwacht sind. Mit
endlosen Wiederholungen, durch Legenden und Sagen
spätgriechischer, jüdisch-christlicher, persischer oder
indischer Herkunft, wird dieses eingeschärft. Alles
Vergängliche wird dabei zum Gleichnis. Auf den Trümmern der
positiven Religion und der naiven Ansicht baut sich eine
spiritualistische Philosophie auf, alles Wissen und Streben
der Menschheit, sofern es in den Gesichtskreis der Brüder
getreten ist, umfassend. Der Zweck ihres Philosophierens heißt
das Gottähnlichwerden der Seele, soweit es Menschen möglich
ist.
In der Darstellung treten, aus begreiflichen Gründen, die
negativen Tendenzen der Brüder etwas zurück. Am
rücksichtslosesten aber tritt ihre Kritik der menschlichen
Gesellschaft und der positiven Religionen hervor in dem Buche
vom Tier und Mensch, wo die Einkleidung es ihnen ermöglicht,
die Tiere sagen zu lassen, was aus menschlichem Munde zu
hören, bedenklich werden könnte.
4. Der eklektische Charakter und die in den Unterteilen
wenig systematische Art der Darstellung erschwert es, die
Philosophie der Brüder einheitlich zu entwickeln. Doch sollen
hier die wichtigsten Sätze, wenn auch mitunter in loser
Verknüpfung, zusammengereiht werden.
Die Geistesthätigkeit des Menschen zerfällt, nach der
Encyklopädie, in Kunst und Wissenschaft. Wissen nun ist die
Form des Gewussten in der wissenden Seele oder eine höhere,
feinere, geistigere Existenzweise des im Stoffe Wirklichen.
Kunst dagegen ist das Hervorgehenlassen der Form aus der
Künstlerseele in die Materie hinein. Das Wissen ist potentiell
in der Seele des Schülers vorhanden, [81]wird aber erst
aktuell durch die belehrende Thätigkeit eines Meisters, der
das Wissen als ein Wirkliches in sich trägt. Woher aber hat es
der erste Meister? Nach den Philosophen, so antworten die
Brüder, hat er es sich durch eigenes Nachdenken erworben, nach
den Theologen durch prophetische Erleuchtung erhalten, nach
unserer Meinung aber gibt es verschiedene Wege oder
Vermittelungen, zum Wissen zu gelangen. Aus der Mittelstellung
der Seele zwischen Körper- und Geisteswelt ergeben sich schon
drei Wege oder Quellen der Erkenntnis. Die Seele erkennt
nämlich das, was unter ihr steht, durch die Sinne, das, was
über ihr ist, durch logische Folgerung, und endlich sich
selbst durch vernünftige Betrachtung oder unmittelbare
Anschauung. Von diesen Arten ist die Selbsterkenntnis die
gewisseste und vorzüglichste. Das menschliche Wissen erweist
sich, wenn es darüber hinauszugehen versucht, vielfach
beschränkt. Über Fragen, wie Weltentstehung und Weltewigkeit,
soll man deshalb nicht gleich philosophieren, sondern sich
zunächst an dem Einfacheren versuchen. Und nur durch
Weltentsagung und gerechten Wandel erhebt die Seele sich
allmählich zur reinen Erkenntnis des Höchsten.
5. Nach der weltlichen Bildung in Sprachwissenschaft,
Poesie und Geschichte und nach der religiösen Erziehung und
Glaubenslehre, soll das philosophische Studium mit den
mathematischen Disziplinen anfangen. Alles wird hier
neupythagoreisch-indisch dargestellt. Nicht nur die Zahlen,
auch die Buchstaben werden zu kindischen Spielereien benutzt.
Es kam da den Brüdern besonders zu statten, dass das arabische
Alphabet 28 = 4 × 7 Buchstaben zählt. Statt nach sachlichen
Gesichtspunkten zu verfahren, wird durch alle Wissenschaften
hindurch nach sprachlichen Analogien und Zahlenverhältnissen
phantasiert. Die Arithmetik untersucht nicht die Zahl als
solche, sondern deren Bedeutsamkeit. Es wird nicht für die
Erscheinungen ein zahlenmäßiger Ausdruck gesucht, sondern nach
dem System der Zahlen werden die Dinge gedeutet. Die
Zahlenlehre [82]ist göttliche Weisheit, die über den Dingen
ist, denn die Dinge sind erst den Zahlen nachgebildet. Das
absolute Prinzip alles Seienden und Gedachten ist die Eins.
