Philosophie im Islam

Geschichte der Philosophie im Islam

Tjitze J. de Boer

1901

STUTTGART. FR. FROMMANNS VERLAG (E. HAUFF).

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II. Philosophie und arabisches Wissen

3. Die Glaubenslehre

1. Im Koran war den Muslimen eine Religion, keine Lehre, Gesetze, aber keine Dogmen gegeben. Was sich darin der Logik widersetzte, was wir uns aus den wechselnden Lebensverhältnissen und den verschiedenen Stimmungen des Propheten erklären, wurde von den ersten Gläubigen einfach hingenommen, ohne zu fragen nach dem Wie und Warum. In den eroberten Ländern aber fand man eine ausgebildete christliche Dogmatik, sowie zoroastrische und [43]brahmanische Lehren vor. Wie viel die Muslime den Christen verdanken, haben wir schon öfter betont. Die Glaubenslehre ist von christlichen Einflüssen wohl am meisten bestimmt worden. In Damaskus wirkten orthodoxe und monophysitische Lehren, in Basra und Bagdad vielleicht mehr nestorianische und gnostische Theoreme auf die Bildung muslimischer Dogmen ein. Litterarisches hat sich aus der ersten Zeit dieser Bewegung wenig erhalten. Man wird sich aber nicht irren, wenn man dem persönlichen Verkehre und dem schulmäßigen Unterricht eine bedeutende Wirkung zuschreibt. Wie noch heute, lernte man damals im Orient nicht viel aus Büchern, sondern mehr aus dem Munde des Lehrers. Die Ähnlichkeit zwischen den ältesten Glaubenslehren im Islam und den Dogmen des Christentums ist zu groß, dass man einen direkten Zusammenhang leugnen könnte. Die erste Frage nämlich, über die von muslimischen Gelehrten viel disputiert wurde, war die nach der Freiheit des Willens. Die Willensfreiheit nun wurde von den orientalischen Christen fast allgemein angenommen. Nie und nirgends hat man vielleicht über das Willensproblem, in der Christologie zunächst, aber auch in der Anthropologie, so viel hin und her geredet, wie in den christlichen Kreisen des Ostens zur Zeit der muslimischen Eroberung.

Außer diesen zum Teil apriorischen Erwägungen gibt es auch vereinzelte Notizen, die darauf hindeuten, dass einige von den ersten Muslimen, welche die Willensfreiheit lehrten, christliche Lehrer hatten.

Schon aus den gnostischen Systemen, nachher aber aus der Übersetzungslitteratur, gesellte sich zu den hellenistisch-christlichen eine Anzahl rein philosophischer Elemente.

2. Eine nach logischer oder dialektischer Methode, sei es mündlich oder schriftlich geäußerte, Behauptung nannten die Araber im allgemeinen, ganz besonders aber in der Glaubenslehre, einen Kalam (λόγος) und diejenigen, welche solche Behauptungen aufstellten, hießen [44]mutakallimun. Von der einzelnen Behauptung wurde der Name auf das ganze System übertragen und darunter auch die einleitenden, grundlegenden Bemerkungen über Methode u. s. w. mitverstanden. Wir nennen die Wissenschaft des Kalam am besten theologische Dialektik oder einfach Dialektik und übersetzen im folgenden Mutakallimun mit Dialektiker.

Der Name Mutakallimun, anfangs allen Dialektikern gemeinsam, ward später vorzugsweise den antimutazilitischen und orthodoxen Theologen beigelegt. In letzterem Falle wäre er dem Sinne nach gut mit Dogmatiker oder Scholastiker zu übersetzen. Hatten nämlich die ersten Dialektiker das Dogma noch zu bilden, die späteren brauchten es bloß darzulegen und zu begründen.

Die Einführung der Dialektik war eine gewaltige Neuerung im Islam. Heftig wurde ihr von den Anhängern der Tradition widersprochen. Was über die Pflichtenlehre hinausging, hieß ihnen Ketzerei. Der Glaube sollte Gehorsam sein, nicht Erkenntnis, wie Murdschiten und Mutaziliten behaupteten. Die Spekulation wurde von diesen geradezu als eine Pflicht der Gläubigen hingestellt. Auch mit dieser Forderung söhnte die Zeit sich aus. Der Überlieferung nach hatte der Prophet schon gesagt: Das erste, was Gott geschaffen hat, ist das Wissen, oder: die Vernunft.

3. Groß ist die Anzahl verschiedener Meinungen, die zum Teil schon in der omajjadischen, hauptsächlich aber in der ersten abbasidischen Zeit laut wurden. Je weiter sie auseinander gingen, um so schwerer war es den Männern der Überlieferung, sich da hinein zu finden. Allmählich aber sonderten sich gewisse einheitliche Lehrgruppen aus, von denen das rationalistische System der Mutaziliten, der Nachfolger der Qadariten, die weiteste Verbreitung, besonders unter Schiiten, fand. Vom Chalifen Mamun bis Mutawakkil kam es sogar zur staatlichen Anerkennung. Früher von der weltlichen Macht unterdrückt und verfolgt, [45]wurden die Mutaziliten jetzt selber Inquisitoren des Glaubens, denen das Schwert die Stelle des Beweises vertrat.

