II. Philosophie und arabisches Wissen
3. Die Glaubenslehre
1. Im Koran war den Muslimen eine Religion, keine Lehre,
Gesetze, aber keine Dogmen gegeben. Was sich darin der Logik
widersetzte, was wir uns aus den wechselnden
Lebensverhältnissen und den verschiedenen Stimmungen des
Propheten erklären, wurde von den ersten Gläubigen einfach
hingenommen, ohne zu fragen nach dem Wie und Warum. In den
eroberten Ländern aber fand man eine ausgebildete christliche
Dogmatik, sowie zoroastrische und [43]brahmanische Lehren vor.
Wie viel die Muslime den Christen verdanken, haben wir schon
öfter betont. Die Glaubenslehre ist von christlichen
Einflüssen wohl am meisten bestimmt worden. In Damaskus
wirkten orthodoxe und monophysitische Lehren, in Basra und
Bagdad vielleicht mehr nestorianische und gnostische Theoreme
auf die Bildung muslimischer Dogmen ein. Litterarisches hat
sich aus der ersten Zeit dieser Bewegung wenig erhalten. Man
wird sich aber nicht irren, wenn man dem persönlichen Verkehre
und dem schulmäßigen Unterricht eine bedeutende Wirkung
zuschreibt. Wie noch heute, lernte man damals im Orient nicht
viel aus Büchern, sondern mehr aus dem Munde des Lehrers. Die
Ähnlichkeit zwischen den ältesten Glaubenslehren im Islam und
den Dogmen des Christentums ist zu groß, dass man einen
direkten Zusammenhang leugnen könnte. Die erste Frage nämlich,
über die von muslimischen Gelehrten viel disputiert wurde, war
die nach der Freiheit des Willens. Die Willensfreiheit nun
wurde von den orientalischen Christen fast allgemein
angenommen. Nie und nirgends hat man vielleicht über das
Willensproblem, in der Christologie zunächst, aber auch in der
Anthropologie, so viel hin und her geredet, wie in den
christlichen Kreisen des Ostens zur Zeit der muslimischen
Eroberung.
Außer diesen zum Teil apriorischen Erwägungen gibt es auch
vereinzelte Notizen, die darauf hindeuten, dass einige von den
ersten Muslimen, welche die Willensfreiheit lehrten,
christliche Lehrer hatten.
Schon aus den gnostischen Systemen, nachher aber aus der
Übersetzungslitteratur, gesellte sich zu den
hellenistisch-christlichen eine Anzahl rein philosophischer
Elemente.
2. Eine nach logischer oder dialektischer Methode, sei es
mündlich oder schriftlich geäußerte, Behauptung nannten die
Araber im allgemeinen, ganz besonders aber in der
Glaubenslehre, einen Kalam (λόγος) und diejenigen, welche
solche Behauptungen aufstellten, hießen [44]mutakallimun. Von
der einzelnen Behauptung wurde der Name auf das ganze System
übertragen und darunter auch die einleitenden, grundlegenden
Bemerkungen über Methode u. s. w. mitverstanden. Wir nennen
die Wissenschaft des Kalam am besten theologische Dialektik
oder einfach Dialektik und übersetzen im folgenden
Mutakallimun mit Dialektiker.
Der Name Mutakallimun, anfangs allen Dialektikern
gemeinsam, ward später vorzugsweise den antimutazilitischen
und orthodoxen Theologen beigelegt. In letzterem Falle wäre er
dem Sinne nach gut mit Dogmatiker oder Scholastiker zu
übersetzen. Hatten nämlich die ersten Dialektiker das Dogma
noch zu bilden, die späteren brauchten es bloß darzulegen und
zu begründen.
Die Einführung der Dialektik war eine gewaltige Neuerung im
Islam. Heftig wurde ihr von den Anhängern der Tradition
widersprochen. Was über die Pflichtenlehre hinausging, hieß
ihnen Ketzerei. Der Glaube sollte Gehorsam sein, nicht
Erkenntnis, wie Murdschiten und Mutaziliten behaupteten. Die
Spekulation wurde von diesen geradezu als eine Pflicht der
Gläubigen hingestellt. Auch mit dieser Forderung söhnte die
Zeit sich aus. Der Überlieferung nach hatte der Prophet schon
gesagt: Das erste, was Gott geschaffen hat, ist das Wissen,
oder: die Vernunft.
3. Groß ist die Anzahl verschiedener Meinungen, die zum
Teil schon in der omajjadischen, hauptsächlich aber in der
ersten abbasidischen Zeit laut wurden. Je weiter sie
auseinander gingen, um so schwerer war es den Männern der
Überlieferung, sich da hinein zu finden. Allmählich aber
sonderten sich gewisse einheitliche Lehrgruppen aus, von denen
das rationalistische System der Mutaziliten, der Nachfolger
der Qadariten, die weiteste Verbreitung, besonders unter
Schiiten, fand. Vom Chalifen Mamun bis Mutawakkil kam es sogar
zur staatlichen Anerkennung. Früher von der weltlichen Macht
unterdrückt und verfolgt, [45]wurden die Mutaziliten jetzt
selber Inquisitoren des Glaubens, denen das Schwert die Stelle
des Beweises vertrat.
Ungefähr zu derselben Zeit aber fingen auch ihre Gegner,
die Traditionarier, damit an, ein Glaubenssystem aufzubauen.
Überhaupt fehlte es nicht an Vermittelungen zwischen dem
naiven Glauben der Menge und der Gnosis der Dialektiker. Dem
spiritualistischen Gepräge des Mutazilitismus gegenüber trugen
diese Vermittelungen in Bezug auf die Gotteslehre einen
anthropomorphistischen, in Bezug auf Anthropologie und
Kosmologie einen materialistischen Charakter. Die Seele z. B.
wurde von ihnen körperlich oder als ein Accidens des Körpers
aufgefasst, und das göttliche Wesen als ein menschlicher
Körper vorgestellt. Den bildlichen Gott-Vater der Christen
verabscheute die Religionslehre und Kunst der Muslime, aber
abgeschmackte Grübeleien über die Gestalt Allah’s gab es im
Islam die Fülle. Einige gingen so weit, ihm sämtliche
Körperglieder zuzusprechen, nur mit Ausnahme des Bartes und
anderer Privilegien orientalischer Männer.
