Flächenland
Flächenland für Gläubige

von

Yavuz Özoguz

und

Huseyin Özoguz

Inhaltsverzeichnis

Wie ich eine Vision von Linienland hatte

Es war Anfang 1400 unserer flächenländischen Zeitrechnung. Nachdem ich mich bis in die späte Nacht hinein mit meiner Lieblingsbeschäftigung, der Geometrie, unterhalten hatte, war ich mit irgendeiner ungelösten Aufgabe im Kopfe zur Ruhe gegangen.

In der Nacht hatte ich einen erstaunlichen Traum. Ich sah vor mir eine ungeheure Menge kleiner gerader Strecken (die ich natürlich für Kinder hielt), untermengt mit anderen noch kleineren Wesen in Gestalt leuchtender Punkte; alle bewegten sich in ein und derselben Geraden hin und her, und, soweit ich es beurteilen konnte, mit derselben Geschwindigkeit; immer wieder hin und her.

Abbildung 4: Wie ich Linienland sah

Ein Geräusch verwirrenden vielfältigen Gezirpes und Gezwitschers ging von ihnen aus, solange sie sich bewegten; aber mitunter hielten sie in der Bewegung inne, und dann war alles still.

Ich näherte mich einer der größten Punkte unter ihnen, die ich für Kinder hielt; ich sprach ihn an, bekam aber keine Antwort. Eine zweite und dritte Anrede meinerseits waren gleichfalls erfolglos. Ich verlor die Geduld und brachte meinen Mund direkt vor den seinen, um seine Bewegung zu unterbinden, und wiederholte laut meine Frage: „Kind, was bedeutet diese Ansammlung, dies merkwürdige und verwirrende Gezirpe und diese einförmige Bewegung hin und her in ein und derselben Geraden?“„Ich bin kein Kind“, erwiderte die kleine Linie. „Ich bin der Herrscher der Welt. Aber du, woher dringst du in mein Königreich Linienland ein?“

Da ich eine so kurz angebundene Antwort erhielt, bat ich um Verzeihung, falls ich Seine Königliche Hoheit irgendwie erschreckt oder belästigt haben sollte; ich gab mich für einen Fremden aus und ersuchte den König, mir doch von seinem Lande zu berichten. Aber ich hatte die größte Schwierigkeit, Auskünfte über die Dinge zu erhalten, die mich wirklich interessierten; denn der Monarch konnte sich nicht von der Annahme frei machen, dass alles, was ihm vertraut war, auch mir bekannt sein müsste, und dass ich nur zum Vergnügen Unverstand heuchelte. Aber durch fortgesetztes Fragen brachte ich doch die folgenden Tatsachen heraus: Es schien, dass dieser arme unwissende Monarch überzeugt war, die gerade Linie, die er sein Königreich nannte und in der er sein Leben zubrachte, sei das Weltall und tatsachlich „der Raum“ schlechthin. Ich habe es versucht für sie, liebe Leser, in der Abbildung 4 zu veranschaulichen, wie der Herrscher lebte.

Da der König nicht imstande war, sich außerhalb seiner geraden Linie zu bewegen oder zu sehen, hatte er keinen Begriff von irgendetwas außerhalb der Linie. Obwohl er meine Stimme gehört hatte, als ich ihn zum ersten Male ansprach, waren die Laute doch auf eine seiner Erfahrung so widersprechende Art und Weise zu ihm gekommen, dass er keine Antwort gegeben hatte, „weil er keinen Menschen sah“, wie er es ausdrückte, und dennoch eine Stimme hörte, die sozusagen aus seinen eigenen Eingeweiden kam. Bis zu dem Augenblicke, an dem ich meinen Mund in seine Welt brachte, hatte er mich weder gesehen noch irgend etwas gehört außer meine Laute, die das getroffen hatten, was ich seine Seite, er aber sein Inneres oder sein Herz nannte; auch hatte er sogar jetzt noch nicht die geringste Vorstellung von der Gegend, aus der ich gekommen war. Außerhalb seiner Welt oder Linie war alles eine Leere für ihn; nein, nicht mal eine Leere, denn eine Leere schließt den Begriff des Raumes in sich; sagen wir lieber: es war überhaupt nicht vorhanden.

Seine Untertanen, die kurzen Linien, stellten Männer dar und die Punkte Frauen. Sie waren in Bewegung und ihr Gesichtskreis war gleichermaßen auf jene einzige Gerade beschränkt, die ihre Welt war. Niemand konnte jemals etwas anderes als einen Punkt sehen. Mann, Frau, Kind, Gegenstand; alles war ein Punkt für das Auge eines Linienländers. Da überdies jedes Individuum den engen Pfad, der sein Universum ausmachte, ganz einnahm und sich nicht nach links oder rechts bewegen konnte, um vorübergehenden Platz zu machen, folgt daraus, dass kein Linienländer jemals an einem anderen vorbei konnte. Nachbarn blieben Nachbarn, bis der Tod sie trennte. Solch ein Leben, den ganzen Gesichtskreis auf einen Punkt beschränkt und alle Bewegung auf einer Geraden, schien mir unaussprechlich öde zu sein, und die Lebhaftigkeit und der Frohsinn des Königs überraschten mich.