Ungefähr zu derselben Zeit aber fingen auch ihre Gegner, die Traditionarier, damit an, ein Glaubenssystem aufzubauen. Überhaupt fehlte es nicht an Vermittelungen zwischen dem naiven Glauben der Menge und der Gnosis der Dialektiker. Dem spiritualistischen Gepräge des Mutazilitismus gegenüber trugen diese Vermittelungen in Bezug auf die Gotteslehre einen anthropomorphistischen, in Bezug auf Anthropologie und Kosmologie einen materialistischen Charakter. Die Seele z. B. wurde von ihnen körperlich oder als ein Accidens des Körpers aufgefasst, und das göttliche Wesen als ein menschlicher Körper vorgestellt. Den bildlichen Gott-Vater der Christen verabscheute die Religionslehre und Kunst der Muslime, aber abgeschmackte Grübeleien über die Gestalt Allah’s gab es im Islam die Fülle. Einige gingen so weit, ihm sämtliche Körperglieder zuzusprechen, nur mit Ausnahme des Bartes und anderer Privilegien orientalischer Männer.

Es ist unmöglich, all die dialektischen Sekten, die oft zunächst als politische Parteien aufgetreten waren, ausführlicher zu besprechen. Von philosophiegeschichtlichem Standpunkte genügt es auch, die mutazilitischen Hauptlehren, insoweit sie ein allgemeines Interesse beanspruchen dürfen, hier vorzuführen.

4. Die erste Frage nun betraf menschliches Handeln und menschliches Schicksal. Die Vorläufer der Mutaziliten, Qadariten genannt, lehrten die Willensfreiheit des Menschen. Auch noch in späterer Zeit, als ihre Spekulation sich mehr auf theologisch-metaphysische Probleme richtete, wurden die Mutaziliten immer zuerst bezeichnet als Anhänger der göttlichen Gerechtigkeit, die kein Böses verursache und nach seinem Verdienste den Menschen belohne oder strafe, dann aber, an zweiter Stelle, als Bekenner der Einheit Gottes, d. h. der Eigenschaftslosigkeit seines Wesens, an sich betrachtet. Auf die systematische Darstellung ihrer [46]Lehren werden die Logiker (s. IV, 2 § 1) ihren Einfluss ausgeübt haben. Schon in der ersten Hälfte des zehnten Jahrhunderts fing das mutazilitische System mit dem Einheitsbekenntnis an und war die Lehre von Gottes Gerechtigkeit, die sich in allen seinen Werken kund gebe, an die zweite Stelle gerückt.

Mit der Behauptung der Willensfreiheit sollte die menschliche Verantwortlichkeit, sowie die Heiligkeit Gottes, der nicht die sündigen Handlungen der Menschen unmittelbar hervorbringen könne, gerettet werden. Darum musste der Mensch Herr seiner Thaten sein, aber auch bloß dieser. Denn dass die Kraft, welche überhaupt zum Handeln befähigt, oder das Vermögen, sowohl Gutes als Böses zu thun, unmittelbar von Gott dem Menschen zukomme, wurde von wenigen bezweifelt. Daher die vielen, mit einer Kritik des philosophischen Zeitbegriffes verquickten, spitzfindigen Erörterungen über die Frage, ob das von Gott im Menschen geschaffene Vermögen der Handlung voraufgehe oder zeitlich damit zusammenfalle. Ginge nämlich die Kraft der That vorher, so müsste sie entweder bis zur That fortdauern, was ihrem accidentellen Charakter widerspreche (vgl. II, 3 § 12), oder aber schon vor der That aufhören zu existieren, und in diesem Falle wäre sie überhaupt entbehrlich.

Vom menschlichen Handeln wurde die Spekulation weiter auf das Wirken der Natur übertragen. Statt Gott oder der Mensch hieß hier der Gegensatz Gott oder die Natur. Die hervorbringenden und zeugenden Kräfte der Natur wurden als Mittel oder nächste Ursachen anerkannt und von einigen zu erforschen gesucht. Die Natur selbst aber, wie die ganze Welt, war ihrer Ansicht nach ein Werk Gottes, eine Schöpfung seiner Weisheit. Wie die Allmacht Gottes im Sittlichen an seiner Heiligkeit oder Gerechtigkeit eine Schranke fand, so hier im Natürlichen an seiner Weisheit. Auch Übel und Böses in der Welt wurden aus der Weisheit Gottes, die Alles zum Besten [47]schicke, erklärt. Erzeugnis oder Zweck göttlicher Thätigkeit ist es nicht. Gott könne zwar, so hatten Frühere behauptet, Böses und Unvernünftiges thun, er thäte es nur nicht. Dagegen lehrten die späteren Mutaziliten, Gott habe gar nicht die Macht, so etwas seinem Wesen Widerstreitendes zu thun. Von ihren darob entrüsteten Gegnern, die Gottes unbeschränkte Macht und seinen unergründlichen Willen unmittelbar in allem Handeln und Wirken thätig sich vorstellten, wurden sie wegen solcher Lehre mit den dualistischen Magiern verglichen. Der konsequente Monismus war auf Seiten dieser Gegner, die den Menschen und die Natur nicht neben und unter Gott zu Schöpfern ihrer Thaten oder Wirkungen machen möchten.

5. Die Mutaziliten hatten, wie schon aus dem Vorhergehenden erhellt, einen anderen Gottesbegriff als die Menge und die Traditionarier. Dies zeigte sich nun, im Fortgange der Spekulation, besonders deutlich in der Lehre von den göttlichen Eigenschaften. Von Anfang an war im Islam die Einheit Gottes stark betont. Das hinderte aber nicht, dass man ihm, nach menschlicher Analogie, viele schöne Namen gab und mehrere Attribute beilegte. Als die vorzüglichsten stellten sich, gewiss unter dem Einflusse christlicher Dogmatik, allmählich heraus: Wissen, Macht, Leben, Wille, Rede oder Wort, Gesicht und Gehör. Von diesen wurden Gesicht und Gehör zuerst in geistigem Sinne gedeutet oder ganz beseitigt. Aber mit irgend einer Vielheit gleichewiger Eigenschaften schien die absolute Einheit des göttlichen Wesens sich nicht vertragen zu wollen. Wäre das nicht die Trinität der Christen, die ja auch schon die drei Personen des Einen göttlichen Wesens als Eigenschaften gedeutet hatten? Teils suchte man nun, um dieser Inkonvenienz zu entgehen, einige Eigenschaften aus anderen begrifflich abzuleiten und auf eine, z. B. das Wissen oder die Macht, zurückzuführen, teils auch sie samt und sonders als Zustände des göttlichen Wesens zu fassen oder mit dem Wesen selbst zu identifizieren, wobei [48]denn freilich ihre Bedeutung so ziemlich verschwand. Mitunter wurde versucht, durch Künsteleien des sprachlichen Ausdrucks noch etwas davon zu retten. Während z. B. ein Philosoph, die Eigenschaften leugnend, behauptete, Gott sei wissend seinem Wesen nach, drückte ein mutazilitischer Dialektiker das so aus: Gott ist wissend, aber durch ein Wissen, das er selbst ist.