Es ist unmöglich, all die dialektischen Sekten, die oft
zunächst als politische Parteien aufgetreten waren,
ausführlicher zu besprechen. Von philosophiegeschichtlichem
Standpunkte genügt es auch, die mutazilitischen Hauptlehren,
insoweit sie ein allgemeines Interesse beanspruchen dürfen,
hier vorzuführen.
4. Die erste Frage nun betraf menschliches Handeln und
menschliches Schicksal. Die Vorläufer der Mutaziliten,
Qadariten genannt, lehrten die Willensfreiheit des Menschen.
Auch noch in späterer Zeit, als ihre Spekulation sich mehr auf
theologisch-metaphysische Probleme richtete, wurden die
Mutaziliten immer zuerst bezeichnet als Anhänger der
göttlichen Gerechtigkeit, die kein Böses verursache und nach
seinem Verdienste den Menschen belohne oder strafe, dann aber,
an zweiter Stelle, als Bekenner der Einheit Gottes, d. h. der
Eigenschaftslosigkeit seines Wesens, an sich betrachtet. Auf
die systematische Darstellung ihrer [46]Lehren werden die
Logiker (s. IV, 2 § 1) ihren Einfluss ausgeübt haben. Schon in
der ersten Hälfte des zehnten Jahrhunderts fing das
mutazilitische System mit dem Einheitsbekenntnis an und war
die Lehre von Gottes Gerechtigkeit, die sich in allen seinen
Werken kund gebe, an die zweite Stelle gerückt.
Mit der Behauptung der Willensfreiheit sollte die
menschliche Verantwortlichkeit, sowie die Heiligkeit Gottes,
der nicht die sündigen Handlungen der Menschen unmittelbar
hervorbringen könne, gerettet werden. Darum musste der Mensch
Herr seiner Thaten sein, aber auch bloß dieser. Denn dass die
Kraft, welche überhaupt zum Handeln befähigt, oder das
Vermögen, sowohl Gutes als Böses zu thun, unmittelbar von Gott
dem Menschen zukomme, wurde von wenigen bezweifelt. Daher die
vielen, mit einer Kritik des philosophischen Zeitbegriffes
verquickten, spitzfindigen Erörterungen über die Frage, ob das
von Gott im Menschen geschaffene Vermögen der Handlung
voraufgehe oder zeitlich damit zusammenfalle. Ginge nämlich
die Kraft der That vorher, so müsste sie entweder bis zur That
fortdauern, was ihrem accidentellen Charakter widerspreche
(vgl. II, 3 § 12), oder aber schon vor der That aufhören zu
existieren, und in diesem Falle wäre sie überhaupt
entbehrlich.
Vom menschlichen Handeln wurde die Spekulation weiter auf
das Wirken der Natur übertragen. Statt Gott oder der Mensch
hieß hier der Gegensatz Gott oder die Natur. Die
hervorbringenden und zeugenden Kräfte der Natur wurden als
Mittel oder nächste Ursachen anerkannt und von einigen zu
erforschen gesucht. Die Natur selbst aber, wie die ganze Welt,
war ihrer Ansicht nach ein Werk Gottes, eine Schöpfung seiner
Weisheit. Wie die Allmacht Gottes im Sittlichen an seiner
Heiligkeit oder Gerechtigkeit eine Schranke fand, so hier im
Natürlichen an seiner Weisheit. Auch Übel und Böses in der
Welt wurden aus der Weisheit Gottes, die Alles zum Besten
[47]schicke, erklärt. Erzeugnis oder Zweck göttlicher
Thätigkeit ist es nicht. Gott könne zwar, so hatten Frühere
behauptet, Böses und Unvernünftiges thun, er thäte es nur
nicht. Dagegen lehrten die späteren Mutaziliten, Gott habe gar
nicht die Macht, so etwas seinem Wesen Widerstreitendes zu
thun. Von ihren darob entrüsteten Gegnern, die Gottes
unbeschränkte Macht und seinen unergründlichen Willen
unmittelbar in allem Handeln und Wirken thätig sich
vorstellten, wurden sie wegen solcher Lehre mit den
dualistischen Magiern verglichen. Der konsequente Monismus war
auf Seiten dieser Gegner, die den Menschen und die Natur nicht
neben und unter Gott zu Schöpfern ihrer Thaten oder Wirkungen
machen möchten.
5. Die Mutaziliten hatten, wie schon aus dem Vorhergehenden
erhellt, einen anderen Gottesbegriff als die Menge und die
Traditionarier. Dies zeigte sich nun, im Fortgange der
Spekulation, besonders deutlich in der Lehre von den
göttlichen Eigenschaften. Von Anfang an war im Islam die
Einheit Gottes stark betont. Das hinderte aber nicht, dass man
ihm, nach menschlicher Analogie, viele schöne Namen gab und
mehrere Attribute beilegte. Als die vorzüglichsten stellten
sich, gewiss unter dem Einflusse christlicher Dogmatik,
allmählich heraus: Wissen, Macht, Leben, Wille, Rede oder
Wort, Gesicht und Gehör. Von diesen wurden Gesicht und Gehör
zuerst in geistigem Sinne gedeutet oder ganz beseitigt. Aber
mit irgend einer Vielheit gleichewiger Eigenschaften schien
die absolute Einheit des göttlichen Wesens sich nicht
vertragen zu wollen. Wäre das nicht die Trinität der Christen,
die ja auch schon die drei Personen des Einen göttlichen
Wesens als Eigenschaften gedeutet hatten? Teils suchte man
nun, um dieser Inkonvenienz zu entgehen, einige Eigenschaften
aus anderen begrifflich abzuleiten und auf eine, z. B. das
Wissen oder die Macht, zurückzuführen, teils auch sie samt und
sonders als Zustände des göttlichen Wesens zu fassen oder mit
dem Wesen selbst zu identifizieren, wobei [48]denn freilich
ihre Bedeutung so ziemlich verschwand. Mitunter wurde
versucht, durch Künsteleien des sprachlichen Ausdrucks noch
etwas davon zu retten. Während z. B. ein Philosoph, die
Eigenschaften leugnend, behauptete, Gott sei wissend seinem
Wesen nach, drückte ein mutazilitischer Dialektiker das so
aus: Gott ist wissend, aber durch ein Wissen, das er selbst
ist.