Daher steht die Wissenschaft der Zahl am Anfang, in der Mitte
und am Ende aller Philosophie. Die Geometrie mit ihren
anschaulichen Figuren dient nur dazu, Anfängern das
Verständnis zu erleichtern, wahre, reine Wissenschaft aber ist
allein die Arithmetik. Doch wird auch die Geometrie eingeteilt
in eine sinnliche, die Linien, Flächen und Körper zum
Gegenstande hat, und eine reine oder geistige, die von den
Dimensionen oder Eigenschaften der Dinge, Länge, Breite und
Tiefe, handelt. Der Zweck sowohl der Arithmetik als der
Geometrie ist, die Seele vom Sinnlichen auf das Geistige
hinzuführen.
Zuerst führen sie uns dann zur Betrachtung der Gestirne. In
der Astrologie bietet nun die Encyklopädie, wie nicht anders
zu erwarten ist, höchst phantastische, zum Teil sich
widersprechende Lehren. Durch das Ganze geht die Überzeugung
hindurch, dass die Gestirne nicht bloß Zukünftiges
vorhersagen, sondern dass sie alles Geschehen unter dem Monde
direkt beeinflussen oder bewirken. Sowohl Glück als Unglück
kommt von ihnen her. Jupiter, Venus und die Sonne führen
Glück, Saturn, Mars und der Mond dagegen Unglück herbei, und
die Wirkungen des Merkur sind aus Gutem und Bösem gemischt.
Merkur ist der Herr der Bildung und der Wissenschaft; ihm
verdanken wir unsere Erkenntnis, die Gutes und Böses umfasst.
So hat denn auch jeder andere Planet seinen eigenen
Wirkungskreis, und der Mensch empfindet in seinem Leben, wenn
er nicht vorzeitig weggerafft wird, nach und nach die
Einflüsse sämtlicher Himmelskörper. Der Mond lässt seinen
Körper wachsen und Merkur bildet seinen Geist aus. Dann
beherrscht ihn Venus. Die Sonne gibt ihm Familie, Reichtum
oder Herrschaft, Mars Tapferkeit und Edelsinn. Darauf bereitet
er sich, unter Jupiters Führung, durch religiöse Übungen zur
Reise ins Jenseits vor und gelangt unter dem [83]Einflusse
Saturns zur Ruhe. Viele Menschen aber leben nicht lange genug
oder sind nicht in der Lage, ihre natürlichen Anlagen in
ungestörter Folge zu entwickeln. Darum schickt Gott ihnen
gnädig seine Propheten, nach deren Lehre man sich auch in
kurzer Frist und unter ungünstigen Verhältnissen vollständig
ausbilden kann.
6. Nach der Encyklopädie ist der Mathematik die Logik
verwandt. Wie nämlich die Mathematik vom Sinnlichen zum
Geistigen hinführt, so nimmt auch die Logik eine
Mittelstellung zwischen Physik und Metaphysik ein. Die Physik
hat es mit den Körpern, die Metaphysik mit den reinen Geistern
zu thun, die Logik aber behandelt die Begriffe dieser sowie
die Vorstellungen jener in unserer Seele. Doch steht die Logik
der Mathematik an Umfang und Bedeutung nach. Denn das
Mathematische wird nicht nur als ein Mittleres, sondern auch
als das Wesen des Alls gefasst. Hingegen bleibt die Logik ganz
auf die seelischen Gebilde als ein Mittleres zwischen Körper
und Geist beschränkt. Die Dinge richten sich nach den Zahlen,
unsere Vorstellungen und Begriffe aber nach den Dingen.
Die logischen Betrachtungen der Brüder knüpfen sich an
Porphyrs Einleitung und die Kategorien, die Hermeneutik und
die Analytiken des Aristoteles. Eigentümliches bieten sie
nicht oder sehr wenig.
Zu den fünf Worten des Porphyr wird als sechstes das
Individuum hinzugefügt, wohl der Symmetrie wegen. Drei davon,
Gattung, Art, Individuum, heißen dann objektive, und drei,
Differenz, Proprium, Accidens, begriffliche Bestimmungen. Die
Kategorien sind Gattungsbegriffe, von denen der erste die
Substanz, die neun anderen deren Accidenzen bezeichnen. Durch
Einteilung in Arten wird ferner das ganze System der Begriffe
entwickelt. Außer der Einteilung aber gibt es noch drei
logische Methoden: Analyse, Definition und Deduktion. Die
Analyse ist die Methode für Anfänger, weil sie das
Individuelle erkennen lässt. Subtiler aber, das Geistige uns
erschließend, sind [84]die Definition, welche die Arten, und
die Deduktion, welche die Gattungen in ihrem Wesen ergründet.