Nach Ansicht der Traditionarier ward auf diese Weise der Gottesbegriff allen Inhaltes beraubt. Über negative Bestimmungen, Gott sei nicht wie die Dinge dieser Welt, er sei über Raum, Zeit, Bewegung u. s. w. erhaben, kamen die Mutaziliten kaum hinaus. Aber dass er Schöpfer der Welt sei, daran hielten sie fest. Wenn man auch von Gottes Wesen wenig aussagen konnte, aus seinen Werken glaubte man ihn zu erkennen.

Die Schöpfung war den Mutaziliten, wie ihren Gegnern, ein absoluter Akt Gottes, die Weltexistenz eine zeitliche. Energisch bekämpften sie die Lehre von der Weltewigkeit, die, durch die aristotelische Philosophie gestützt, im Orient weitverbreitet war.

6. Als eins von den ewigen Attributen Gottes fanden wir die Rede oder das Wort. Wahrscheinlich mit Anschluss an die christliche Logoslehre wurde nämlich die Ewigkeit des dem Propheten geoffenbarten Korans gelehrt. Das war nach den Mutaziliten geradezu Abgötterei, neben Allah an einen ewigen Koran zu glauben. Die mutazilitischen Chalifen verkündigten dagegen als Staatsdogma, der Koran sei geschaffen worden. Wer dies leugnete, wurde öffentlich bestraft. Obgleich nun die Mutaziliten mit diesem Dogma dem ursprünglichen Islam näher stehen mochten als ihre Gegner, so hat doch die Geschichte den letzteren Recht gegeben. Fromme Bedürfnisse waren eben mächtiger als logische Schlussfolgerungen. Viele Mutaziliten setzten sich, nach der Meinung ihrer Glaubensbrüder, über den Koran, das Wort Gottes, allzuleicht hinweg. Wenn es zu ihren Theorien nicht stimmte, wurde es aus- [49]und umgedeutet. In Wirklichkeit galt manchem die Vernunft mehr als das offenbarte Buch. Aus der Vergleichung nicht nur der drei Offenbarungsreligionen, sondern auch dieser mit persischer und indischer Religionslehre und philosophischer Spekulation, ergab sich eine, die Gegensätze versöhnende, natürliche Religion. Aufgebaut wurde diese auf der Grundlage eines angeborenen, allgemeinnotwendigen Wissens, dass es Einen Gott gebe, der als weiser Schöpfer die Welt hervorgebracht und auch den Menschen mit Vernunft begabt habe, damit er seinen Schöpfer erkennen und Gutes und Böses unterscheiden könne. Dieser Natur- oder Vernunftreligion gegenüber sei dann die Erkenntnis der Offenbarungslehren etwas Hinzukommendes, ein erworbenes Wissen.

Mit dieser Behauptung hatten die konsequentesten Mutaziliten sich von der Übereinstimmung der muslimischen Gemeinde losgesagt, sich also thatsächlich außerhalb des katholischen Glaubens gestellt. Anfangs beriefen sie sich noch auf jene Übereinstimmung. Sie konnten es thun, so lange die Regierung ihnen günstig gesinnt war. Es dauerte aber nicht lange. Bald erfuhren sie, was seitdem noch öfter erfahren wurde: die Völker lassen sich leichter von oben herab eine Religion als eine Aufklärung vorschreiben.

7. Nach diesem Überblick sehen wir uns einige von den bedeutendsten Mutaziliten näher an, damit dem allgemeinen Bilde nicht die individuellen Züge fehlen.

Zuerst betrachten wir Abu-l-Hudhail al-Allaf, der um die Mitte des neunten Jahrhunderts starb. Er war ein berühmter Dialektiker, einer der ersten, die der Philosophie einen Einfluss auf ihre theologischen Lehren gestatteten.

Dass eine Eigenschaft irgendwie einem Wesen inhärieren könne, lässt sich nach Abu-l-Hudhail nicht denken: entweder muss sie mit dem Wesen identisch oder davon verschieden sein. Doch sieht er sich nach einer Vermittlung um. Gott ist, nach ihm, wissend, mächtig, lebendig durch Wissen, Macht und Leben, die sein Wesen selbst [50]sind. Wie auch schon von christlicher Seite geschehen war, nennt er jene drei Bestimmungen die Modi (wudschuh) des göttlichen Wesens. Auch Hören, Sehen u. a. lässt er sich als ewig in Gott gefallen, jedoch nur mit Rücksicht auf die später zu schaffende Welt. Übrigens mag es ihm und anderen von der Zeitphilosophie Berührten leicht genug gewesen sein, diese und ähnliche Ausdrücke, wie das Schauen Gottes am jüngsten Tage,3 spiritualistisch zu deuten, da sie ja das Sehen und Hören überhaupt als geistige Akte auffassten. Abu-l-Hudhail behauptete z. B., die Bewegung sei sichtbar, tastbar aber nicht, weil sie kein Körper sei.