Nach Ansicht der Traditionarier ward auf diese Weise der
Gottesbegriff allen Inhaltes beraubt. Über negative
Bestimmungen, Gott sei nicht wie die Dinge dieser Welt, er sei
über Raum, Zeit, Bewegung u. s. w. erhaben, kamen die
Mutaziliten kaum hinaus. Aber dass er Schöpfer der Welt sei,
daran hielten sie fest. Wenn man auch von Gottes Wesen wenig
aussagen konnte, aus seinen Werken glaubte man ihn zu
erkennen.
Die Schöpfung war den Mutaziliten, wie ihren Gegnern, ein
absoluter Akt Gottes, die Weltexistenz eine zeitliche.
Energisch bekämpften sie die Lehre von der Weltewigkeit, die,
durch die aristotelische Philosophie gestützt, im Orient
weitverbreitet war.
6. Als eins von den ewigen Attributen Gottes fanden wir die
Rede oder das Wort. Wahrscheinlich mit Anschluss an die
christliche Logoslehre wurde nämlich die Ewigkeit des dem
Propheten geoffenbarten Korans gelehrt. Das war nach den
Mutaziliten geradezu Abgötterei, neben Allah an einen ewigen
Koran zu glauben. Die mutazilitischen Chalifen verkündigten
dagegen als Staatsdogma, der Koran sei geschaffen worden. Wer
dies leugnete, wurde öffentlich bestraft. Obgleich nun die
Mutaziliten mit diesem Dogma dem ursprünglichen Islam näher
stehen mochten als ihre Gegner, so hat doch die Geschichte den
letzteren Recht gegeben. Fromme Bedürfnisse waren eben
mächtiger als logische Schlussfolgerungen. Viele Mutaziliten
setzten sich, nach der Meinung ihrer Glaubensbrüder, über den
Koran, das Wort Gottes, allzuleicht hinweg. Wenn es zu ihren
Theorien nicht stimmte, wurde es aus- [49]und umgedeutet. In
Wirklichkeit galt manchem die Vernunft mehr als das offenbarte
Buch. Aus der Vergleichung nicht nur der drei
Offenbarungsreligionen, sondern auch dieser mit persischer und
indischer Religionslehre und philosophischer Spekulation,
ergab sich eine, die Gegensätze versöhnende, natürliche
Religion. Aufgebaut wurde diese auf der Grundlage eines
angeborenen, allgemeinnotwendigen Wissens, dass es Einen Gott
gebe, der als weiser Schöpfer die Welt hervorgebracht und auch
den Menschen mit Vernunft begabt habe, damit er seinen
Schöpfer erkennen und Gutes und Böses unterscheiden könne.
Dieser Natur- oder Vernunftreligion gegenüber sei dann die
Erkenntnis der Offenbarungslehren etwas Hinzukommendes, ein
erworbenes Wissen.
Mit dieser Behauptung hatten die konsequentesten
Mutaziliten sich von der Übereinstimmung der muslimischen
Gemeinde losgesagt, sich also thatsächlich außerhalb des
katholischen Glaubens gestellt. Anfangs beriefen sie sich noch
auf jene Übereinstimmung. Sie konnten es thun, so lange die
Regierung ihnen günstig gesinnt war. Es dauerte aber nicht
lange. Bald erfuhren sie, was seitdem noch öfter erfahren
wurde: die Völker lassen sich leichter von oben herab eine
Religion als eine Aufklärung vorschreiben.
7. Nach diesem Überblick sehen wir uns einige von den
bedeutendsten Mutaziliten näher an, damit dem allgemeinen
Bilde nicht die individuellen Züge fehlen.
Zuerst betrachten wir Abu-l-Hudhail al-Allaf, der um die
Mitte des neunten Jahrhunderts starb. Er war ein berühmter
Dialektiker, einer der ersten, die der Philosophie einen
Einfluss auf ihre theologischen Lehren gestatteten.
Dass eine Eigenschaft irgendwie einem Wesen inhärieren
könne, lässt sich nach Abu-l-Hudhail nicht denken: entweder
muss sie mit dem Wesen identisch oder davon verschieden sein.
Doch sieht er sich nach einer Vermittlung um. Gott ist, nach
ihm, wissend, mächtig, lebendig durch Wissen, Macht und Leben,
die sein Wesen selbst [50]sind. Wie auch schon von
christlicher Seite geschehen war, nennt er jene drei
Bestimmungen die Modi (wudschuh) des göttlichen Wesens. Auch
Hören, Sehen u. a. lässt er sich als ewig in Gott gefallen,
jedoch nur mit Rücksicht auf die später zu schaffende Welt.
Übrigens mag es ihm und anderen von der Zeitphilosophie
Berührten leicht genug gewesen sein, diese und ähnliche
Ausdrücke, wie das Schauen Gottes am jüngsten Tage,3
spiritualistisch zu deuten, da sie ja das Sehen und Hören
überhaupt als geistige Akte auffassten. Abu-l-Hudhail
behauptete z. B., die Bewegung sei sichtbar, tastbar aber
nicht, weil sie kein Körper sei.
