Vierundzwanzigstes Kapitel - Hadschis Liebesglück
Am nächsten Abend stieg ich auf die Terrasse, wo ich
hoffte, das vereinbarte Zeichen zu entdecken, sah aber keinen
Schleier und ließ mich ganz verzweifelt nieder. Auf der Altane
waren die Tabaksblätter verschwunden, das Haus schien wie
ausgestorben; selbst die ewig kreischende, zänkische Stimme,
die mir jetzt der süßeste aller Naturlaute dünkte, fehlte. Nur
gelegentlich war das Schlürfen eines Pantoffels zu vernehmen,
ein Beweis, daß wohl die alte Leila im Hause herumschlich.
Schon hatte ich die fernen Klänge der königlichen Musiktruppe,
das Lärmen der Trommeln und Schmettern der Trompeten, die den
Sonnenuntergang verkünden, vernommen, hatte den verschiedenen
Tönen der Muezzin, die den Gläubigen zum Abendgebete mahnen,
gelauscht, ebenso den Trommelschlägen der Polizisten, welche
die Kaufleute und Bürger auffordern, ihre Läden zu schließen
und nach Hause zu gehen. In großen Zwischenräumen ertönte der
Schrei der Schildwachen vom Wachtturme des königlichen
Palastes; die Nacht brach herein, und noch immer herrschte
völlige Ruhe im Hause des Doktors. Ich fragte mich, was das zu
bedeuten habe. War jemand erkrankt? Wenn sie alle im Bade
gewesen waren, konnten sie sich nicht so lange dort
aufgehalten haben, denn nur des Vormittags war dies für Frauen
geöffnet. Fand eine Hochzeit statt? Ein Begräbnis? Oder hatte
der Doktor am Ende die Bastonade bekommen? So zermarterte ich
mir das Gehirn, als plötzlich ans Haustor geklopft wurde, bald
darauf die Pantoffeln klapperten und verschiedene Stimmen
erschallten, unter denen vor allen die kreischende, zänkische
heraustönte. Ich beschloß, zu warten und auf mein Glück zu
hoffen. Kurz darauf stahl sich Seneb vorsichtig zu mir und
sagte eilig, sie könne nur einen Augenblick verweilen. Ihre
Herrin wäre ans Krankenbett ihrer Schwester, einer der Damen
im königlichen Harem, berufen worden, diese sei aber
plötzlich, wie man vermutete durch Gift einer Rivalin,
verschieden. Die Khanum hätte dann alle Sklavinnen
mitgenommen, um das bei solchen Anlässen übliche Klagegeschrei
recht imposant zu gestalten. Seit Mittag wären sie alle im
Sterbehause gewesen und hätten aus Leibeskräften bis zur
völligen Heiserkeit geschrien. Ihre Herrin habe der Sitte, aus
Gram die Kleider zu zerreißen, mit der größten Vorsicht genügt
und in Anbetracht dessen, daß sie ihre Lieblingsjacke trug,
sich begnügt, ein paar Säume behutsam aufzutrennen. Da das
Begräbnis am nächsten Morgen stattfinde, müsse sie früh am
Platze sein und weiterklagen, für welche harte Arbeit sie ein
schwarzes Taschentuch und Süßigkeiten nach Herzenslust
erhoffe. Hierauf verließ mich meine Schöne mit dem
Versprechen, das Äußerste zu wagen, um eine Zusammenkunft für
den nächsten Tag zu ermöglichen.
Als ich am andern Morgen aufstand, war ich sehr erstaunt,
Seneb, die mir zuwinkte, im Hofe zu erblicken. Fliegenden
Schrittes sprang ich die Stufen hinunter, die sie sonst
heraufgeeilt war, und befand mich plötzlich mitten im Harem.
