Achtunddreißigstes Kapitel - Ein grauenvolles Erlebnis
Hadschis
Einige Tage später ward das Lager abgebrochen, und der
Schah kehrte in sein Winterquartier nach Teheran mit der
gleichen Feierlichkeit und Pracht zurück, wie er es verlassen
hatte. Meine Stellung als Unterleutnant des Großexekutors
hatte ich wieder angetreten und war, um strenge Ordnung
während des Marsches aufrecht zu erhalten, gerade dabei, den
mir unterstellten Leuten einige Weisungen zu geben, als ich
den Auftrag erhielt, einen Boten nach Teheran mit dem Befehle
zu schicken, die ›Bäsigers‹ (Tänzerinnen sowohl als
Sängerinnen) möchten sich in Suleimanijé bereithalten, um den
Schah bei seiner Ankunft dort zu empfangen.
Dieser Befehl brachte mir meine längst vergessene Seneb
wieder in Erinnerung, und alle zärtlichen Regungen, die
infolge meines bewegten Lebens so lange geschlummert hatten,
erwachten nun aufs neue. Seit unsrer ersten Begegnung waren
sieben Monate verstrichen, und wenn ich auch unterdessen nur
mit Männern verkehrt hatte, deren rohe Sitten angetan waren,
jede zartere Empfindung in mir zu ertöten, so malte ich mir
dennoch ihre jetzige Lage in so entsetzlicher Weise aus,
fühlte mich an allem so schuldig, daß mir jedesmal, sooft mir
die Sache in den Sinn kam, ein Stich durchs Herz ging. »Ob
meine Sorgen begründet sind, wird sich bald zeigen,« dachte
ich; »in wenigen Tagen erreichen wir Suleimanijé, wo sich ihr
Geschick entscheiden muß.«
Als wir dort ankamen, ritt ich an der Spitze des Zuges
voraus, um im Palaste nachzusehen, ob alle Vorbereitungen
richtig getroffen wären.
Als ich in die Nähe der Haremsmauern gelangte, hinter denen
die ›Bäsigers‹ bereits wohnten, vernahm ich die Klänge von
Stimmen und Musikinstrumenten. Was hätte ich nicht darum
gegeben, mit Seneb sprechen oder sie wenigstens aus der Ferne
beobachten zu können! Aber ich wußte, es wäre unklug gewesen,
mich zu eingehend nach ihr zu erkundigen; daraus konnte ein
für sie und mich gleich gefahrdrohender Verdacht entstehen,
der für uns beide wohl augenblickliches Verderben bedeutet
hätte. Mich jetzt über die Sache zu sehr aufzuregen, hatte
auch gar keinen Zweck, denn ein Salutschuß der Kamelartillerie
verkündete, der Schah sei soeben aus dem Sattel gestiegen.
Nachdem dieser im großen Audienzsaale eine Wasserpfeife
geraucht und die Höflinge, die ihm aufgewartet, entlassen
hatte, zog er sich in den Harem zurück.
Als ich dort eintrat, vernahm ich Stimmen von Frauen, die,
während sie unter Begleitung von Tamburinen, Gitarren und
kleinen Trommeln eine Melodie sangen, im Zuge an ihm
vorüberschritten. Ich lauschte mit allen Sinnen, um Senebs
Stimme zu erkennen, doch das war eitel Mühen. In peinvoll
ungewisser Stimmung schwankte ich zwischen Furcht und Hoffnung
bis zu dem Augenblicke, wo der Befehl kam, mein früherer Herr,
Mirza Ahmak, habe augenblicklich vor dem Schah zu erscheinen.