Nicht ewig soll nun aber der Wille Gottes sein. Im
Gegenteil nimmt Abu-l-Hudhail absolute Willensäußerungen an,
sowohl von dem wollenden Wesen wie von dem gewollten
Gegenstande verschieden. So nimmt das absolute Schöpfungswort
eine Mittelstellung ein zwischen dem ewigen Schöpfer und der
geschaffenen zeitlichen Welt. Diese Willensäußerungen Gottes
sind eine Art Mittelwesen, mit den platonischen Ideen oder den
Sphärengeistern zu vergleichen, aber wohl mehr als
immaterielle Kräfte, denn als persönliche Geister gedacht.
Von dem absoluten Schöpfungsworte unterscheidet
Abu-l-Hudhail das accidentelle Offenbarungswort, das sich als
Befehl und Verbot, in materieller, räumlicher Erscheinung an
die Menschen kund gibt und also nur für diese zeitliche Welt
Bedeutung hat. Die Möglichkeit, nach dem göttlichen
Offenbarungsworte zu leben oder dem zu widerstreiten, ist
folglich nur in diesem Leben vorhanden. Verpflichtendes Gebot
und Verbot setzt Willensfreiheit und die Fähigkeit danach zu
handeln voraus. Im zukünftigen Leben dagegen gibt es keine
gesetzlichen Verpflichtungen, somit auch keine Freiheit mehr;
Alles hängt dort von der absoluten Bestimmung Gottes ab. Auch
wird [51]es im Jenseits keine Bewegung geben, denn wie die
Bewegung einmal angefangen hat, muss sie, am Ende der Welt,
aufhören zur ewigen Ruhe. An eine körperliche Auferstehung
dürfte also Abu-l-Hudhail wohl nicht geglaubt haben.
Die menschlichen Handlungen unterscheidet er in natürliche
und sittliche oder “Handlungen der Glieder und des Herzens”.
Sittlich ist eine Handlung nur, wenn wir sie frei verrichten.
Die sittliche That ist des Menschen selbsterworbenes Eigentum,
sein Wissen dagegen kommt ihm von Gott her zu, teils durch
Offenbarung, teils durch natürliche Erleuchtung. Schon vor
aller Offenbarung ist der Mensch von Natur verpflichtet, also
auch wohl im Stande, Gott zu erkennen, Gutes und Böses zu
unterscheiden, und tugendhaft, wahrhaftig und gerecht zu
leben.
8. Ein merkwürdiger Mensch und Denker ist ein jüngerer
Zeitgenosse und, wie es scheint, Schüler des Abu-l-Hudhail,
gewöhnlich Al-Nazzam genannt. Er starb im Jahre 845. Ein
phantastischer, unruhiger, ehrgeiziger Mann, kein
folgerichtiger, aber doch ein kühner und ehrlicher Denker, so
hat ihn Dschahiz, einer seiner Schüler, uns vorgestellt. Die
Leute hielten ihn für einen Verrückten oder einen Ketzer.
Vieles in seinen Lehren berührt sich mit dem, was den
Orientalen als Philosophie des Empedokles und Anaxagoras
bekannt war (vgl. auch Abu-l-Hudhail).
Nach der Ansicht Nazzams kann Gott überhaupt kein Böses
thun, ja er kann nur das, was er als das Beste für seine
Diener erkennt. Seine Allmacht reicht auch nicht weiter als
die wirkliche That. Wer könnte ihn daran hindern, die schöne
Überfülle seines Wesens zu verwirklichen? Einen Willen im
eigentlichen Sinne, der immer ein Bedürfnis voraussetze, ist
Gott gar nicht beizulegen. Gottes Wille ist vielmehr nur eine
Bezeichnung für seine Thätigkeit selbst oder für die den
Menschen erteilten Befehle. Die Schöpfung ist ein einmaliger
Akt, mit dem [52]Alles zugleich erschaffen, sodass Eins im
Andern enthalten ist und im Laufe der Zeit die verschiedenen
Exemplare von Mineralien, Pflanzen und Tieren, sowie die
vielen Adamskinder, nach und nach aus ihrem latenten Zustande
in die Erscheinung treten.
Mit den Philosophen verwirft Nazzam die Atomenlehre (s. II,
3 § 12), weiß sich dann aber das Durchlaufen einer bestimmten
Strecke, wegen der unendlichen Teilbarkeit des Raumes, nur
durch Sprünge zu erklären. Statt aus Atomen lässt er die
körperlichen Substanzen aus Accidenzen zusammengesetzt sein.
Wie sich Abu-l-Hudhail die Inhärenz von Eigenschaften in einem
Wesen nicht denken konnte, so kann sich Nazzam das Accidens
nur als die Substanz selbst oder als einen Teil der Substanz
vorstellen. So ist das Feuer oder das Warme z. B. latent im
Holze vorhanden, wird aber frei, wenn durch Reibung sein
Antagonist, das Kalte, verschwindet. Es findet dabei eine
Bewegung oder Umsetzung, aber keine qualitative Veränderung
statt. Die sinnlichen Qualitäten, wie Farben, Geschmäcke und
Gerüche, sind nach Nazzam Körper.
Auch die Seele oder den Geist des Menschen fasst er als
einen feinen Körper auf. Freilich ist die Seele des Menschen
vorzüglichster Teil, sie durchdringt den Körper, ihr Organ,
ganz und ist der wirkliche, wahrhafte Mensch zu nennen.
Gedanken und Strebungen werden als Bewegungen der Seele
definiert.
In Glaubenssachen und Gesetzesfragen verwirft Nazzam sowohl
die Übereinstimmung der Gemeinde als auch die analogische
Interpretation des Rechtes, und beruft sich, schiitisch, auf
den unfehlbaren Imam. Er hält es für möglich, dass alle
Muslime eine irrige Lehre übereinstimmend zulassen, wie z. B.
dass Mohammed im Unterschiede von anderen Propheten eine
Mission für die ganze Menschheit habe. Gott sendet aber jeden
Propheten zur ganzen Menschheit.