Nicht ewig soll nun aber der Wille Gottes sein. Im Gegenteil nimmt Abu-l-Hudhail absolute Willensäußerungen an, sowohl von dem wollenden Wesen wie von dem gewollten Gegenstande verschieden. So nimmt das absolute Schöpfungswort eine Mittelstellung ein zwischen dem ewigen Schöpfer und der geschaffenen zeitlichen Welt. Diese Willensäußerungen Gottes sind eine Art Mittelwesen, mit den platonischen Ideen oder den Sphärengeistern zu vergleichen, aber wohl mehr als immaterielle Kräfte, denn als persönliche Geister gedacht.

Von dem absoluten Schöpfungsworte unterscheidet Abu-l-Hudhail das accidentelle Offenbarungswort, das sich als Befehl und Verbot, in materieller, räumlicher Erscheinung an die Menschen kund gibt und also nur für diese zeitliche Welt Bedeutung hat. Die Möglichkeit, nach dem göttlichen Offenbarungsworte zu leben oder dem zu widerstreiten, ist folglich nur in diesem Leben vorhanden. Verpflichtendes Gebot und Verbot setzt Willensfreiheit und die Fähigkeit danach zu handeln voraus. Im zukünftigen Leben dagegen gibt es keine gesetzlichen Verpflichtungen, somit auch keine Freiheit mehr; Alles hängt dort von der absoluten Bestimmung Gottes ab. Auch wird [51]es im Jenseits keine Bewegung geben, denn wie die Bewegung einmal angefangen hat, muss sie, am Ende der Welt, aufhören zur ewigen Ruhe. An eine körperliche Auferstehung dürfte also Abu-l-Hudhail wohl nicht geglaubt haben.

Die menschlichen Handlungen unterscheidet er in natürliche und sittliche oder “Handlungen der Glieder und des Herzens”. Sittlich ist eine Handlung nur, wenn wir sie frei verrichten. Die sittliche That ist des Menschen selbsterworbenes Eigentum, sein Wissen dagegen kommt ihm von Gott her zu, teils durch Offenbarung, teils durch natürliche Erleuchtung. Schon vor aller Offenbarung ist der Mensch von Natur verpflichtet, also auch wohl im Stande, Gott zu erkennen, Gutes und Böses zu unterscheiden, und tugendhaft, wahrhaftig und gerecht zu leben.

8. Ein merkwürdiger Mensch und Denker ist ein jüngerer Zeitgenosse und, wie es scheint, Schüler des Abu-l-Hudhail, gewöhnlich Al-Nazzam genannt. Er starb im Jahre 845. Ein phantastischer, unruhiger, ehrgeiziger Mann, kein folgerichtiger, aber doch ein kühner und ehrlicher Denker, so hat ihn Dschahiz, einer seiner Schüler, uns vorgestellt. Die Leute hielten ihn für einen Verrückten oder einen Ketzer. Vieles in seinen Lehren berührt sich mit dem, was den Orientalen als Philosophie des Empedokles und Anaxagoras bekannt war (vgl. auch Abu-l-Hudhail).

Nach der Ansicht Nazzams kann Gott überhaupt kein Böses thun, ja er kann nur das, was er als das Beste für seine Diener erkennt. Seine Allmacht reicht auch nicht weiter als die wirkliche That. Wer könnte ihn daran hindern, die schöne Überfülle seines Wesens zu verwirklichen? Einen Willen im eigentlichen Sinne, der immer ein Bedürfnis voraussetze, ist Gott gar nicht beizulegen. Gottes Wille ist vielmehr nur eine Bezeichnung für seine Thätigkeit selbst oder für die den Menschen erteilten Befehle. Die Schöpfung ist ein einmaliger Akt, mit dem [52]Alles zugleich erschaffen, sodass Eins im Andern enthalten ist und im Laufe der Zeit die verschiedenen Exemplare von Mineralien, Pflanzen und Tieren, sowie die vielen Adamskinder, nach und nach aus ihrem latenten Zustande in die Erscheinung treten.

Mit den Philosophen verwirft Nazzam die Atomenlehre (s. II, 3 § 12), weiß sich dann aber das Durchlaufen einer bestimmten Strecke, wegen der unendlichen Teilbarkeit des Raumes, nur durch Sprünge zu erklären. Statt aus Atomen lässt er die körperlichen Substanzen aus Accidenzen zusammengesetzt sein. Wie sich Abu-l-Hudhail die Inhärenz von Eigenschaften in einem Wesen nicht denken konnte, so kann sich Nazzam das Accidens nur als die Substanz selbst oder als einen Teil der Substanz vorstellen. So ist das Feuer oder das Warme z. B. latent im Holze vorhanden, wird aber frei, wenn durch Reibung sein Antagonist, das Kalte, verschwindet. Es findet dabei eine Bewegung oder Umsetzung, aber keine qualitative Veränderung statt. Die sinnlichen Qualitäten, wie Farben, Geschmäcke und Gerüche, sind nach Nazzam Körper.

Auch die Seele oder den Geist des Menschen fasst er als einen feinen Körper auf. Freilich ist die Seele des Menschen vorzüglichster Teil, sie durchdringt den Körper, ihr Organ, ganz und ist der wirkliche, wahrhafte Mensch zu nennen. Gedanken und Strebungen werden als Bewegungen der Seele definiert.