Alle Lebenslagen, die das Tiefste unsres Innern berühren,
erzeugen Ideenverbindungen, die mit der Schnelligkeit des
Gedankens auftauchen, um uns prophetisch die Zukunft zu
enthüllen. Als ich hörte, es sei nach dem Doktor geschickt
worden, rann mir ein kalter Schauer durch das Blut, und ich
sagte mir: »Nun ist Seneb für immer verloren.«
Der Doktor kam, wurde jedoch rasch entlassen; da er mich an
der Haremstür erblickte, nahm er mich beiseite und sagte:
»Hadschi, der Schah ist wutentbrannt. Du entsinnst dich wohl
der kurdischen Sklavin, die ich ihm am Feste von Nouruz
schenkte? Unter dem Vorwande, sie sei krank, erschien sie
nicht unter den Tänzerinnen. Er liebt sie und hat sein Herz
daran gehängt, sie wiederzusehen. Er ließ mich rufen, damit
ich Rechenschaft über ihr Betragen ablege, als ob ich
irgendeinen Einfluß auf die Launen dieser Satanstochter hätte,
und drohte, so er sie nicht in voller Schönheit und Gesundheit
in Teheran vorfände, was in der nächsten glückverheißenden
Stunde der Fall sein kann, würde er mir den Bart samt den
Wurzeln ausreißen lassen. Verflucht sei der unselige
Augenblick, in dem sie meine Sklavin wurde, und noch mehr die
Stunde, wo ich den Schah in mein Haus zu Gaste lud.«
Daraufhin verließ mich der Doktor, um sofort nach Teheran
weiterzureisen, während ich mich in mein Zelt zurückzog, um
über das entsetzliche Schicksal, dem das unglückliche Mädchen
mit Sicherheit entgegenging, nachzusinnen. Ich versuchte,
meine Lebensgeister durch den Gedanken wieder aufzurichten,
daß sie vielleicht wirklich krank wäre und deshalb nicht vor
dem Schah erscheinen könnte; auch tröstete ich mich mit der
Idee, des Doktors Herz ließe sich, wenn er erst den wahren
Grund zu meinen Besorgnissen erfahren hätte, vielleicht
erweichen, er würde sie allenfalls dadurch schützen können,
daß er sie den Augen des Schahs entrückte und ihr Fernbleiben
durch nichtige Vorwände erklärte. Und schließlich deklamierte
ich, meinen Gefühlen zum Hohne, die Verse eines unsrer
Dichter, der gleich mir seine Geliebte verloren hatte:
Gibt es denn nur ein Paar Rehaugen?
Nur eine Zypressengestalt?
Nur ein Gesicht so rund wie der Mond?
Soll ich den Verlust meiner Grausamen so tief betrauern?
Warum soll ich verbrennen, mich selbst verwunden
Und unter den Fenstern meiner Zauberin Seufzer aushauchen,
Für die sie kein Ohr hat?
Nein, laßt mich lieben, wo Liebe wohlfeil ist,
Denn meine Gefühle will ich nicht verschwenden.
In dieser Weise versuchte ich, die Dinge auf die leichte
Achsel zu nehmen; durch meine Frauenverachtung jedoch wollte
ich beweisen; ich sei ein echter Muselmann. Aber wohin ich
mich wandte, wohin immer auch ich gehen mochte, schwebte mir
Seneb als zerrissener, verstümmelter Leichnam vor Augen, eine
Vorstellung, die mich zu jeder Stunde des Tages und der Nacht
verfolgte.
Endlich wurde die glückbringende Stunde für die Ankunft des
Schahs verkündet, und er betrat Teheran inmitten seines ganzen
Volkes, das vor die Tore gezogen war, um seine Ankunft zu
begrüßen. Mein sehnlichster Wunsch war es, den Doktor, aber
nur wie durch Zufall, zu sprechen, damit, sollte Seneb
schuldig befunden werden, kein Verdacht auf mich fiele. Am
gleichen Abende unsrer Ankunft sollte mein verhängnisvoller
Wunsch nur zu rasch erfüllt werden. Als ich gerade beschäftigt
war, einem der Nessektschis einige Befehle zu erteilen, sah
ich den Doktor tief bekümmert aus den inneren Gemächern des
Schahs kommen, eine Hand im Gürtel, die andre in die Seite
gestemmt, den Rücken mehr als sonst gebeugt, die Augen zu
Boden gesenkt. Ich trat ihm in den Weg und bot ihm den
Friedensgruß, was ihn veranlaßte aufzusehen.