Ich fragte nach der Gesundheit seiner Familie. „Meine Frau und Kinder“, erwiderte er, „sind gesund und munter.“ Diese Antwort machte mich stutzig, denn in der unmittelbaren Nachbarschaft des Monarchen befanden sich nur Männer – so hatte ich es in meinem Traum wahrgenommen, ehe ich Linienland betrat. Und so wagte ich zu entgegnen: „Verzeihung, aber ich kann mir nicht denken, wie Eure Königliche Hoheit jemals Ihre Frau sehen oder sich ihr nähern können, wenn mindestens ein halbes Dutzend Wesen dazwischen stehen, durch die man nicht hindurch sehen und an denen man nicht vorbeigehen kann. Ist es möglich, dass in Linienland räumliche Nachbarschaft zur Ehe und zum Familienleben nicht nötig ist?“

„Wie können Sie eine so unsinnige Frage stellen?“, entgegnete der Herrscher. „Wenn es wirklich so wäre, wie Sie vermuten, würde das Weltall bald entvölkert sein. Nein, nein; unmittelbare Nachbarschaft ist für die Vereinigung der Herzen nicht notwendig, und die Geburt der Kinder ist eine zu ernste Angelegenheit, als dass man sie von einem solchen Zufall wie Nachbarschaft abhängig machen könnte. Wissen Sie also, dass Heiraten durch die Fähigkeit, Töne erklingen zu lassen, und durch den Hörsinn zustande kommen?

Sie haben natürlich bemerkt, dass jeder Mann zwei Münder und zwei Stimmen hat ebenso zwei Augen, Bass am einen und Tenor am andern Ende. Ich würde dies gar nicht erst erwähnen, wenn ich nur imstande gewesen wäre, im Laufe der Unterhaltung etwas von Ihrer Tenorstimme zu merken.“ Ich erwiderte, dass ich nur eine Stimme hätte und nicht bemerkt hatte, dass Seine Königliche Hoheit über deren zwei verfügte. „Das bestätigt meinen Eindruck,“ sagte der König, „dass Sie kein Mann sind, sondern ein ungezogener kleiner Bengel mit einer Bassstimme und einem völlig unausgebildeten Gehör. Aber weiter. Da die Natur selbst angeordnet hat, dass jeder Mann eine Frau heiraten soll, hat die Frau auch zwei Münder.“ – „Warum zwei?“ fragte ich. „Sie gehen mit ihrer erheuchelten Unwissenheit zu weit“ rief er. „Wie kann es eine völlige harmonische Vereinigung geben ohne die Verbindung der zwei zu Einem, nämlich des Bass und des Tenor des einen Mannes mit dem Sopran und Alt der Frau, schließlich hat jeder Mann zwei Stimmen und jede Frau auch, aber sie sind unterschiedlich. Und wenn nicht Bass Tenor, Alt und Sopran zusammen kommen, wie sollten dann Kinder entstehen?“

Ich war etwas erstaunt, da ich nicht wusste, was das Kinderkriegen mit der Stimmlage zu tun hatte, denn schließlich hing Kinderkriegen doch nur von der geometrischen Vereinigung eines Quadrats mit einem Dreieck ab, um einen Strich zu zeugen, daher fragte ich weiter nach:  „Verzeihen Sie bitte, wenn ich nach den intimsten Geheimnissen frage, aber wir kann man mit Stimmen Kinder bekommen?“„Woher kommen Sie eigentlich“, entgegnete der Monarch, „das weiß doch jedes Kind bei uns. Einmal, in der Mitte des Monats, zwingt uns ein Naturgesetz, uns mit mehr als gewöhnlicher Heftigkeit rhythmisch hin und her zu bewegen; das dauert so lange, wie man bis hundertvierzehn zählt. Mitten in diesem chorartigen Tanz, bei jeder neuzehnten Schwingung, halten die Bewohner der Welt in vollem Tempo an, und jedes Einzelwesen sendet seinen süßesten, reichsten, vollsten Ton in die Weite. In diesem entscheidenden Augenblick werden alle Ehen geschlossen. Denn so wunderbar ist die Anpassungsfähigkeit von Bass zu Sopran, von Tenor zu Alt, dass die Liebenden sofort die zugehörige Note ihres ihnen bestimmten Geliebten erkennen, und seien sie auch zwanzigtausend Kilometer voneinander entfernt. Sie durchringen die verächtlichen Hindernisse der Entfernung, und die Liebe vereinigt die beiden!

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