In Glaubenssachen und Gesetzesfragen verwirft Nazzam sowohl die Übereinstimmung der Gemeinde als auch die analogische Interpretation des Rechtes, und beruft sich, schiitisch, auf den unfehlbaren Imam. Er hält es für möglich, dass alle Muslime eine irrige Lehre übereinstimmend zulassen, wie z. B. dass Mohammed im Unterschiede von anderen Propheten eine Mission für die ganze Menschheit habe. Gott sendet aber jeden Propheten zur ganzen Menschheit.

Übrigens teilt Nazzam in Bezug auf die Erkenntnis [53]Gottes und der sittlichen Pflichten durch die Vernunft die Ansicht des Abu-l-Hudhail. Von der unnachahmbaren Vortrefflichkeit des Korans ist er nicht sonderlich überzeugt. Es soll das ewige Wunder des Korans nur darin bestehen, dass die Zeitgenossen Mohammeds davon abgehalten wurden, dem Koran Ähnliches hervorzubringen.

Von der muslimischen Eschatologie hat er wohl nicht viel gehalten. Wenigstens löst sich für ihn die Höllenqual in einen Verbrennungsprozess auf.

9. Aus der Schule Nazzams werden uns viele synkretistische Lehren überliefert, alle ohne Originalität. Von den Männern, die aus ihr hervorgegangen, ist der berühmteste der Schöngeist und Naturphilosoph Dschahiz (gest. 869), der vom echten Gelehrten verlangte, er solle das Studium der Theologie mit dem der Naturwissenschaft verknüpfen. In allen Dingen spürt er die Wirkungen der Natur, in diesen aber einen Hinweis auf den Schöpfer der Welt. Die menschliche Vernunft ist im Stande, den Schöpfer zu erkennen und ebenso das Bedürfnis nach einer prophetischen Offenbarung einzusehen. Des Menschen Verdienst ist nur sein Wollen, denn einerseits sind alle seine Thaten im Naturgeschehen verflochten, und andererseits ist sein ganzes Wissen notwendig von oben bestimmt. Doch scheint dem Wollen, das aus dem Wissen abgeleitet wird, keine große Bedeutung zuzukommen. Wenigstens wird der Wille im göttlichen Wesen ganz negativ gefasst, d. h. Gott wirke niemals unbewusst und mit Missfallen an seinem Werke.

In alldem ist wenig Eigenes. Das Mittelmaß ist sein ethisches Ideal, aber auch seines Geistes Geschick. Nur im Kompilieren seiner vielen Schriften ist Dschahiz unmäßig gewesen.

10. Bei den älteren Mutaziliten überwiegen die ethischen und naturphilosophischen Erwägungen; bei den späteren gewinnen logisch-metaphysische Betrachtungen das Übergewicht. Besonders neuplatonische Einflüsse sind hier zu verspüren. [54]

Muammar, dessen Lebenszeit nicht näher bestimmt wird (etwa um 900 anzusetzen), hat manches mit den Obengenannten gemeinsam. Aber weit nachdrücklicher leugnet er die Existenz göttlicher Eigenschaften, die der absoluten Einheit des Wesens widersprechen. Gott ist über jede Vielheit hinaus. Er kennt weder sich selbst noch ein Anderes, denn das Wissen würde in ihm eine Vielheit voraussetzen. Auch ist er überewig zu nennen. Dennoch ist er als Schöpfer der Welt anzuerkennen. Freilich hat er nur Körper geschaffen, und diese schaffen selbst, sei es durch Naturwirkung, sei es mit Willen, ihre Accidenzen. Die Zahl dieser Accidenzen ist unendlich, denn sie sind ihrem Wesen nach nichts weiter als die begrifflichen Beziehungen des Denkens. Muammar ist Conceptualist. Bewegung und Ruhe, Gleichheit und Verschiedenheit u. s. w. sind nichts an sich, sondern haben nur eine begriffliche oder ideelle Wirklichkeit. Die Seele, die das wahre Wesen des Menschen sein soll, wird als eine Idee oder eine immaterielle Substanz gefasst. Wie sie sich dann zum Körper und zu dem göttlichen Wesen verhalte, wird nicht klargestellt. Die Überlieferung ist verworren.

Des Menschen Wille ist frei, das Wollen eigentlich seine einzige That. Denn die äußere Handlung gehört dem Körper (vgl. Dschahiz).

Die Schule von Bagdad, der Muammar anzugehören scheint, war conceptualistisch. Mit Ausnahme der allgemeinsten Bestimmungen, denen des Seins und des Werdens, ließ sie die Universalien nur als Begriffe Bestand haben. Näher dem Realismus stand Abu Haschim von Basra (gest. 933). Gottes Eigenschaften, sowie die Accidenzen oder Gattungsbegriffe überhaupt, fasste er als ein Mittleres zwischen Sein und Nichtsein auf. Er nannte sie Zustände oder Modi. Als Erfordernis alles Wissens bezeichnete er den Zweifel. Ein naiver Realist war er nicht.

Auch mit dem Nichtsein trieben mutazilitische Denker ein dialektisches Spiel. Es werde gedacht, es müsse also [55]dem Nichtsein wie dem Sein eine Art Wirklichkeit zukommen, folgerte man. Versucht doch der Mensch eher das Nichts zu denken, als dass er überhaupt nicht denke.