Als er mich erkannte, blieb er stehen und sagte: »Gerade du
bist es, den ich suche! Komm näher,« flüsterte er und nahm
mich beiseite. »Eine ganz seltsame Geschichte ist hier im
Umlauf. Diese Kurdin hat alles denkbare Mißgeschick über mein
Haupt gebracht. Wallah! Beim Himmel, der Schah ist rein
verrückt geworden; er spricht davon, in einem allgemeinen
Blutbade alles, was männlich ist in und außer seinem Harem,
von den Wesiren angefangen bis zu den Eunuchen, niedermachen
zu lassen, und schwor mir bei seinem Barte, falls es mir nicht
gelingen sollte, den Schuldigen ausfindig zu machen, an mir
das erste Exempel statuieren zu wollen.«
»Welchen Schuldigen?« fragte ich. »Was ist denn eigentlich
vorgefallen?«
»Nun Seneb!« antwortete er, »Seneb!«
»Oh,« sagte ich, »jetzt verstehe ich, es ist jene, die Ihr
so liebtet?«
»Ich?!« rief der Hakim ganz entsetzt, man könnte ihn im
Verdachte haben. »Ich?! Istaghfirullah! (Gott behüte!) Um des
Himmels willen, sage so was nicht wieder, Hadschi; wenn dem
Schah eine solche Verdächtigung nur angedeutet würde, so
führte er seine Drohung auf der Stelle aus. Wo hast du je
gehört, ich liebte Seneb?« – »Ach, damals waren viele
Gerüchte, Euch betreffend, im Umlaufe«, sagte ich, »und alle
Leute höchlichst erstaunt, daß ein Mann von Eurer Bedeutung,
der Lukman seiner Zeit, der persische Galen, sich mit einem so
leichtfertigen und gefährlichen Ding wie einem kurdischen
Mädchen einlassen konnte! Die stammt ja zweifellos vom Teufel
ab, in dessen Fußtapfen zu treten bekanntermaßen Unheil
bringen muß; deren Persönlichkeit aber, abgesehn davon, ganz
dazu angetan war, Unglück über ein ganzes Reich zu bringen,
geschweige wie viel mehr über eine einzelne Familie wie die
Eure!«
»Hadschi, du hast recht,« sprach der Doktor, indem er
seinen Kopf auf den Schultern hin und her wiegte und sich
gleichzeitig mit der rechten Hand auf die Magengrube schlug.
»Ach, ich war doch ein rechter Narr, mich je von diesen
schwarzen Augen blenden zu lassen! Doch das waren gar keine
richtigen Augen, da war Zauberei im Spiele, der Teufel in
Person blickte heraus, nicht sie; und wenn Seneb jetzt nicht
von ihm besessen ist, will ich mein Lebtag ›Gorumsak‹ heißen.
Aber was soll ich eigentlich tun?«
»Wie, soll wohl ich das wissen?« antwortete ich. »Was
gedenkt der Schah mit ihr zu tun?«
»Meinetwegen soll sie zur Hölle fahren,« antwortete der
Doktor, »in ihres Vaters Reich, und möge sie glücklich reisen!
Jetzt heißt es nur auf meine eigene Haut bedacht sein!«
Dann schaute er mich voll Zärtlichkeit an und sagte: »O
Hadschi, du weißt, wie innig ich dich immer liebte, ich nahm
dich in mein Haus auf, als du ohne Obdach warst, ich
verschaffte dir eine gute Stellung, und wenn du in deinem
Berufe vorwärts kamst, so war es nur durch mein Zutun. Du mußt
zugeben, es gibt noch Dankbarkeit in der Welt, oder es sollte
sie geben! Du hättest jetzt eine so schöne Gelegenheit, sie zu
beweisen!« Nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, spielte er
mit meinen Schnurrbartspitzen und sagte: »Errätst du nicht,
was ich sagen möchte?«
»Nein,« war meine Antwort, »bis jetzt ist mir die Sache
noch gänzlich unverständlich!«
»Wohlan, bekenne mit zwei Worten, du seiest der Schuldige.
