III. Die pythagoreische Philosophie
1. Die Naturphilosophie
1. Euklid und Ptolemäus, Hippokrat und Galen, einiges von
Aristoteles, dazu ein umfangreiches neupythagoreisches und
neuplatonisches Schrifttum, damit sind die Elemente der
arabischen Naturphilosophie bezeichnet. Es ist eine
Popularphilosophie, die, besonders durch die Sabier von Harran
vermittelt, bei Schiiten und anderen Sekten Aufnahme fand, und
die in der Folge nicht nur höfische Kreise, sondern auch eine
ganze Masse von Gebildeten und Halbgebildeten ergriff.
Einzelheiten aus den Schriften des “Logikers” Aristoteles
wurden aufgenommen, aus der Meteorologie, aus der ihm
zugeschriebenen Schrift Über die Welt, aus dem Buch der Tiere,
der Psychologie u. s. w., aber der Geist des Ganzen ist von
Pythagoras-Platon, von Stoikern und von späten Astrologen und
Alchemisten bestimmt. Menschliche Neugierde und frommer Sinn,
die Gottes Geheimnisse aus seinen Geschöpfen herauslesen
möchten, gehen dabei über das praktische Bedürfnis, das etwas
Rechenkunst für die Verteilung der Erbschaft und für den
Handel, auch etwas Astronomie für die Zeitbestimmung
gottesdienstlicher Verrichtungen brauchte, weit hinaus. Von
überall her holt man sich seine Weisheit herbei. Es bekundet
sich darin eine Gesinnung, die von Masudi richtig formuliert
wurde: es sei das Gute anzuerkennen, ob es sich beim Feinde
oder beim Freunde finde. Sollte doch Ali, der Fürst der
Gläubigen, gesagt haben: “Die Weltweisheit ist das verirrte
Schaf des Gläubigen, nimm es wieder auf, wenn auch von den
Ungläubigen”. [70]
2. Der Patron mathematischer Studien im Islam ist
Pythagoras. Zwar wird Griechisches und Indisches gemischt,
aber Alles unter neupythagoreische Gesichtspunkte gestellt.
Ohne das Studium der mathematischen Disziplinen: Arithmetik
und Geometrie, Astronomie und Musik, wird Keiner, so heißt es,
zum Philosophen oder gebildeten Arzt. Die Zahlenlehre, höher
geschätzt als die Messkunde, weil sie weniger zur Anschauung
spricht und den Geist dem Wesen der Dinge näher bringen soll,
gibt zu den ausschweifendsten Spielereien Veranlassung. Gott
ist selbstverständlich die große Eins, von der Alles ausgeht,
selbst keine Zahl, sondern Ursache der Zahl. Vor allem aber
wird die Vierzahl, die Zahl der Elemente u. s. w., von den
Naturphilosophen bevorzugt. Bald kann man über nichts im
Himmel und auf Erden mehr reden und schreiben, es sei denn in
viergliedrigen Sätzen und viergeteilten Abhandlungen.
Von der Mathematik kam man schnell und leicht zur
Astronomie und Astrologie hinüber. Die altorientalische
Praxis, die man vorfand, wurde schon von den Hofastrologen der
Omajjaden, eingehender aber am abbasidischen Hofe
weitergeführt. Man gelangte dabei zu Spekulationen, die dem
Offenbarungsglauben zuwiderliefen und deshalb von den Hütern
der Religion niemals gebilligt werden konnten. Für den
Gläubigen bestand nur der Gegensatz: Gott und Welt, oder
dieses Leben und das zukünftige. Für den Astrologen aber gab
es zwei Welten, eine himmlische und eine irdische, und Gott
und das Jenseits lagen in weiter Ferne. Je nachdem nun das
Verhältnis zwischen den Himmelskörpern und den Dingen unter
dem Monde vorgestellt wurde, bildete sich eine verständige
Astronomie oder eine phantastische Astrologie heraus. Ganz
frei vom astrologischen Wahne waren nur wenige. Solange
nämlich das ptolemäische System die Wissenschaft beherrschte,
war es einem gänzlich Ungebildeten leichter, den Unsinn zu
verspotten, als es dem gelehrten Forscher war, ihn zu
[71]überwinden. War ihm doch diese Erde mit ihren Lebewesen
ein Erzeugnis himmlischer Kräfte, ein Abglanz himmlischen
Lichtes, ein Nachklang der ewigen Sphärenharmonie. Wer nun den
Sternen- und Sphärengeistern Vorstellung und Willen zuschrieb,
ließ sie die Stelle der göttlichen Vorsehung vertreten, führte
auf ihre Thätigkeit also Gutes und Böses zurück und suchte aus
dem Stande ihrer Körper, mittelst derer sie nach dauernden
Gesetzen auf das Irdische wirken, die zukünftigen Ereignisse
zu erkunden. Andere freilich bezweifelten diese Vorsehung
zweiter Ordnung, sei es aus Erfahrungs- und Vernunftgründen,
sei es aus dem peripatetischen Glauben, dass die seligen
himmlischen Wesen reine denkende Geister seien, über
Vorstellung und Willen, somit über alle sinnliche Besonderheit
erhaben, sodass ihre fürsorgliche Wirkung nur das Wohl des
Ganzen bezwecke, niemals aber auf die Einzelpersönlichkeit
oder das Einzelgeschehen sich beziehen könne.
