Über das Wesen von
Flächenland
Lieber
Leser. Gottes Segen und Frieden seien mit Ihnen. Ich freue
mich, Sie in meiner so anderen Welt begrüßen zu dürfen und
hoffe, dass meine Worte genügen werden, Ihrem erhabenen Geist
unsere so beschränkte Welt zu vermitteln.
Ich nenne
unsere Welt „Flächenland“, nicht weil wir sie so nennen,
sondern um ihr Wesen Ihnen zu erläutern, meine glücklichen
Leser, die Sie das Vorrecht haben, im dreidimensionalen Raum
zu wohnen.
Stellen
Sie sich eine große Fläche dünnstes Papier vor, auf welcher
sich gerade Linien, Dreiecke, Quadrate, Kreise und andere
Figuren frei herumbewegen, auf oder – noch besser – innerhalb
der Oberflache, aber ohne die Fähigkeit, sich darüber zu
erheben oder darunter zu sinken; ganz ähnlich wie Schatten,
nur eben feste Figuren mit leuchtenden Kanten, und Sie werden
eine ziemlich nahe kommende Vorstellung von meinem Lande und
meinen Landsleuten haben. Eigentlich sollte ich noch anfügen,
dass dieses Papier selbst wiederum – aus Ihrer Sicht –
gekrümmt ist, zu einer Oberfläche von dem, was sie eine
riesige Kugel nennen würden. Aber um Sie nicht zu verwirren,
werde ich Ihnen Schritt für Schritt diese Welt und meine
Erlebnisse darlegen.
Ach! Noch
vor wenigen Jahren hätte ich gesagt: „Das ist meine Welt,
und sie ist unendlich groß“, aber jetzt ist meinem Geist
ein höherer Standpunkt offenbart worden, und ich weiß, wie
begrenzt ich doch gedacht habe. Aber das ist eine längere
Geschichte. Und ich hoffe, dass der Schöpfer mir die Gabe
schenkt, Ihnen diese Geschichte anschaulich zu erzählen.
Sie werden
sofort verstehen, dass in solch einem Lande unmöglich so etwas
vorhanden sein kann, was Sie in Ihrer Welt „Körper“ nennen;
aber Sie werden dennoch sicher annehmen, dass wir zumindest
Dreiecke, Quadrate und andere Figuren mit einem einfachen
Blick unterscheiden könnten. Doch auch darin täuschen Sie
sich! Wir können nichts Derartiges sehen, wenigstens nicht so,
um eine Figur direkt von der andern zu unterscheiden. Nichts
ist sichtbar, ja es kann uns gar nichts sichtbar sein, außer
geraden Linien. Wir sehen immer nur gerade Linien! Und dass es
so sein muss und gar nicht anders sein kann, will ich Ihnen
schnell darlegen.
Abbildung
1: Wie ein Flächenländer einen Kreis sieht
Legen Sie
eine Münze des Geldes mitten auf einen Ihrer Tische in der
Raumwelt, lehnen Sie sich darüber und sehen Sie auf ihn hinab.
Er wird Ihnen als Kreis erscheinen. Aber nun senken Sie Ihren
Kopf und Ihre Augen allmählich tiefer, indem Sie sich an den
Rand des Tisches zurückziehen. Auf diese Art bringen Sie sich
mehr und mehr in die Lage der Bewohner von Flächenland. Und
Sie werden sehen, dass die Münze Ihrem Auge mehr und mehr
elliptisch erscheint, und zuletzt, wenn Sie Ihr Auge genau an
den Rand des Tisches gebracht haben, so dass Sie sozusagen
tatsächlich wie ein Flächenländer „schauen“, wird die Münze
auch nicht mehr elliptisch erscheinen, sie wird eine gerade
Linie geworden sein, wie es in der Abbildung 1 zu sehen ist.
Genau
dasselbe würde eintreten, wenn Sie den Versuch mit einem
Dreieck, einem Quadrat oder irgendeiner anderen aus Papier
geschnittenen Figur durchführen würden. Nehmen Sie z.B. ein
gleichseitiges Dreieck, es stellt bei uns eine ehrbare Frau
dar, die schwanger ist. In der Abbildung 2 ist die schwangere
Frau so gezeigt, wie Sie diese Frau sehen würden, wenn Sie
sich von oben über sie beugen, und daneben, wie diese ehrbare
Frau uns erscheint, wenn wir sie von Flächenland aus sehen.
Abbildung
2: Wie ein Flächenländer ein Dreieck sieht
Aus den
Abbildungen können Sie verständigerweise erkennen, dass wenn
Ihr Auge vollständig in der Ebene des Tisches wäre – und so
sehen wir die Welt in Flächenland – Sie nichts als eine gerade
Linie bemerken würden. Als ich in Raumland war, habe ich
gehört, dass Ihre Seeleute ganz ähnliche Erfahrungen machen,
wenn sie eine ferne Küste am Horizont liegen sehen. Das weit
entlegene Land kann Buchten und Landzungen haben, doch aus der
Ferne sehen Sie nichts davon, falls nicht gerade Ihre Sonne
hell darauf scheint und die Vorsprünge und Einbuchtungen durch
Licht und Schatten hervorhebt, nichts als eine graue,
ununterbrochene Linie auf dem Wasser.
Nun, ganz
dasselbe sehen wir, wenn einer unserer Bekannten auf uns in
Flächenland zukommt. Da es bei uns weder eine räumliche Sonne
noch Körper, die Schatten werfen, gibt, besitzen wir für das
Sehen keine Hilfen, wie Sie es in Raumland haben. Wenn unser
Freund auf uns zukommt, sehen wir seine Linie größer werden.
Wenn er uns verlässt, wird die Linie kleiner. Aber immer sieht
er wie eine gerade Linie aus, möge er ein Dreieck, ein
Quadrat, ein Kreis, oder was Sie sonst wollen, sein. Für uns
sieht er aus wie eine gerade Linie und nicht anders. Denn wir
können nur innerhalb der Ebene schauen, so wie Sie von der
Tischkante auf die Münze oder das Dreieck blicken.
Sie werden
vielleicht fragen, wie wir unter diesen ungünstigen Umständen
imstande sind, unsere Freunde überhaupt voneinander zu
unterscheiden; aber die Antwort auf diese sehr natürliche
Frage fällt leichter, wenn ich zu der Beschreibung der
Einwohner von Flächenland komme. Fürs erste lassen Sie mich
diesen Punkt übergehen und lieber einige Worte über das Klima
und die Häuser in unserem Lande sagen.