11. Im neunten Jahrhundert hatten sich im Kampfe gegen die Mutaziliten mehrere dialektische Systeme ausgebildet, von denen u. a. das karramitische sich lange über das zehnte Jahrhundert hinaus erhielt. Aus den Reihen der Mutaziliten aber erstand der Mann, der die Gegensätze zu vermitteln berufen war, und der das zunächst im Osten, später im ganzen Islam als orthodox anerkannte Lehrsystem aufstellte. Es war al-Aschari (873–935), der es verstand, Gotte zu geben, was Gottes, und dem Menschen, was des Menschen ist. Den groben Anthropomorphismus der antimutazilitischen Dialektiker wies er ab, Gott über alles Körperliche und Menschliche hinausrückend, ihm aber seine Allmacht und Allwirksamkeit lassend. Die Natur büßte bei ihm alle ihre Wirksamkeit ein, dem Menschen aber wurde ein gewisses Verdienst vorbehalten, darin bestehend, dass er den von Gott in ihm geschaffenen Handlungen seine Zustimmung erteilen, sich dieselben als seine Thaten aneignen könne. Auch wurde dem Menschen sein sinnlich-geistiges Wesen nicht verkümmert. Er durfte hoffen auf die Auferstehung des Fleisches und das Schauen Gottes. Was die koranische Offenbarung betrifft, unterschied Aschari zwischen einem ewigen Worte in Gott und dem in der Zeit geoffenbarten Buche, wie wir es besitzen.

Bei der Ausführung seiner Lehren zeigte sich Aschari in keiner Weise originell, sondern er fasste nur Gegebenes vermittelnd zusammen, was denn nicht ohne Widersprüche gelingen wollte. Die Hauptsache jedoch war, dass seine Kosmologie, Anthropologie und Eschatologie, zur Erbauung frommer Seelen, nicht allzu weit von dem Wortlaute der Tradition sich entfernten, und dass seine Theologie, infolge einer etwas vergeistigten Auffassung Gottes, auch höher Gebildete nicht ganz unbefriedigt ließ.

Aschari stützt sich auf die Offenbarung des Korans. [56]Eine davon unabhängige Vernunfterkenntnis in Bezug auf göttliche Dinge erkennt er nicht an. Die Sinne sollen im allgemeinen nicht täuschen, dagegen wohl unser Urteil. Zwar erkennen wir Gott mit unserer Vernunft, aber nur aus der Offenbarung, der einzigen Quelle solchen Wissens.

Gott ist nun, nach Aschari, zunächst der allmächtige Schöpfer. Ferner ist er allwissend, er weiß, was die Menschen thun und was sie thun wollen, was geschieht und wie das, was nicht geschieht, wenn es geschähe, geschehen wäre. Dazu kommen Gott alle Bestimmungen zu, die irgend eine Vollkommenheit ausdrücken, nur dass sie Gott in einem anderen, höheren Sinne eignen als den Geschöpfen. In Schöpfung und Erhaltung der Welt ist Gott die einzige Ursache; alles Weltgeschehen rührt fortwährend unmittelbar von ihm her. Der Mensch aber ist sich des Unterschiedes zwischen seinen unwillkürlichen Bewegungen, wie Zittern und Beben, und seiner mit Willen und Wahl ausgeführten Handlungen wohl bewusst.

12. Das Eigentümlichste, was die Dialektik der Muslime ausgebildet hat, ist ihre Atomenlehre. Die Entwicklung dieser Lehre liegt noch fast ganz im Dunkeln. Schon von Mutaziliten, besonders aber von deren Gegnern vor Aschari ist sie vertreten worden. Unsere Darstellung zeigt, wie sie sich in der ascharitischen Schule erhalten, zum Teil vielleicht erst ausgebildet hat.

Die Atomenlehre der muslimischen Dialektiker hat ihre Quelle allerdings in griechischer Naturphilosophie, aber ihre Aufnahme und Weiterbildung sind von den Bedürfnissen theologischer Polemik und Apologetik bestimmt, wie sich dies ähnlich bei einzelnen Juden und bei gläubigen Katholiken beobachten lässt. Dass man, im Islam, den Atomismus aufgegriffen habe, nur weil Aristoteles ihn bekämpfte, ist nicht wohl glaublich. Wir haben hier einen verzweifelten Kampf um ein religiöses Gut zu verzeichnen, dabei die Waffen nicht gewählt werden. Der Zweck entscheidet. Die Natur soll nicht aus sich selbst heraus, [57]sondern aus einem göttlichen Schöpfungsakte erklärt; nicht als eine ewige göttliche Ordnung, sondern als ein Geschöpf vergänglichen Daseins diese Welt angesehen werden. Als freiwirkender, allmächtiger Schöpfer soll Gott gedacht und benannt werden, nicht als unpersönliche Ursache oder ruhender Urgrund. An der Spitze der muslimischen Dogmatik steht daher seit alter Zeit die Schöpfungslehre als ein Zeugnis gegen die heidnisch-philosophische Ansicht von der Ewigkeit der Welt und von den Wirkungen der Natur.

Was wir von der Sinnenwelt wahrnehmen, so reden diese Atomisten, sind vorübergehende Accidenzen, die jeden Augenblick kommen und gehen. Das Substrat dieses Wechsels sind die (körperlichen) Substanzen, die, weil in oder an ihnen Veränderungen vorgehen, nicht unveränderlich gedacht werden können. Sind sie, die Substanzen, veränderlich, dann können sie auch nicht dauerhaft sein, denn Ewiges ändert sich nicht. Folglich ist Alles in der Welt, da Alles sich ändert, entstanden, von Gott erschaffen.

Das ist der Ausgangspunkt. Von der Veränderlichkeit alles Existierenden wird geschlossen auf den ewigen, unveränderlichen Schöpfer. Die Späteren aber schließen, unter dem Einfluss muslimischer Philosophen, von der Kontingenz oder Possibilität alles Endlichen auf das notwendig-existierende Wesen Gottes.