3. Auf dem Gebiete der Naturwissenschaften haben
muslimische Gelehrte ein reiches Material zusammengebracht, zu
einer wirklich wissenschaftlichen Behandlung ist es aber kaum
irgendwo gekommen. In den einzelnen Naturwissenschaften, deren
Ausbildung hier nicht verfolgt werden kann, hielt man sich an
überlieferten Systemen. Um die Weisheit Gottes und die
Wirkungen der Natur, die als eine Kraft oder eine Emanation
der Weltseele gefasst wurde, zu ergründen, wurden
alchemistische Versuche angestellt, die Zauberkräfte der
Talismane geprüft, die Einflüsse der Musik auf Tier- und
Menschenseele erforscht, physiognomische Beobachtungen
gemacht, die Wunder des Schlaf- und Traumlebens, der
Wahrsagerei und Prophetie zu deuten versucht u. s. w. Im
Mittelpunkt des Interesses stand natürlich der Mensch als
Mikrokosmos, der sämtliche Elemente und Kräfte des Alls in
sich vereinigen soll. Als das Wesentliche am Menschen galt die
Seele. Ihr Verhältnis zur Weltseele und ihr zukünftiges Los
waren [72]Gegenstände der Forschung. Aber auch über die
Vermögen der Seele und deren Lokalisierung in Herz und Hirn
wurde viel spekuliert. Einige hielten sich an Galen, andere
gingen über ihn hinaus und ließen den fünf äußeren Sinnen fünf
innere entsprechen, eine Lehre, die, nebst ähnlichen
Naturgeheimnissen, auf Apollonius von Tyane zurückgeführt
wurde.
Es versteht sich, dass bei dem Studium der mathematischen
und naturwissenschaftlichen Disziplinen die verschiedensten
Verhaltungsweisen gegenüber den Religionslehren möglich waren.
Doch wurden die propädeutischen Wissenschaften, sobald sie
selbständig auftraten, dem Glauben immer gefährlich. Mit der
Astronomie verband sich leicht die Annahme von der
Weltewigkeit, von einer ungeschaffenen Materie, von Ewigkeit
her bewegt. Und wenn die Himmelsbewegung ewig, dann wohl auch
der irdische Wechsel. Ewig sind, so wird von manchem gelehrt,
alle Reiche der Natur, ewig ist auch das Menschengeschlecht
und dreht sich im Kreise herum. Nichts Neues gibt es auf der
Welt, wie alles Andere wiederholen sich Ansichten und Begriffe
der Menschen. Was nur möglicherweise gethan, behauptet,
gewusst werden kann, ist schon dagewesen und wird einmal
wieder da sein.
Darüber ließ sich nun trefflich reden und klagen, ohne dass
die Wissenschaft viel dadurch gefördert wurde.