Übrigens teilt Nazzam in Bezug auf die Erkenntnis
[53]Gottes und der sittlichen Pflichten durch die Vernunft die
Ansicht des Abu-l-Hudhail. Von der unnachahmbaren
Vortrefflichkeit des Korans ist er nicht sonderlich überzeugt.
Es soll das ewige Wunder des Korans nur darin bestehen, dass
die Zeitgenossen Mohammeds davon abgehalten wurden, dem Koran
Ähnliches hervorzubringen.
Von der muslimischen Eschatologie hat er wohl nicht viel
gehalten. Wenigstens löst sich für ihn die Höllenqual in einen
Verbrennungsprozess auf.
9. Aus der Schule Nazzams werden uns viele synkretistische
Lehren überliefert, alle ohne Originalität. Von den Männern,
die aus ihr hervorgegangen, ist der berühmteste der Schöngeist
und Naturphilosoph Dschahiz (gest. 869), der vom echten
Gelehrten verlangte, er solle das Studium der Theologie mit
dem der Naturwissenschaft verknüpfen. In allen Dingen spürt er
die Wirkungen der Natur, in diesen aber einen Hinweis auf den
Schöpfer der Welt. Die menschliche Vernunft ist im Stande, den
Schöpfer zu erkennen und ebenso das Bedürfnis nach einer
prophetischen Offenbarung einzusehen. Des Menschen Verdienst
ist nur sein Wollen, denn einerseits sind alle seine Thaten im
Naturgeschehen verflochten, und andererseits ist sein ganzes
Wissen notwendig von oben bestimmt. Doch scheint dem Wollen,
das aus dem Wissen abgeleitet wird, keine große Bedeutung
zuzukommen. Wenigstens wird der Wille im göttlichen Wesen ganz
negativ gefasst, d. h. Gott wirke niemals unbewusst und mit
Missfallen an seinem Werke.
In alldem ist wenig Eigenes. Das Mittelmaß ist sein
ethisches Ideal, aber auch seines Geistes Geschick. Nur im
Kompilieren seiner vielen Schriften ist Dschahiz unmäßig
gewesen.
10. Bei den älteren Mutaziliten überwiegen die ethischen
und naturphilosophischen Erwägungen; bei den späteren gewinnen
logisch-metaphysische Betrachtungen das Übergewicht. Besonders
neuplatonische Einflüsse sind hier zu verspüren. [54]
Muammar, dessen Lebenszeit nicht näher bestimmt wird (etwa
um 900 anzusetzen), hat manches mit den Obengenannten
gemeinsam. Aber weit nachdrücklicher leugnet er die Existenz
göttlicher Eigenschaften, die der absoluten Einheit des Wesens
widersprechen. Gott ist über jede Vielheit hinaus. Er kennt
weder sich selbst noch ein Anderes, denn das Wissen würde in
ihm eine Vielheit voraussetzen. Auch ist er überewig zu
nennen. Dennoch ist er als Schöpfer der Welt anzuerkennen.
Freilich hat er nur Körper geschaffen, und diese schaffen
selbst, sei es durch Naturwirkung, sei es mit Willen, ihre
Accidenzen. Die Zahl dieser Accidenzen ist unendlich, denn sie
sind ihrem Wesen nach nichts weiter als die begrifflichen
Beziehungen des Denkens. Muammar ist Conceptualist. Bewegung
und Ruhe, Gleichheit und Verschiedenheit u. s. w. sind nichts
an sich, sondern haben nur eine begriffliche oder ideelle
Wirklichkeit. Die Seele, die das wahre Wesen des Menschen sein
soll, wird als eine Idee oder eine immaterielle Substanz
gefasst. Wie sie sich dann zum Körper und zu dem göttlichen
Wesen verhalte, wird nicht klargestellt. Die Überlieferung ist
verworren.
Des Menschen Wille ist frei, das Wollen eigentlich seine
einzige That. Denn die äußere Handlung gehört dem Körper (vgl.
Dschahiz).
Die Schule von Bagdad, der Muammar anzugehören scheint, war
conceptualistisch. Mit Ausnahme der allgemeinsten
Bestimmungen, denen des Seins und des Werdens, ließ sie die
Universalien nur als Begriffe Bestand haben. Näher dem
Realismus stand Abu Haschim von Basra (gest. 933). Gottes
Eigenschaften, sowie die Accidenzen oder Gattungsbegriffe
überhaupt, fasste er als ein Mittleres zwischen Sein und
Nichtsein auf. Er nannte sie Zustände oder Modi. Als
Erfordernis alles Wissens bezeichnete er den Zweifel. Ein
naiver Realist war er nicht.
Auch mit dem Nichtsein trieben mutazilitische Denker ein
dialektisches Spiel. Es werde gedacht, es müsse also [55]dem
Nichtsein wie dem Sein eine Art Wirklichkeit zukommen,
folgerte man. Versucht doch der Mensch eher das Nichts zu
denken, als dass er überhaupt nicht denke.