Über das Dasein der Dinge belehren uns die Sinne, der Dinge
Wesenheit aber wird durch Nachdenken erkannt. Was die Sinne
uns zu erkennen geben, ist wenig, wie die Buchstaben des
Alphabets; bedeutender schon, wie die Worte, sind die
Prinzipien der Vernunfterkenntnis; das Wichtigste aber sind
die aus jenen Prinzipien abgeleiteten Sätze, die der
menschliche Geist sich selbst erwirbt oder aneignet, im
Unterschiede von demjenigen Wissen, das ihm die Natur oder die
göttliche Offenbarung erteilt hat.
7. Von Gott, dem höchsten Sein, der über alle Unterschiede
und Gegensätze, auch des Körperlichen und Geistigen, erhaben
ist, wird die ganze Welt auf dem Wege der Emanation
abgeleitet. Wenn mitunter von einer Schöpfung die Rede ist, so
ist das als eine Anbequemung an den theologischen
Sprachgebrauch aufzufassen. Folgendermaßen stellt sich nun die
Stufenreihe der emanierten Wesen dar: 1. der schaffende Geist
(νοῦς, ʻaql); 2. der leidende Geist oder die Allseele; 3. die
erste Materie; 4. die wirkende Natur, eine Kraft der
Weltseele; 5. der absolute Körper, auch zweite Materie
genannt; 6. die Sphärenwelt; 7. die Elemente der
sublunarischen Welt; 8. die aus diesen Elementen
zusammengesetzten Mineralien, Pflanzen und Tiere. Das sind
also acht Wesen, die zusammen mit Gott, der absoluten Eins,
die in und mit jedem Dinge ist, die Reihe der den neun
Grundzahlen entsprechenden Urwesen vollenden.
Geist, Seele, Urmaterie und Natur sind einfach, mit dem
Körper aber betreten wir das Gebiet des Zusammengesetzten.
Alles ist hier entweder Materie oder Form, Substanz oder
Accidens. Die ersten Substanzen sind Materie und Form, die
ersten Accidenzen oder Eigenschaften Raum, Bewegung und Zeit,
denen man wohl im Sinne der Brüder den Ton und das Licht
hinzufügen könnte. Die Materie ist eins, alle Vielheit und
Verschiedenheit [85]rührt von den Formen her. Die Substanz
wird auch als die konstituierende, materielle, das Accidens
als die vollendende, geistige Form bezeichnet. Klar spricht
die Encyklopädie sich nicht aus. Jedenfalls aber wird die
Substantialität mehr im Allgemeinen als im Besonderen gesucht
und die Form der Materie vorgezogen. Wie ein Gespenst schreckt
die substantielle Form von jedem Eingehen auf das Materielle
ab. Wie Herren nach ihrer Willkür wandern die Formen durch die
niedere Welt der Materie. Von einer inneren Beziehung zwischen
Materie und Form ist keine Spur zu entdecken. Nicht nur
gedanklich, sondern auch real lassen sie sich trennen.
Hieraus lässt sich schon ein Begriff von der
Naturgeschichte der Brüder bilden. Man hat sie als Darwinisten
des zehnten Jahrhunderts hingestellt. Nichts ist weniger
richtig. Zwar ergeben die verschiedenen Reiche der Natur, nach
der Encyklopädie, eine aufsteigende und zusammenhängende
Reihe. Aber nicht nach der Körperbildung wird das Verhältnis
bestimmt, sondern nach der inneren Form oder der
Seelensubstanz. In mystischer Weise wandert die Form vom
Niederen zum Höheren und umgekehrt, nicht nach inneren
Bildungsgesetzen oder durch Anpassung an das Äußere
modifiziert, sondern nach den Einwirkungen der Gestirne und,
wenigstens beim Menschen, nach praktischem und theoretischem
Verhalten. Eine Entwicklungsgeschichte in modernem Sinne zu
geben, lag den Brüdern ganz fern. Ausdrücklich betonen sie z.
B., Pferd und Elephant seien menschenähnlicher als der Affe,
obgleich beim letzteren die körperliche Übereinkunft größer.
Aber der Körper ist ja etwas ganz Nebensächliches in ihrem
System, der Tod des Körpers heißt die Geburt der Seele. Nur
die Seele ist ein wirkendes Wesen, das sich den Körper
schafft.