Kehren wir zur Welt zurück. Sie besteht aus Accidenzen und deren Substrate, die Substanzen. Substanz und Accidens oder Qualität sind die zwei Kategorien, mittelst derer die Wirklichkeit begriffen wird. Die übrigen Kategorien fallen entweder unter die der Qualität oder lösen sich in Verhältnisse und Denkbestimmungen auf, denen, objektiv, nichts entspricht. Die Materie als Möglichkeit ist nur im Denken, die Zeit ist nichts anderes als Koexistenz verschiedener Gegenstände oder simultane Beziehung der Vorstellung, und Raum und Größe kommen zwar den Körpern zu, nicht aber den einzelnen Teilen (Atomen), aus denen die Körper zusammengesetzt sind. [58]

Was von den Substanzen überhaupt ausgesagt werden kann, sind Accidenzen. Ihre Anzahl ist, an jeder einzelnen Substanz, zahlreich oder gar, wie einige behaupten, unendlich, da von beliebigen gegensätzlichen Bestimmungen, zu denen auch die negativen gehören, jeder Substanz entweder die eine oder die andere zukomme. Das negative Accidens hat um nichts weniger Realität als das positive. Gott schafft auch die Privation und die Vernichtung, wofür es denn freilich nicht leicht ist, das Substrat ausfindig zu machen. Und da jedes Accidens immer nur seinen Sitz in irgend einer Substanz haben kann, und nicht in einem anderen Accidens, so gibt es in Wirklichkeit kein Allgemeines, mehreren Substanzen Gemeinsames. Die Universalien sind in keiner Weise in den Einzeldingen, sie sind Begriffe.

Somit gibt es keine Verbindung zwischen den Substanzen, sie stehen getrennt für sich als Atome, die einander gleich sind. Eigentlich haben sie eine größere Ähnlichkeit mit den Homöomerien des Anaxagoras als mit den kleinsten Stoffteilchen der Atomisten. Sie sind an sich unräumlich (ohne makan), haben aber ihren Ort (hajjiz) und füllen durch ihre Position den Raum aus. Es sind also unausgedehnte, punktuell gedachte Einheiten, aus denen die räumliche Körperwelt aufgebaut wird. Zwischen ihnen soll es ein Leeres geben, denn sonst wäre, da die Atome nicht in einander eindringen, jede Bewegung unmöglich. Alle Veränderung aber wird auf Vereinigung und Trennung, Bewegung und Ruhe zurückgeführt. Sonstige, wirksame Beziehungen zwischen den Atomen-Substanzen gibt es nicht. Sie sind einmal da und freuen sich ihres Daseins, haben aber gar nichts mit einander zu thun. Die Welt ist eine diskontinuierliche Masse, ohne lebendige Wechselwirkung.

Das Altertum hatte dieser Auffassung vorgearbeitet, u. a. auch mit seiner Lehre von dem diskontinuierlichen Charakter der Zahl. Wurde die Zeit nicht als die Zahl [59]der Bewegung definiert? Warum sollte man nun nicht jene Lehre auf Raum, Zeit und Bewegung übertragen? Die Dialektiker thaten es, und es mag auch die Skepsis der Alten dabei mitgewirkt haben. Wie die substanzielle Körperwelt wurden auch Raum, Zeit und Bewegung in Atome ohne Ausdehnung, in Momente ohne Dauer zerlegt. Die Zeit wird eine Aufeinanderfolge von vielen einzelnen Jetzt, und zwischen je zwei Zeitmomenten gibt es ein Leeres. Ebenso verhält es sich mit der Bewegung: zwischen je zwei Bewegungen gibt es eine Ruhe. Eine schnelle und eine langsame Bewegung besitzen dieselbe Geschwindigkeit, nur hat die letztere mehr Ruhepunkte. Um dann aber über den leeren Raum, das unausgefüllte Zeitmoment und die Ruhepause zwischen zwei Bewegungen hinauszukommen, wird die Lehre vom Sprunge benutzt. Von Raumpunkt zu Raumpunkt soll die Bewegung, von Moment zu Moment die Zeit weiterspringen.

Diese phantastische Lehre brauchte man eigentlich gar nicht. Sie war eine Antwort auf naives Fragen. Konsequent hatte man die ganze räumlich-zeitlich bewegte Körperwelt in Atome mit deren Accidenzen zerstückt. Wohl behaupteten einige, dass zwar die Accidenzen jeden Augenblick schwinden, die Substanzen dagegen dauernden Bestand haben, aber andere machten da keinen Unterschied. Wie die Accidenzen, so lehrten sie, bestehen auch die Substanzen, die ja Raumpunkte sind, nur einen Zeitpunkt. Jeden Augenblick schafft Gott die Welt aufs neue, sodass ihr jetziger Zustand weder mit dem unmittelbar vorhergehenden noch mit dem gleich folgenden in irgend einem wesentlichen Zusammenhange steht. Es gibt also eine Reihe aufeinander folgender Welten, die sich nur scheinbar als eine Welt darstellen. Dass es für uns so etwas wie Zusammenhang oder Kausalität in den Erscheinungen gibt, rührt nur daher, dass es Allah nach seinem unergründlichen Willen heut oder morgen nicht beliebt, die Gewohnheit des Geschehens durch ein Wunder zu unterbrechen, [60]was er aber jeden Augenblick zu thun im Stande ist. Wie aller Kausalzusammenhang nach dem atomistischen Kalam verschwindet, wird sehr gut durch das klassische Beispiel vom schreibenden Menschen ausgedrückt. Gott schafft nämlich in ihm, und zwar an jedem Zeitpunkte aufs neue, zuerst den Willen, dann das Vermögen zu schreiben, darauf die Bewegung der Hand, und endlich die Bewegung der Feder. Eins ist dabei völlig unabhängig von dem Andern.

Wenn man nun dagegen einwendet, dass mit der Kausalität oder der Regelmäßigkeit des Weltgeschehens auch die Möglichkeit alles Wissens aufgehoben sei, so erwidert der gläubige Denker, Allah wisse ja Alles vorher schon, er schaffe nicht nur die Dinge der Welt und was sie zu wirken scheinen, sondern auch das Wissen darum in der menschlichen Seele, und wir brauchen nicht weiser zu sein als Er. Er weiß es am besten.