11. Im neunten Jahrhundert hatten sich im Kampfe gegen die
Mutaziliten mehrere dialektische Systeme ausgebildet, von
denen u. a. das karramitische sich lange über das zehnte
Jahrhundert hinaus erhielt. Aus den Reihen der Mutaziliten
aber erstand der Mann, der die Gegensätze zu vermitteln
berufen war, und der das zunächst im Osten, später im ganzen
Islam als orthodox anerkannte Lehrsystem aufstellte. Es war
al-Aschari (873–935), der es verstand, Gotte zu geben, was
Gottes, und dem Menschen, was des Menschen ist. Den groben
Anthropomorphismus der antimutazilitischen Dialektiker wies er
ab, Gott über alles Körperliche und Menschliche hinausrückend,
ihm aber seine Allmacht und Allwirksamkeit lassend. Die Natur
büßte bei ihm alle ihre Wirksamkeit ein, dem Menschen aber
wurde ein gewisses Verdienst vorbehalten, darin bestehend,
dass er den von Gott in ihm geschaffenen Handlungen seine
Zustimmung erteilen, sich dieselben als seine Thaten aneignen
könne. Auch wurde dem Menschen sein sinnlich-geistiges Wesen
nicht verkümmert. Er durfte hoffen auf die Auferstehung des
Fleisches und das Schauen Gottes. Was die koranische
Offenbarung betrifft, unterschied Aschari zwischen einem
ewigen Worte in Gott und dem in der Zeit geoffenbarten Buche,
wie wir es besitzen.
Bei der Ausführung seiner Lehren zeigte sich Aschari in
keiner Weise originell, sondern er fasste nur Gegebenes
vermittelnd zusammen, was denn nicht ohne Widersprüche
gelingen wollte. Die Hauptsache jedoch war, dass seine
Kosmologie, Anthropologie und Eschatologie, zur Erbauung
frommer Seelen, nicht allzu weit von dem Wortlaute der
Tradition sich entfernten, und dass seine Theologie, infolge
einer etwas vergeistigten Auffassung Gottes, auch höher
Gebildete nicht ganz unbefriedigt ließ.
Aschari stützt sich auf die Offenbarung des Korans.
[56]Eine davon unabhängige Vernunfterkenntnis in Bezug auf
göttliche Dinge erkennt er nicht an. Die Sinne sollen im
allgemeinen nicht täuschen, dagegen wohl unser Urteil. Zwar
erkennen wir Gott mit unserer Vernunft, aber nur aus der
Offenbarung, der einzigen Quelle solchen Wissens.
Gott ist nun, nach Aschari, zunächst der allmächtige
Schöpfer. Ferner ist er allwissend, er weiß, was die Menschen
thun und was sie thun wollen, was geschieht und wie das, was
nicht geschieht, wenn es geschähe, geschehen wäre. Dazu kommen
Gott alle Bestimmungen zu, die irgend eine Vollkommenheit
ausdrücken, nur dass sie Gott in einem anderen, höheren Sinne
eignen als den Geschöpfen. In Schöpfung und Erhaltung der Welt
ist Gott die einzige Ursache; alles Weltgeschehen rührt
fortwährend unmittelbar von ihm her. Der Mensch aber ist sich
des Unterschiedes zwischen seinen unwillkürlichen Bewegungen,
wie Zittern und Beben, und seiner mit Willen und Wahl
ausgeführten Handlungen wohl bewusst.
12. Das Eigentümlichste, was die Dialektik der Muslime
ausgebildet hat, ist ihre Atomenlehre. Die Entwicklung dieser
Lehre liegt noch fast ganz im Dunkeln. Schon von Mutaziliten,
besonders aber von deren Gegnern vor Aschari ist sie vertreten
worden. Unsere Darstellung zeigt, wie sie sich in der
ascharitischen Schule erhalten, zum Teil vielleicht erst
ausgebildet hat.
Die Atomenlehre der muslimischen Dialektiker hat ihre
Quelle allerdings in griechischer Naturphilosophie, aber ihre
Aufnahme und Weiterbildung sind von den Bedürfnissen
theologischer Polemik und Apologetik bestimmt, wie sich dies
ähnlich bei einzelnen Juden und bei gläubigen Katholiken
beobachten lässt. Dass man, im Islam, den Atomismus
aufgegriffen habe, nur weil Aristoteles ihn bekämpfte, ist
nicht wohl glaublich. Wir haben hier einen verzweifelten Kampf
um ein religiöses Gut zu verzeichnen, dabei die Waffen nicht
gewählt werden. Der Zweck entscheidet. Die Natur soll nicht
aus sich selbst heraus, [57]sondern aus einem göttlichen
Schöpfungsakte erklärt; nicht als eine ewige göttliche
Ordnung, sondern als ein Geschöpf vergänglichen Daseins diese
Welt angesehen werden. Als freiwirkender, allmächtiger
Schöpfer soll Gott gedacht und benannt werden, nicht als
unpersönliche Ursache oder ruhender Urgrund. An der Spitze der
muslimischen Dogmatik steht daher seit alter Zeit die
Schöpfungslehre als ein Zeugnis gegen die
heidnisch-philosophische Ansicht von der Ewigkeit der Welt und
von den Wirkungen der Natur.
Was wir von der Sinnenwelt wahrnehmen, so reden diese
Atomisten, sind vorübergehende Accidenzen, die jeden
Augenblick kommen und gehen. Das Substrat dieses Wechsels sind
die (körperlichen) Substanzen, die, weil in oder an ihnen
Veränderungen vorgehen, nicht unveränderlich gedacht werden
können. Sind sie, die Substanzen, veränderlich, dann können
sie auch nicht dauerhaft sein, denn Ewiges ändert sich nicht.
Folglich ist Alles in der Welt, da Alles sich ändert,
entstanden, von Gott erschaffen.
Das ist der Ausgangspunkt. Von der Veränderlichkeit alles
Existierenden wird geschlossen auf den ewigen,
unveränderlichen Schöpfer. Die Späteren aber schließen, unter
dem Einfluss muslimischer Philosophen, von der Kontingenz oder
Possibilität alles Endlichen auf das notwendig-existierende
Wesen Gottes.
Kehren wir zur Welt zurück. Sie besteht aus Accidenzen und
deren Substrate, die Substanzen. Substanz und Accidens oder
Qualität sind die zwei Kategorien, mittelst derer die
Wirklichkeit begriffen wird. Die übrigen Kategorien fallen
entweder unter die der Qualität oder lösen sich in
Verhältnisse und Denkbestimmungen auf, denen, objektiv, nichts
entspricht. Die Materie als Möglichkeit ist nur im Denken, die
Zeit ist nichts anderes als Koexistenz verschiedener
Gegenstände oder simultane Beziehung der Vorstellung, und Raum
und Größe kommen zwar den Körpern zu, nicht aber den einzelnen
Teilen (Atomen), aus denen die Körper zusammengesetzt sind.