Ich würde ja durch so ein Geständnis den größten Teil meines
Ansehens einbüßen, du aber bist jung und kannst es über dich
ergehen lassen, wenn man so eine Geschichte von dir erzählte.«
»Mein Ansehen soll ich verlieren? Und was dann, wenn der
Verlust des Lebens daraus erfolgt? Seid Ihr verrückt, Mirza
Ahmak, oder nehmt Ihr etwa an, ich sei es? Warum sollte ich
sterben müssen? Warum wollt Ihr, daß mein Blut über Euer Haupt
komme? Sollte man mich über die Sache befragen, so kann ich
nur aussagen, daß ich Euch nicht für schuldig halte, weil Ihr
stets zu große Angst vor der Khanum, Eurer Frau, hattet; aber
daß ich der Schuldige sein soll, werde ich niemals zugeben.«
Mitten in unserm Gespräche brachte einer der Eunuchen des
Schahs eine Meldung, derzufolge sein Vorgesetzter den Befehl
erhalten habe, der Unterleutnant des Großexekutors nebst fünf
Mann hätten um Mitternacht am Fuße des hohen Turmes nächst dem
Haremseingange Wache zu stehen, sollten auch einen ›Tabut‹
(Bahre) mitbringen, um einen Leichnam zur Bestattung zu
tragen.
Alles, was ich darauf zu antworten vermochte, war: »Be
tscheschm« (bei meinen Augen). Glücklicherweise ging er gleich
weg. Mirza Ahmak verließ mich ebenfalls sofort, sonst hätten
mich Furcht und Qual, die mich bei dieser Weisung
überwältigten, verraten. Alsbald brach mir der kalte Schweiß
aus, meine Knie zitterten; sicher wäre ich ohnmächtig
geworden, hätte mich nicht die Furcht, in dieser Verfassung im
Palast gesehen zu werden, aufrecht erhalten. »Was,« sagte ich
mir, »ist es nicht genug, die Ursache ihres Todes zu sein? Muß
ich auch noch ihr Henker werden, der Totengräber meines eignen
Kindes sein? Muß ich Unseliger ihr die kalten Glieder
strecken, wenn sie im Grabe liegt, und mein eignes Lebensblut
der Mutter Erde wiedererstatten? O grausames, entsetzliches
Schicksal, warum hast du mich dazu auserkoren? Aber könnte ich
denn all dem Schrecklichen nicht entfliehen, wäre es nicht
besser, mir selbst den Dolch ins Herz zu stoßen? Nein! dies
ist einfach mein mir vorgeschriebenes, besiegeltes und
beschlossenes Geschick, gegen das ich umsonst kämpfe! Das
Werk, das mir aufgetragen, muß ich vollbringen! O Welt, Welt,
was bist du? Und wie viel leichter würde man dich kennen, wenn
jeder den Schleier wegzöge, der seine eignen Taten deckt, und
sich zeigte, wie er wirklich ist!«
Diese Gefühle bedrückten mich so schwer, als lastete der
Berg Demawend samt allen seinen Schwefellagern auf meinem
Herzen. Mürrisch ging ich an meine Aufgabe und wählte einige
meiner Leute aus, die meine Helfer bei dem blutigen
Trauerspiele sein sollten. Sie zeigten sich gänzlich
teilnahmlos und abgestumpft einem Ereignisse gegenüber, das
ihnen nichts Ungewöhnliches bedeutete; war es ihnen doch
vollkommen gleichgültig, ob sie als Leichenträger eines
Ermordeten Verwendung fanden oder den Mord selbst vollführen
mußten.
Der Nachthimmel zeigte sich bewölkt und finster, ganz dem
entsetzlichen Vorgange angepaßt, der sich abspielen sollte.
Die Sonne war auf eine in diesen Himmelsstrichen ungewöhnliche
Weise untergegangen, dicht von blutrot leuchtenden Wolken
umrahmt, deren Massen sich im Laufe der Nacht unter
unaufhörlichem Donnergetöse über die Gipfel der nahen
Elbruskette wälzten. Bisweilen trat der Mond plötzlich aus den
dichten Wolkenschichten hervor, um ebenso plötzlich wieder
dahinter zu verschwinden und die Erde abermals in feierliches
Dunkel zu hüllen. Einsam saß ich im Wachtzimmer des Palastes.