Bei dem Gedanken, daß kein Mann diesen Ort ungestraft betreten
durfte, erfaßte mich ein Schauder, doch meine Herzallerliebste
lächelte so fröhlich und so unbefangen, daß ich mutig
weiterschritt. »Komm, Hadschi,« sagte sie, »sei ohne Sorgen,
außer mir ist kein Mensch zu Hause; und wenn das Glück uns
hold ist, so gehört der ganze Tag uns!« – »Durch welches
Wunder hast du das erreicht?« fragte ich; »wo ist die Khanum,
wo sind die Sklavinnen? Und wenn diese auch abwesend sind, wie
soll ich dem Doktor entkommen?«
»Befürchte nichts. Ich habe alle Türen verriegelt, und
sollte jemand kommen, so kannst du entwischen, während ich
öffne; aber dafür besteht keine Gefahr. Alle sind bei der
Leichenfeier, und was Mirza Ahmak anbelangt, über den hat
meine Herrin, die mich allein zu Hause weiß, schon vorsorglich
so verfügt, daß er nicht wagen darf, seinem Hause auf eine
Meile im Umkreise zu nahen. Ich sehe, Hadschi, du staunst!
Aber siehe, das Geschick ist uns wohlgesinnt, und die Stunde
unsrer ersten Begegnung war eine glückbringende. Alles geht
nach Wunsch! Die Georgierin, meine Rivalin, setzte der Khanum
in den Kopf, Leila, die in allen Zweigen der gewerbsmäßigen
Kunst zu klagen seit ihrer Kindheit unterwiesen wurde, dürfe
bei diesem Anlasse nicht fehlen, müsse vielmehr meine Stelle
vertreten, da ich als Kurdin von persischen Gebräuchen wenig
verstünde; und alles das nur, weil sie mir das schwarze
Taschentuch und die Süßigkeiten nicht gönnte. Demzufolge ließ
man mich zu Hause, die übrigen gingen schon vor einer Stunde
ins Sterbehaus. Ich gab vor, schwer gekränkt zu sein, und
sträubte mich aufs heftigste, meinen Platz Leila abzutreten.
Aber dem Himmel sei Dank, wir sind vereint! Laß uns darum so
glücklich wie nur möglich sein!«
Während sie in die Küche ging, ein Frühstück für mich
herzurichten, überließ sie es mir, mich in den Räumen des
Harems umzusehen, die sonst für den Junggesellen eine
verbotene Frucht sind.
Zuerst betrat ich die Gemächer, welche die Khanum selbst
bewohnte. Ein immenses Schiebefenster aus farbigen
Glasscheiben gewährte die Aussicht in den Garten. Ein doppelt
zusammengelegter Filzteppich in der Ecke, darauf ein sehr
großes, mit Quasten verziertes und mit einer Schutzhülle aus
Musselin versehenes Daunenkissen aus Goldstoff, schien mir der
gewohnte Ruheplatz der Dame zu sein. Dicht daneben lag ein
sehr hübsch bemalter Spiegel, den die Khanum wohl fleißig
benützte, wenn sie Augenwimpern und Augenbrauen mittels
kleiner Instrumente mit Kollyrium schwarz färbte. Eine
Schachtel neben dem Spiegel enthielt nicht nur dieses so
beliebte Färbemittel, sondern auch chinesisches Rot für Wangen
und Lippen, ein paar Armbänder, an denen Talismane baumelten,
ein Schmuckstück, genannt ›Tu zulfeh‹, das im Haare befestigt
auf die Stirn niederfällt, ein Messer, Scheren und mannigfache
andere Dinge, deren eine persische Dame zu bedürfen glaubt.
Die einzelnen Bettstücke, zu einem Ballen zusammengerollt, von
einem blau und weiß gestreiften Leinenüberzuge geschützt,
lagen in einer entfernten Ecke des Gemaches. Uneingerahmte
Bilder schmückten die Wände. Auf dem Zierbrett, das oben rund
um das Zimmer lief, stand eine erkleckliche Anzahl Gläser,
Schüsseln und Teller von mannigfaltigster Form. In einer
andern Ecke entdeckte ich zu meinem Erstaunen mehrere Flaschen
Schiraser Wein. Die gute Dame schien sich noch diesen Morgen
an einer der Flaschen, die nur mit einer Blume verschlossen
war, gütlich getan zu haben; wahrscheinlich wollte sie ihre
Kräfte genügend stärken, um sich bei all den traurigen
Anforderungen eines Begräbnisses aufrecht halten zu können.