[58]
Was von den Substanzen überhaupt ausgesagt werden kann,
sind Accidenzen. Ihre Anzahl ist, an jeder einzelnen Substanz,
zahlreich oder gar, wie einige behaupten, unendlich, da von
beliebigen gegensätzlichen Bestimmungen, zu denen auch die
negativen gehören, jeder Substanz entweder die eine oder die
andere zukomme. Das negative Accidens hat um nichts weniger
Realität als das positive. Gott schafft auch die Privation und
die Vernichtung, wofür es denn freilich nicht leicht ist, das
Substrat ausfindig zu machen. Und da jedes Accidens immer nur
seinen Sitz in irgend einer Substanz haben kann, und nicht in
einem anderen Accidens, so gibt es in Wirklichkeit kein
Allgemeines, mehreren Substanzen Gemeinsames. Die Universalien
sind in keiner Weise in den Einzeldingen, sie sind Begriffe.
Somit gibt es keine Verbindung zwischen den Substanzen, sie
stehen getrennt für sich als Atome, die einander gleich sind.
Eigentlich haben sie eine größere Ähnlichkeit mit den
Homöomerien des Anaxagoras als mit den kleinsten Stoffteilchen
der Atomisten. Sie sind an sich unräumlich (ohne makan), haben
aber ihren Ort (hajjiz) und füllen durch ihre Position den
Raum aus. Es sind also unausgedehnte, punktuell gedachte
Einheiten, aus denen die räumliche Körperwelt aufgebaut wird.
Zwischen ihnen soll es ein Leeres geben, denn sonst wäre, da
die Atome nicht in einander eindringen, jede Bewegung
unmöglich. Alle Veränderung aber wird auf Vereinigung und
Trennung, Bewegung und Ruhe zurückgeführt. Sonstige, wirksame
Beziehungen zwischen den Atomen-Substanzen gibt es nicht. Sie
sind einmal da und freuen sich ihres Daseins, haben aber gar
nichts mit einander zu thun. Die Welt ist eine
diskontinuierliche Masse, ohne lebendige Wechselwirkung.
Das Altertum hatte dieser Auffassung vorgearbeitet, u. a.
auch mit seiner Lehre von dem diskontinuierlichen Charakter
der Zahl. Wurde die Zeit nicht als die Zahl [59]der Bewegung
definiert? Warum sollte man nun nicht jene Lehre auf Raum,
Zeit und Bewegung übertragen? Die Dialektiker thaten es, und
es mag auch die Skepsis der Alten dabei mitgewirkt haben. Wie
die substanzielle Körperwelt wurden auch Raum, Zeit und
Bewegung in Atome ohne Ausdehnung, in Momente ohne Dauer
zerlegt. Die Zeit wird eine Aufeinanderfolge von vielen
einzelnen Jetzt, und zwischen je zwei Zeitmomenten gibt es ein
Leeres. Ebenso verhält es sich mit der Bewegung: zwischen je
zwei Bewegungen gibt es eine Ruhe. Eine schnelle und eine
langsame Bewegung besitzen dieselbe Geschwindigkeit, nur hat
die letztere mehr Ruhepunkte. Um dann aber über den leeren
Raum, das unausgefüllte Zeitmoment und die Ruhepause zwischen
zwei Bewegungen hinauszukommen, wird die Lehre vom Sprunge
benutzt. Von Raumpunkt zu Raumpunkt soll die Bewegung, von
Moment zu Moment die Zeit weiterspringen.
Diese phantastische Lehre brauchte man eigentlich gar
nicht. Sie war eine Antwort auf naives Fragen. Konsequent
hatte man die ganze räumlich-zeitlich bewegte Körperwelt in
Atome mit deren Accidenzen zerstückt. Wohl behaupteten einige,
dass zwar die Accidenzen jeden Augenblick schwinden, die
Substanzen dagegen dauernden Bestand haben, aber andere
machten da keinen Unterschied. Wie die Accidenzen, so lehrten
sie, bestehen auch die Substanzen, die ja Raumpunkte sind, nur
einen Zeitpunkt. Jeden Augenblick schafft Gott die Welt aufs
neue, sodass ihr jetziger Zustand weder mit dem unmittelbar
vorhergehenden noch mit dem gleich folgenden in irgend einem
wesentlichen Zusammenhange steht. Es gibt also eine Reihe
aufeinander folgender Welten, die sich nur scheinbar als eine
Welt darstellen. Dass es für uns so etwas wie Zusammenhang
oder Kausalität in den Erscheinungen gibt, rührt nur daher,
dass es Allah nach seinem unergründlichen Willen heut oder
morgen nicht beliebt, die Gewohnheit des Geschehens durch ein
Wunder zu unterbrechen, [60]was er aber jeden Augenblick zu
thun im Stande ist. Wie aller Kausalzusammenhang nach dem
atomistischen Kalam verschwindet, wird sehr gut durch das
klassische Beispiel vom schreibenden Menschen ausgedrückt.
Gott schafft nämlich in ihm, und zwar an jedem Zeitpunkte aufs
neue, zuerst den Willen, dann das Vermögen zu schreiben,
darauf die Bewegung der Hand, und endlich die Bewegung der
Feder. Eins ist dabei völlig unabhängig von dem Andern.
Wenn man nun dagegen einwendet, dass mit der Kausalität
oder der Regelmäßigkeit des Weltgeschehens auch die
Möglichkeit alles Wissens aufgehoben sei, so erwidert der
gläubige Denker, Allah wisse ja Alles vorher schon, er schaffe
nicht nur die Dinge der Welt und was sie zu wirken scheinen,
sondern auch das Wissen darum in der menschlichen Seele, und
wir brauchen nicht weiser zu sein als Er. Er weiß es am
besten.