8. Die Naturlehre der Brüder geht demnach fast vollständig
in Psychologie auf. Beschränken wir uns hier auf die
menschliche Seele. Sie steht in der Mitte des [86]Alls. Wie
die Welt ein großer Mensch, ist der Mensch eine kleine Welt.
Die menschliche Seele ist von der Weltseele emaniert, und
die Seelen sämtlicher Individuen bilden zusammen eine
Substanz, die man den absoluten Menschen oder den Geist der
Menschheit nennen könnte. Jede Einzelseele aber steckt in der
Materie und muss sich allmählich zum Geiste hinbilden. Dazu
hat sie viele Vermögen oder Kräfte. Von diesen sind die
theoretischen Vermögen die vorzüglichsten, denn in der
Erkenntnis besteht das Leben der Seele.
Die Seele des Kindes ist zunächst wie ein weißes Blatt. Was
die fünf Sinne ihr zuführen, wird, vorn, mitten und hinten im
Gehirne, erstens vorgestellt, zweitens beurteilt und drittens
aufbewahrt. Durch das Vermögen der Sprache und die
Schreibkunst, womit die entsprechende Fünfzahl innerer Sinne
erreicht ist, wird dann der Vorstellungsinhalt verwirklicht.
Unter den äußeren Sinnen geht das Gehör dem Gesichte voran,
denn dieses bezieht sich, ein Sklave des Augenblickes, auf das
sinnlich Gegenwärtige, dagegen das Gehör auch Vergangenes
erfasst und die Harmonie der tönenden Sphären empfindet. Gehör
und Gesicht bilden zusammen die Gruppe geistiger Sinne, deren
Wirkung zeitlos von statten gehen soll.
Während nun der Mensch die äußeren Sinne mit den Tieren
gemein hat, so bekundet sich in der Urteilskraft, in der
Sprache und im Handeln die spezifisch menschliche Vernunft.
Diese urteilt über gut und böse, nach welchem Urteile der
Wille sich entscheidet. Besonders aber ist die Bedeutung der
Sprache für das Erkenntnisleben der Seele hervorzuheben. Ein
Begriff, der nicht durch irgend einen Ausdruck in irgend einer
Sprache bezeichnet werden kann, ist eben kein denkbarer
Begriff. Das Wort ist der Körper des Gedankens, der rein für
sich nicht bestehen kann.
Wie aber diese Auffassung vom Verhältnis zwischen
[87]Begriff und Ausdruck zu sonstigen Meinungen der Brüder
stimmen soll, ist nicht einzusehen.
9. Auf ihrer höchsten Stufe wird die Lehre der Brüder
Religionsphilosophie. Eine Versöhnung zwischen Wissenschaft
und Leben, Philosophie und Glauben ist ihre Absicht. Da sind
nun die Menschen sehr verschieden. Der gewöhnliche Mensch
braucht einen sinnlichen Gottesdienst. Aber wie die Seele des
gemeinen Mannes Tier- und Pflanzenseele unter sich hat, so
stehen über ihr die Seele des Philosophen und des Propheten,
dem sich der reine Engel anschließt. Auf den höheren Stufen
erhebt sich die Seele auch über die niedere Volksreligion,
deren sinnliche Vorstellungen und Gebräuche.
Als die vollkommenere religiöse Offenbarung erschien den
Brüdern wohl das Christentum, auch der zoroastrische Glaube.
Unser Prophet Mohammed, sagen sie, wurde an ein ungebildetes
Volk von Wüstenbewohnern geschickt, die weder von der
Schönheit dieser Welt noch von dem geistigen Charakter der
jenseitigen eine richtige Vorstellung besaßen. Die
grobsinnlichen Ausdrücke des Korans, dem Verständnis jenes
Volkes angepasst, sollen von den höher Gebildeten in
spiritualistischem Sinne verstanden werden.
Aber auch die anderen Volksreligionen haben die Wahrheit
nicht rein. Über sie alle hinaus gibt es einen
Vernunftglauben, für den die Brüder sogar eine metaphysische
Ableitung versuchen. Zwischen Gott und sein erstes Geschöpf,
den schaffenden Geist, wird als Hypostase das göttliche
Weltgesetz (nâmûs) eingeschoben. Es ist das die über Alles
sich erstreckende weise Anordnung eines barmherzigen
Schöpfers, der Niemandem Böses will. Den Glauben an einen
zornigen Gott, an Höllenstrafen und dergleichen erklären die
Brüder für widervernünftig. Ein solcher Glaube thut der Seele
weh. Die unwissende, sündige Seele findet schon in diesem
Leben, in ihrem eigenen Leibe die Hölle. Auferstehung dagegen
heißt die Trennung der Seele von ihrem Körper. Und die große
Auferstehung [88]am jüngsten Tage ist die Trennung der
Allseele von der Welt, ihre Rückkehr zu Gott. Das Ziel
sämtlicher Religionen ist ja die Hinwendung zu Gott.