4. Etwas nützlicher schien die Wissenschaft der Medizin zu
sein, die aus naheliegenden Gründen von den hohen Herren
begünstigt wurde. Nicht am wenigsten ihretwegen beauftragten
die Chalifen so viele Männer mit dem Übersetzen griechischer
Werke. Kein Wunder also, dass der Einfluss
mathematisch-naturwissenschaftlicher Lehren, sowie der Logik,
auch in die Medizin eindrang. Der alte Mediziner war geneigt,
sich mit hergebrachten Zauberformeln und anderen von der
Erfahrung erprobten Mitteln zu begnügen. Aber die moderne
Gesellschaft des neunten Jahrhunderts forderte vom Arzte
philosophisches Wissen. Er [73]sollte die “Naturen” der
Nahrungs-, Genuss- und Heilmittel, die Mischungen des Körpers
und in jedem Falle die Einwirkungen der Gestirne kennen. Der
Arzt war der Bruder des Astrologen, dessen Wissen ihm
imponierte, weil es einen erhabeneren Gegenstand hatte als die
medizinische Praxis. Er sollte beim Alchemisten in die Schule
gehen und nach mathematisch-logischen Methoden seine Kunst
ausüben. Es genügte den Bildungsfanatikern des neunten
Jahrhunderts nicht, dass der Mensch nach dem Qijas, d. h.
logisch richtig zu sprechen, zu glauben und sich zu benehmen
hatte, er musste sich außerdem nach dem Qijas kurieren lassen.
Wie über die Grundlagen der Glaubens- und Pflichtenlehre,
wurde, am Hofe Wathik’s (842–847), über die Prinzipien der
Medizin in gelehrten Sitzungen disputiert. Es fragte sich
nämlich, mit Anlehnung an eine galenische Schrift, ob die
Medizin auf Überlieferung, Erfahrung oder Vernunfterkenntnis
beruhe, oder aber ob sie durch logische Deduktion (Qijas) auf
mathematisch-naturwissenschaftliche Sätze sich stütze.
5. Die hier flüchtig skizzierte Naturphilosophie galt den
meisten Gelehrten des neunten Jahrhunderts als Philosophie
schlechthin, im Gegensatz zu der theologischen Dialektik, und
wurde als pythagoreisch bezeichnet. Auch in das zehnte
Jahrhundert ging sie hinüber und ihr bedeutendster Vertreter
wurde der berühmte Arzt Razi (gest. 923 oder 932). Dieser war
in Rai geboren und mathematisch gebildet und hatte dann mit
großem Fleiße Medizin und Naturphilosophie studiert. Der
Dialektik war er abhold, er kannte die Logik nur bis zu den
kategorischen Figuren der ersten Analytik. Nachdem er als
Direktor des Krankenhauses seiner Vaterstadt und in Bagdad
thätig gewesen war, ging er auf Reisen und hielt sich an
verschiedenen Fürstenhöfen auf, u. a. bei dem Samaniden Mansur
ibn Ishaq, dem er ein medizinisches Werk widmete.
Vom ärztlichen Berufe und dem dazu erforderlichen Studium
hat Razi eine hohe Meinung. Die tausendjährige [74]Weisheit
der Bücher schätzt er mehr als die Erfahrungen des Einzelnen
in einem kurzen Leben, zieht aber diese den nicht
erfahrungsmäßig erprobten Folgerungen der “Logiker” vor.
Das Verhältnis zwischen Leib und Seele denkt er sich von
der Seele bestimmt. Es sollen also die Zustände und Leiden der
Seele aus der Physiognomie sich erkennen lassen, der Mediziner
soll zugleich Seelenarzt sein. Er verfasste darum auch eine
geistige Medizin, eine Art Diätetik der Seele. Um die
Vorschriften des muslimischen Gesetzes, das Weinverbot u. s.
w., kümmerte er sich dabei nicht. Sein Libertinismus scheint
ihn aber zum Pessimismus geführt zu haben. Er fand nämlich
mehr Übel als Gutes in der Welt und bezeichnete die Lust als
Abwesenheit von Unlust.
Wie hoch Razi den Aristoteles und Galen schätzte, um ein
tieferes Verständnis ihrer Werke hat er sich doch nicht
sonderlich bemüht. Eifrig betrieb er die Alchemie, seiner
Ansicht nach eine in der Existenz einer Urmaterie begründete
wirkliche Kunst, die den Philosophen unerlässlich sei, glaubte
auch, sie wäre von Pythagoras, Demokrit, Platon, Aristoteles
und Galen ausgeübt worden. Entgegen der peripatetischen Lehre
nahm er an, der Körper habe das Prinzip der Bewegung in sich
selbst, was allerdings ein fruchtbarer Gedanke in der
Naturwissenschaft hätte werden können, wenn er anerkannt und
weiter ausgebildet worden wäre.