Ein andres Mal sollten mich scheinheilige und entsagungsvolle
Mienen nicht mehr täuschen. Ich sehe, daß unser guter Doktor,
der als unerschütterlich gläubiger Muselmann bei den
Zechgelagen außerhalb des Hauses nur Brunnenwasser und
Scherbett trinkt, sich dafür innerhalb des Hauses durch eine
Menge guten Weines entschädigt. Ich hatte alles angesehen, was
mich interessierte. Seneb brachte das Frühstück und setzte es
mir im Gemache der Khanum vor. Ach, die Mahlzeit war ganz
unvergleichlich köstlich! Wir saßen ganz nahe nebeneinander
auf dem gleichen, vorhin von mir erwähnten Kissen. Verlockend
standen vor mir: eine Schüssel mit Reis, so weiß wie Schnee;
ein gar herrlich Gericht aus kleinen, starkgerösteten
Fleischstücken, jedes in einer Umhüllung von fladenartigem
persischen Brot; große Schnitten einer wunderbar saftigen
Melone aus Ispahan; etliche schöne Birnen und Aprikosen, ein
aufgewärmter Eierkuchen vom vorhergehenden Tage, Käse,
Zwiebeln, Lauch; eine Schüssel voll Mâ (künstlich gesäuerte
Milch), zwei Arten von Scherbett (Fruchtsaft), außerdem einige
auserlesene Süßigkeiten und eine Schale frischen Honigs.
»Im Namen deiner Mutter,« rief ich aus, drehte meine
Schnurrbartspitzen in die Höhe und überschaute trunkenen
Blickes die Herrlichkeiten vor mir, »wie warst du nur
imstande, das alles so rasch zu beschaffen? Das Frühstück ist
eines Schahs würdig!«
»Rege dich darüber nur nicht auf, sondern lange tüchtig
zu,« entgegnete Seneb. »Gestern abend befahl die Herrin, das
Frühstück für heute herzurichten, diesen Morgen aber beschloß
sie, ihre Mahlzeit im Trauerhause einzunehmen, darum verblieb
mir, wie du siehst, gar wenig Arbeit. Komm Hadschi, laß uns
essen und fröhlich sein.« Wir taten dem Frühstück große Ehre
an und ließen fast nichts davon übrig. Nachdem wir uns die
Hände gewaschen, stellten wir eine Flasche Wein vor uns hin
und tranken, dem Gesetze zum Hohn, jedes ein Glas. Das Blut
kreiste heftiger in unseren Adern, wir versicherten uns
gegenseitig, wie glücklich wir uns fühlten. Wonnetrunken genoß
ich die Gegenwart und wollte mich nicht um die Zukunft sorgen.
Ich ergriff die mir naheliegende Gitarre, stimmte sie und sang
ein Lied von Hafis, das ich in meiner Jugend erlernt
und womit ich einst meine Zuhörer im Bade entzückt hatte:
Sänger mit lieblich tönendem Mund,
Tu uns was Frisches, was Neues kund,
Bring uns den Wein, der das Herz uns erfreu.
Immer wieder und immer aufs neu!
Wie ein Püppchen mit deinem Schätzchen,
Setz dich still an ein lauschiges Plätzchen,
Drück sie ans Herz und küsse sie frei,
Immer wieder und immer aufs neu!
Silberschenkliger Schenke mein,
Schenke den herzberückenden Wein,
Schnell, daß der Krug nie ledig sei.
Immer wieder und immer aufs neu!
Nie genießet des Lebens Frucht,
Wer nicht in Wein und Liebe sie sucht.
Trink! Und denke der Liebsten dabei
Immer wieder und immer aufs neu!
Liebchen sich täglich schminkt und malt.
Bis sie mir herrlich entgegenstrahlt,
Mit der köstlichsten Spezerei,
Immer wieder und immer aufs neu!
Wind des Morgens! geh hin und weh
Bis ans Haus jener lieblichen Fee,
Grüß sie von ihrem Hafis treu.
Immer wieder und immer aufs neu!
Seneb, die ihr Lebtag nichts ähnlich Reizvolles vernommen
hatte, geriet ganz außer sich vor Entzücken, und wir vergaßen
beide unsre jämmerliche Lage, sie die der armen Sklavin, ich
meine von allem entblößte Existenz; wir fühlten und taten, als
gehörte uns das Haus und die ganze Welt, als währte unsre
Liebe ewig und flösse immer Wein.