Da ertönten vom Wachtturme die lauten Rufe der Leibwachen, die
Mitternacht verkündeten; und von den Moscheen klangen die vom
Winde getragenen schrillen Rufe der Muezzins, die mich wie
eisige Todesschauer durchfuhren und mir so seltsam geisterhaft
zuraunten, die Stunde des Mordes sei nahe. Sie waren auch die
Todesboten für das arme hilflose Weib. Dies länger anzuhören,
war mir so unerträglich, daß ich in verzweifelter Hast bis zur
bezeichneten Stelle rannte, wo ich meine Genossen vorfand, die
stumpfsinnig und teilnahmlos auf und neben der Bahre saßen,
die meine Seneb umschließen und zu ihrer letzten irdischen
Ruhestätte bringen sollte. Meine Kraft reichte gerade noch zu
der Frage: »Schud?« (Ist es geschehen?), worauf mir die
Antwort wurde: »Nä schud« (Es ist noch nicht geschehen). Dem
folgte eine entsetzliche Stille. Ach, wie hatte ich gehofft,
alles wäre schon vorüber, es würden mir alle Schrecknisse
außer dem, den traurigen Zug zum Begräbnisplatze begleiten zu
müssen, erspart werden! Aber nein, die Bluttat war noch nicht
vollbracht, für mich gab es kein Entrinnen. Im königlichen
Palaste, dicht neben den Frauengemächern steht ein achteckiger
gegen dreißig Gäz (Ellen) hoher Turm, den man von allen Teilen
der Stadt sieht, und auf dessen Höhe sich ein Raum befindet,
wo der Schah sich oftmals ausruht, um die frische Luft zu
genießen. Der Turm, neben dessen Fundamenten sich das Haupttor
des Harems befindet, steht auf unbebautem Grunde. Seine
höchste Spitze krönt eine Terrasse (ein Fleck, den ich
nimmermehr vergessen werde), die jetzt unsre ganze
Aufmerksamkeit fesselte. Kaum waren wir am Turme angelangt,
als mein Blick oben auf der Terrasse drei Gestalten gewahrte,
zwei männliche und eine weibliche, deren Umrisse der ab und zu
hervortretende Mond mit blassen Strahlen undeutlich und
gespenstig beleuchtete. Mit vereinbarter Kraft schienen sie
ihr Opfer vorwärts zu zerren, während dieses, auf den Knien
liegend, mit allen Anzeichen wildester Verzweiflung
hilfesuchend die Hände ausstreckte. Als die Gruppe sich dem
Rande der Terrasse näherte, vernahm man ihr gellendes
Angstgeschrei, das der Sturm, der den Turm umtoste, in so
schauerlich schrille Laute verwandelte, daß sie mir wie das
Lachen des Wahnsinns klangen.
Wir verharrten in atemlosem, tödlichem Schweigen; selbst
meine fünf rohen Kerle schienen ergriffen zu sein. Hätte man
mich damals über meine Empfindungen befragt, so wäre ich
unfähig gewesen, sie zu beschreiben; ich war wie versteinert
und gab mir trotzdem Rechenschaft von allem, was vorging.
Zuletzt erscholl ein durchdringender, gellender Wehschrei
bitterster Not, der sich plötzlich in der grausigen Stille
verlor. Dem folgte ein schwerer Fall – wir wußten, nun war
alles vorüber. Da raffte ich mich auf und stürzte zum Platze
hin, wo meine Seneb und ihre Bürde, nun ein zerfetzter,
verstümmelter, zuckender Leichnam, lagen. Sie atmete noch, und
trotzdem sie schon der Todeskampf verzerrte und das Blut aus
ihrem Munde strömte, bewegte sie die Lippen, als ob sie
sprechen wollte. Ich konnte nichts verstehen, wenn sie auch
Laute von sich gab, die klangen, als sagte sie: »Mein Kind,
mein Kind!« Aber vielleicht war es nur mein Fieberwahn, der
mich täuschte. Ich beugte mich, von heftiger Verzweiflung
erfaßt, über die Leiche und ließ mich, jede Klugheit oder
Selbstbeherrschung vergessend, so von meinen Gefühlen
übermannen, daß, wenn die Kerle in meiner Umgebung meine
wirkliche Lage geahnt, mich nichts vor dem Verderben hätte
retten können; ich ließ mich von meiner Raserei sogar so weit
treiben, mein Taschentuch in ihr Blut zu tauchen und
auszurufen: »Wenigstens dieses soll mich nie verlassen!« Als
vom Turme die gellend teuflische Stimme einer ihrer Henker
rief: »Ist sie tot?« – »Wie ein Stein,« lautete die Antwort
einer meiner Rohlinge –, da kam ich wieder zu mir selbst.