Razis Metaphysik geht aus von alten Lehren, die seine
Zeitgenossen dem Anaxagoras, Empedokles, Mani u. A.
zuschrieben. An der Spitze seines Systems stehen fünf
gleichewige Prinzipien, der Schöpfer, die Universalseele, die
erste oder Urmaterie, der absolute Raum und die absolute Zeit
oder ewige Dauer. Damit sind die notwendigen Bedingungen der
wirklich existierenden Welt gegeben. Die einzelnen
Sinneswahrnehmungen setzen überhaupt eine Materie voraus, wie
die Zusammenfassung verschiedener [75]wahrgenommener
Gegenstände einen Raum. Die wahrgenommenen Veränderungen
zwingen uns ferner zur Annahme einer Zeit. Die Existenz
lebendiger Wesen führt uns auf eine Seele, und dass einige von
diesen lebendigen Wesen mit Vernunft begabt sind, d. h.
befähigt, die Künste zur höchsten Vollkommenheit zu bringen,
dies nötigt uns an einen weisen Schöpfer zu glauben, dessen
Vernunft alles aufs beste angeordnet hat.
Trotz der Ewigkeit seiner fünf Prinzipien spricht Razi also
von einem Schöpfer und gibt auch eine Schöpfungsgeschichte.
Zuerst nämlich wurde ein einfaches, reines, geistiges Licht
erschaffen, die Materie der Seelen, welche lichtartige,
einfache, geistige Substanzen sind. Jene Lichtmaterie oder die
Oberwelt, aus der die Seelen herkamen, heißt auch Vernunft
oder Licht vom Lichte Gottes. Dem Lichte folgt der Schatten,
aus dem, zum Dienste der vernünftigen Seele, die animalische
Seele geschaffen wird. Zugleich aber mit dem einfachen,
geistigen Lichte war schon anfangs ein zusammengesetztes da,
das ist der Körper, aus dessen Schatten nun die vier Naturen,
Wärme und Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit, hervorgehen.
Aus diesen vier Naturen werden zuletzt sämtliche himmlische
und irdische Körper gebildet. Aber das Alles geschieht von
Ewigkeit her, ohne zeitlichen Anfang, denn Gott war nie ohne
Thätigkeit.
Dass Razi Astrolog war, versteht sich nach dem Gesagten von
selbst. Die Himmelskörper bestehen ja nach ihm aus denselben
Elementen wie die irdischen Dinge und diese sind den
Einwirkungen jener fortwährend ausgesetzt.
6. Razi hatte sich nach zwei Seiten hin polemisch zu
verhalten. Er bekämpfte einerseits die muslimische Einheit
Gottes, die keine ewige Seele, Materie, Raum und Zeit neben
sich duldet, andererseits aber wendete er sich gegen das
dahritische System, das keinen Weltschöpfer anerkennt. Dieses
System, das von muslimischen Schriftstellern öfter, mit dem
gehörigen Abscheu natürlich, erwähnt [76]wird, scheint, wenn
auch zahlreiche, doch keine bedeutende Vertreter gefunden zu
haben. Die Anhänger des Dahr (s. I, 2 § 2) werden als
Materialisten, Sensualisten, Atheisten, Anhänger der
Seelenwanderung u. s. w. uns vorgeführt, aber Genaueres über
ihre Lehren erfahren wir nicht. Die Dahriten hatten jedenfalls
nicht das Bedürfnis, alles Seiende auf ein Prinzip
zurückzuführen, das geistigen Wesens und schaffenden Wirkens
war. Und eines solchen Prinzipes bedurfte die muslimische
Philosophie, sollte sie sich mit der Glaubenslehre auch nur
einigermaßen vertragen. Dazu eignete sich die Naturphilosophie
nicht, weil diese mehr Interesse zeigte für die mannigfachen
und oft gegensätzlichen Wirkungen der Natur als für den Einen
Urgrund des Alls. Besser aber erfüllte diesen Zweck der
neuplatonische Aristotelismus, dessen logisch-metaphysische
Spekulation darauf ausging, alles Seiende auf ein höchstes
Sein zurückzuführen oder alle Dinge aus einem obersten
Wirkungsprinzip abzuleiten. Doch bevor wir uns dieser Richtung
des Denkens, die schon im neunten Jahrhundert sich zu zeigen
anfing, zuwenden, haben wir noch über einen Versuch zu
berichten, die Naturphilosophie mit den Lehren des Glaubens zu
einer Religionsphilosophie zu verschmelzen.