Allah und die Welt, Gott und der Mensch, über diese Gegensätze konnte die muslimische Dialektik nicht hinaus kommen. Außer Gott gibt es nur Platz für körperliche Substanzen und deren Accidenzen. Das Dasein menschlicher Seelen als unkörperlicher Substanzen, sowie überhaupt die Existenz reiner Geister, beides von Philosophen und, weniger bestimmt, von einigen Mutaziliten gelehrt, wollte nicht recht stimmen zu der muslimischen Lehre von der Transcendenz Gottes, der keinen Genossen hat. Die Seele gehört zu der Körperwelt. Leben, Empfindung, Beseeltheit sind ebenso Accidenzen wie Farbe, Geschmack und Geruch, Bewegung und Ruhe. Einige nehmen nur ein Seelenatom an, nach anderen sind mehrere feine Seelenatome unter die Körperatome gemischt. Das Denken haftet jedenfalls an einem einzigen Atom.

13. Nicht alle guten Muslime konnten sich bei der Dialektik beruhigen. Der fromme Diener Gottes möchte doch auf andere Weise seinem Herrn etwas näher kommen. Dieses Bedürfnis, schon anfangs im Islam vorhanden, durch [61]christliche und persisch-indische Einflüsse verstärkt und unter entwickelteren Kulturverhältnissen mächtig angewachsen, hat im Islam eine Reihe von Erscheinungen hervorgerufen, die man als Mystik und Sufismus4 zu bezeichnen pflegt. In dieser Entwicklung eines muslimischen Heiligenwesens und Mönchtums hat sich die Geschichte christlicher Mönche und Klöster in Syrien und Ägypten, auch diejenige indischer Büßer wiederholt. Im Grunde haben wir es hier also mit religiöser oder geistiger Praxis zu thun. Aber die Praxis spiegelt sich immer im Denken, sie erhält ihre Theorie. Man bedurfte, um ein intimeres Verhältnis mit der Gottheit zu Stande zu bringen, vielfach symbolischer Handlungen und vermittelnder Personen. Diese nun versuchten es, sich und den Eingeweihten die Geheimnisse der Symbole zu enthüllen und außerdem ihre eigene vermittelnde Stellung in der Stufenordnung des Alls zu begründen. Besonders neuplatonische Lehren, teilweise aus der trüben Quelle des Pseudo-Dionysios des Areopagiten und des heiligen Hierotheos (Stephen bar Sudaili?) mussten dazu herhalten. Auch scheint der indische Yoga, wenigstens in Persien, bedeutend eingewirkt zu haben. Meistens hielt sich die Mystik in den Schranken der Orthodoxie, die immer auch verständig genug war, Dichtern und Schwärmern etwas nachzusehen. In Bezug auf die Lehre, dass Gott alles in allem wirke, waren Dialektiker und Mystiker einverstanden. Dass aber Gott auch alles in allem sei, wurde von der extremen Mystik hinzugefügt. Daraus entwickelte sich ein heterodoxer Pantheismus, der die Welt zum leeren Scheine und das menschliche Ich zum Gotte machte. So wird die Einheit Gottes zur Alleinheit, seine Allwirksamkeit zur Allwesenheit. Höchstens gibt es außer Gott noch die Eigenschaften oder Zustände der sufischen zu Ihm sich hinbewegenden Seele. Eine Psychologie des Gefühles wird von sufischen Lehrern entwickelt. [62]Während, nach ihnen, unsere Vorstellungen von außen an die Seele herankommen und unsere Strebungen eine Veräußerlichung des Inneren bedeuten, besteht das wahre Wesen unserer Seele aus gewissen Zuständen oder Gefühlen der Lust und Unlust. Das wesentlichste von allen ist die Liebe. Weder Furcht noch Hoffnung, sondern die Liebe erhebt uns zu Gott. Kein Wissen und kein Wollen, sondern die Vereinigung mit dem Geliebten heißt Seligkeit.

Weit gründlicher als von den Dialektikern wird von diesen Mystikern die Welt, und schließlich auch die Menschenseele vernichtet. Von jenen ist sie der schaffenden Willkür, von diesen dem erleuchtenden, liebenden Wesen Gottes zum Opfer dargebracht worden. In der Sehnsucht nach dem Einen Geliebten wird die verwirrende Mannigfaltigkeit der Dinge, wie sie unseren Sinnen und der Vorstellung erscheint, abgestreift. Alles wird, im Sein wie im Denken, auf einen Punkt konzentriert. Als Gegensatz denke man sich echtes Griechentum. Dort wünschte man sich die Zahl der Sinne größer, um etwas mehr von dieser schönen Welt erkennen zu können. Diese Mystiker aber schelten die Vielheit der Sinne, weil sie Verwirrung in ihr Glück hineinbringt.

Doch macht die menschliche Natur sich überall geltend. Jene Welt und Sinnen entsagenden Männer schwelgen oft bis in ein hohes Alter hinein in den sinnlichsten Phantasien.

Dass viele sich gar wenig um die Glaubenslehre kümmerten, und dass die asketische Moral der Sufis öfter in das Gegenteil sich verwandelte, braucht uns nach alledem nicht zu wundern.

Die Entwicklung des Sufismus im einzelnen zu verfolgen, ist mehr eine Aufgabe für die Religions- als für die Philosophiegeschichte. Auch finden wir die philosophischen Elemente, die darin aufgenommen wurden, bei den muslimischen Philosophen, denen wir im folgenden begegnen werden. [63].

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