»Dann tragt sie fort,« tönte die Stimme von oben. »In die
Hölle du selbst,« murmelte ein andrer Kerl.
Daraufhin legten die Henker den Leichnam in den ›Tabut‹,
luden diesen auf ihre Schultern und trugen die Bahre zu dem
außerhalb der Stadt liegenden Begräbnisplatze, wo sie ein
fertiges Grab vorfanden. Ganz mechanisch und in
tiefmelancholische Gedanken versunken, ging ich hinterdrein
und ließ mich dann auf dem Friedhofe auf einem Grabsteine
nieder, ohne recht zu wissen, was eigentlich vorging. Während
die Nessektschis ihre Arbeit taten, starrte ich wie
geistesabwesend vor mich hin, sah, daß sie den Leichnam in die
Erde betteten, dann Erde darüber schaufelten und zwei Steine
darauf stellten, einen an den Kopf, den andern an das Fußende
des Grabes. Als sie mit allem fertig waren, kamen sie zu mir
und sagten, nun sei alles getan, worauf ich antwortete: »Geht
nach Hause, ich komme nach.« Als sie mich verließen, um in die
Stadt zurückzukehren, saß ich noch lange auf dem Grabe.
Noch immer war es finstere Nacht, nur der Donner
widerhallte in den Bergen, sonst war kein Laut vernehmbar, als
das wie Kinderweinen klingende Schreien der Schakale, die bald
rudelweise, dann wieder zu zweien und dreien die Stätte des
Todes umschlichen.
Je länger ich am Grabe weilte, desto unerträglicher ward
mir der Gedanke, in meine Behausung und zu meinem
entsetzlichen Handwerk zurückzukehren. Ich verfluchte mein
Dasein, und es überkam mich eine so unbezwingliche Sehnsucht,
dem Weltgetriebe und den Machenschaften aller darin
Hochgestellten zu entfliehen, daß mir nur der Gedanke, ein
Derwisch zu werden und den Rest meiner Tage als reuiger,
bußfertiger Sünder zu verbringen, tröstlich erschien. Mein
Widerwille, heimzukehren, wurde auch durch die allmählich in
mir aufsteigende Angst bestärkt, durch Wort und Tat verraten
zu haben, wie eng meine Person mit den Schicksalen der
Verstorbenen verwoben war. Unterdessen begann es zu dämmern,
und angespornt von Furcht und dem Wunsche, diesen Ort zu
verlassen, beschloß ich, mich zu Fuß nach Kinaragörd, der
nächsten Station auf dem Wege nach Ispahan, zu begeben und
mich dort der ersten Karawane anzuschließen, die ihren Weg
nach dieser Stadt nehmen würde.
»Ich will fort,« sagte ich mir, »ich will sehen, was aus
meinen Eltern geworden ist. Vielleicht erreiche ich das
väterliche Dach noch früh genug, um den Segen meines
sterbenden Vaters empfangen zu können. In seinem hohen Alter
wird es ihn glücklich machen, den so lange entbehrten Sohn
wieder zu haben. Wird es mir aber bei dem steten Unglück, das
mich verfolgt, gelingen, allen meinen Pflichten gerecht zu
werden? Lange genug habe ich den Weg des Lasters beschritten,
nun ist es an der Zeit, daß ich Umkehr halte, um auf
gottseligen Pfaden zu wandeln.«
Kurz, dies schreckliche Ereignis hatte eine solche Wirkung
auf mein Gemüt, daß, hätte ich mein Lebtag in diesen
Gesinnungen verharrt, ich einst würdig gewesen wäre, an die
Spitze unsrer heiligsten Derwische gestellt zu werden.