10. Die Ethik der Brüder hat einen
asketisch-spiritualistischen Charakter, obgleich sich auch
hier der Eklektizismus zeigt. Gut handelt nach ihr der Mensch,
wenn er der richtigen Natur folgt, lobenswert ist die freie
That der Seele, vortrefflich sind die aus vernünftiger
Überlegung hervorgegangenen Handlungen, und einer Belohnung,
d. h. der Erhebung zur himmlischen Sphärenwelt wert ist
endlich die Befolgung des göttlichen Weltgesetzes. Dazu bedarf
es der Sehnsucht nach oben. Die höchste Tugend ist deshalb die
Liebe, die nach Vereinigung mit Gott, dem ersten Geliebten,
hinstrebt, die sich aber auch in diesem Leben als religiöse
Duldung und Schonung aller Geschöpfe bethätigt. Ihr Gewinn im
Diesseits ist Seelenruhe, Herzensfreiheit, Frieden mit der
ganzen Welt, und im Jenseits das Aufsteigen zum ewigen Lichte.
Nach alledem braucht es uns nicht zu wundern, dass dem
Leibe viel Schlechtes nachgesagt wird. Unser wahres Wesen
heißt die Seele, unseres Daseins höchster Zweck soll es sein,
mit Sokrates dem Geiste, mit Christus dem Gesetz der Liebe zu
leben. Dennoch ist der Leib zu schonen und zu pflegen, damit
die Seele Zeit habe, sich vollkommen zu entwickeln. In diesem
Sinne wird von den Brüdern ein menschliches Bildungsideal
aufgestellt, dessen Züge den Charakteren verschiedener Völker
entlehnt sind. Der ideale, sittlich vollkommene Mensch soll
nämlich ostpersischer Abstammung sein, arabisch seinem Glauben
nach, von iraqischer (babylonischer) Bildung, erfahren wie ein
Hebräer, ein Christusjünger in seinem Wandel, fromm wie ein
syrischer Mönch, ein Grieche in den Einzelwissenschaften, ein
Inder in der Deutung aller Geheimnisse, endlich aber und
zuhöchst ein Sufi in seinem ganzen Geistesleben.
11. Der Versuch einer Versöhnung, die auf diese [89]Weise
zwischen Wissen und Glauben sollte hergestellt werden, hat
nach keiner Seite befriedigt. Auf die allegorische
Koraninterpretation der Brüder blickten die theologischen
Dialektiker herab, wie heutzutage unsere Gottesgelehrten auf
die neutestamentliche Exegese des Grafen Tolstoi. Und die
reineren Aristoteliker betrachteten die
pythagoreisch-platonische Richtung der Encyklopädie wie ein
heutiger Philosophieprofessor Spiritismus, Occultismus und
derartige Erscheinungen anzusehen pflegt. Aber in der breiten
Masse der gebildeten oder halbgebildeten Welt haben die
Schriften oder doch die Ansichten der treuen Brüder von Basra
eine bedeutende Wirkung erzielt, von der die vielen, meist
jungen Handschriften der umfangreichen Encyklopädie beredtes
Zeugnis ablegen. Bei vielen Sekten innerhalb der islamischen
Welt, Batiniten, Ismaeliten, Assasinen, Drusen, oder wie sie
sonst heißen mögen, finden wir der Hauptsache nach dieselben
Lehren wieder. Vorzugsweise in dieser Form hat sich
griechische Weisheit im Osten acclimatisieren können, während
die aristotelische Schulphilosophie fast nur im Treibhause
fürstlicher Gönner gedeihen wollte. Der große Kirchenvater
Gazali that die Weisheit der Brüder gar leicht als
Popularphilosophie ab, scheute sich aber nicht, von ihnen das
Gute herüberzunehmen. Er verdankt ihrem Gedankenkreise mehr,
als er wohl selbst eingestehen mochte. Auch von anderen,
besonders in encyklopädischen Werken, sind ihre Abhandlungen
ausgenutzt worden. Die Wirkung der Encyklopädie dauert noch
fort im muslimischen Osten. Vergebens hat man sie, zusammen
mit den Schriften Ibn Sina’s, im Jahre 1150 zu Bagdad
verbrannt. [90]