Allah und die Welt, Gott und der Mensch, über diese
Gegensätze konnte die muslimische Dialektik nicht hinaus
kommen. Außer Gott gibt es nur Platz für körperliche
Substanzen und deren Accidenzen. Das Dasein menschlicher
Seelen als unkörperlicher Substanzen, sowie überhaupt die
Existenz reiner Geister, beides von Philosophen und, weniger
bestimmt, von einigen Mutaziliten gelehrt, wollte nicht recht
stimmen zu der muslimischen Lehre von der Transcendenz Gottes,
der keinen Genossen hat. Die Seele gehört zu der Körperwelt.
Leben, Empfindung, Beseeltheit sind ebenso Accidenzen wie
Farbe, Geschmack und Geruch, Bewegung und Ruhe. Einige nehmen
nur ein Seelenatom an, nach anderen sind mehrere feine
Seelenatome unter die Körperatome gemischt. Das Denken haftet
jedenfalls an einem einzigen Atom.
13. Nicht alle guten Muslime konnten sich bei der Dialektik
beruhigen. Der fromme Diener Gottes möchte doch auf andere
Weise seinem Herrn etwas näher kommen. Dieses Bedürfnis, schon
anfangs im Islam vorhanden, durch [61]christliche und
persisch-indische Einflüsse verstärkt und unter entwickelteren
Kulturverhältnissen mächtig angewachsen, hat im Islam eine
Reihe von Erscheinungen hervorgerufen, die man als Mystik und
Sufismus4 zu bezeichnen pflegt. In dieser Entwicklung eines
muslimischen Heiligenwesens und Mönchtums hat sich die
Geschichte christlicher Mönche und Klöster in Syrien und
Ägypten, auch diejenige indischer Büßer wiederholt. Im Grunde
haben wir es hier also mit religiöser oder geistiger Praxis zu
thun. Aber die Praxis spiegelt sich immer im Denken, sie
erhält ihre Theorie. Man bedurfte, um ein intimeres Verhältnis
mit der Gottheit zu Stande zu bringen, vielfach symbolischer
Handlungen und vermittelnder Personen. Diese nun versuchten
es, sich und den Eingeweihten die Geheimnisse der Symbole zu
enthüllen und außerdem ihre eigene vermittelnde Stellung in
der Stufenordnung des Alls zu begründen. Besonders
neuplatonische Lehren, teilweise aus der trüben Quelle des
Pseudo-Dionysios des Areopagiten und des heiligen Hierotheos
(Stephen bar Sudaili?) mussten dazu herhalten. Auch scheint
der indische Yoga, wenigstens in Persien, bedeutend eingewirkt
zu haben. Meistens hielt sich die Mystik in den Schranken der
Orthodoxie, die immer auch verständig genug war, Dichtern und
Schwärmern etwas nachzusehen. In Bezug auf die Lehre, dass
Gott alles in allem wirke, waren Dialektiker und Mystiker
einverstanden. Dass aber Gott auch alles in allem sei, wurde
von der extremen Mystik hinzugefügt. Daraus entwickelte sich
ein heterodoxer Pantheismus, der die Welt zum leeren Scheine
und das menschliche Ich zum Gotte machte. So wird die Einheit
Gottes zur Alleinheit, seine Allwirksamkeit zur Allwesenheit.
Höchstens gibt es außer Gott noch die Eigenschaften oder
Zustände der sufischen zu Ihm sich hinbewegenden Seele. Eine
Psychologie des Gefühles wird von sufischen Lehrern
entwickelt. [62]Während, nach ihnen, unsere Vorstellungen von
außen an die Seele herankommen und unsere Strebungen eine
Veräußerlichung des Inneren bedeuten, besteht das wahre Wesen
unserer Seele aus gewissen Zuständen oder Gefühlen der Lust
und Unlust. Das wesentlichste von allen ist die Liebe. Weder
Furcht noch Hoffnung, sondern die Liebe erhebt uns zu Gott.
Kein Wissen und kein Wollen, sondern die Vereinigung mit dem
Geliebten heißt Seligkeit.
Weit gründlicher als von den Dialektikern wird von diesen
Mystikern die Welt, und schließlich auch die Menschenseele
vernichtet. Von jenen ist sie der schaffenden Willkür, von
diesen dem erleuchtenden, liebenden Wesen Gottes zum Opfer
dargebracht worden. In der Sehnsucht nach dem Einen Geliebten
wird die verwirrende Mannigfaltigkeit der Dinge, wie sie
unseren Sinnen und der Vorstellung erscheint, abgestreift.
Alles wird, im Sein wie im Denken, auf einen Punkt
konzentriert. Als Gegensatz denke man sich echtes Griechentum.
Dort wünschte man sich die Zahl der Sinne größer, um etwas
mehr von dieser schönen Welt erkennen zu können. Diese
Mystiker aber schelten die Vielheit der Sinne, weil sie
Verwirrung in ihr Glück hineinbringt.
Doch macht die menschliche Natur sich überall geltend. Jene
Welt und Sinnen entsagenden Männer schwelgen oft bis in ein
hohes Alter hinein in den sinnlichsten Phantasien.
Dass viele sich gar wenig um die Glaubenslehre kümmerten,
und dass die asketische Moral der Sufis öfter in das Gegenteil
sich verwandelte, braucht uns nach alledem nicht zu wundern.
Die Entwicklung des Sufismus im einzelnen zu verfolgen, ist
mehr eine Aufgabe für die Religions- als für die
Philosophiegeschichte. Auch finden wir die philosophischen
Elemente, die darin aufgenommen wurden, bei den muslimischen
Philosophen, denen wir im folgenden begegnen werden. [63].