Fünftes Kapitel - Hadschi macht einen Raubzug mit
Nahezu ein Jahr hatte ich in der Gefangenschaft zugebracht,
und in dieser Zeit war es mir gelungen, das unbedingte
Vertrauen des Sultans zu erwerben. Er besprach mit mir alle
seine persönlichen Angelegenheiten, auch die Vorkommnisse im
Lager, und zählte so fest auf meine ergebene Treue, daß er mir
in Aussicht stellte, ihn auf einem räuberischen Überfalle in
persisches Gebiet begleiten zu dürfen, nachdem mir noch vor
kurzem verboten gewesen war, die Grenzen des Lagers zu
überschreiten. Die Wege durch die große Salzwüste, die uns von
Persien trennte, waren mir gänzlich unbekannt; ich wußte nur
zu gut, daß ein Fluchtversuch für mich das gleiche Schicksal
bedeutete, das schon so viele Gefangene vor mir erlitten
hatten, die entweder elend in der Wüste verschmachtet waren
oder, verzweifelt und reumütig zu den Turkmenen zurückgekehrt,
von diesen grausam und hart für ihre Flucht bestraft wurden.
Nun aber bot sich mir eine herrliche Gelegenheit, die Gegend
genau kennen zu lernen, und mein Herz schlug höher vor
Entzücken beim Gedanken, ich könnte vielleicht auf dem
Raubzuge selbst meine Freiheit wiedererlangen. Jedenfalls
sollte mir kein Hindernis zu groß erscheinen, um auf unserer
Heimreise um jeden Preis eine Flucht zu wagen. Wenn die Tage
länger und milder werden, die grünenden Matten im Gebirge und
die junge Saat in der Ebene den Pferden hinreichende Nahrung
sichern, die Karawanen sich zu langen Reisen rüsten, dann
unternehmen die Turkmenen ihre Raubzüge. Da der Frühling
herannahte, beschloß Sultan Aslan, nach langer Unterredung mit
den Häuptlingen aller Lager und den kühnsten und verwegensten
der Turkmenen, die sich seither auf Raubzügen ausgezeichnet
hatten, einen Einfall nach Ispahan selbst zu wagen.
Der Sultan selbst sollte uns durch die große Salzwüste
führen, deren Pfade er besser kannte als irgendeiner im Lager.
In den mir so wohlbekannten Straßen und Basaren Ispahans ward
ich als Wegweiser auserkoren, und der Sultan drohte mir, mich
beim leisesten verräterischen Muckser auf der Stelle
niederstechen zu lassen. Die Turkmenen ritten eifrig ihre
kostbaren Pferde zu; auch für mich bestimmten sie einen
berühmten Renner zur Reise. Eine große Schaffellmütze tief in
die Stirne gedrückt, mit einem weiten, plumpen Wams aus Fellen
bekleidet, einem Säbel und einer langen hölzernen Lanze
bewaffnet, bot ich das Bild eines schreckenerregenden,
richtigen Turkmenen. Die fünfzig Dukaten hatte ich aus ihrem
Verstecke hervorgeholt und vorsichtig in den Falten meiner
Gürtelschärpe verborgen. Ein Sack voll Korn rückwärts auf den
Sattel gebunden, einige dünne Brotfladen und ein paar harte
Eier bildeten meinen Mundvorrat. Gestählt wie ein Turkmene, an
Entsagung und hartes Leben gewohnt, rechnete ich mit der
Ausdauer meines Magens und dem Glücke des Zufalls. Meinem
ehemaligen Herrn Osman Aga, den der nagende Kummer zum Skelett
verwandelt hatte, mußte ich versprechen, seine Freunde in
Persien energisch zu mahnen, ein Lösegeld für ihn zu erlegen.
»Ach,« – seufzte der Arme –, »mein Sohn wird sich im Besitze
meines Vermögens gütlich tun, meine Frau mit großem Vergnügen
einen andern Gatten erwählt haben – mein Fall ist
hoffnungslos! Tue mir nur die einzige Liebe und frage, wie
hoch jetzt Lammfelle in Konstantinopel im Preise stehen!«
Da verursachten mir die fünfzig Dukaten erneute
Gewissensbisse. Aber für Osman war es doch eigentlich von
größtem Interesse, daß ich sie behielt; ohne ein bißchen Geld
im Beutel war meine Flucht nicht denkbar! – Durch meine
Vermittlung allein konnte ihm die Freiheit winken! Nach dieser
reiflichen Prüfung meiner und seiner Lage verblieben die
Dukaten in meinem Gürtel.
Sultan Aslan stand an der Spitze von zwanzig aus den
verschiedenen Lagern sorgfältig ausgewählten, erprobten
Räubern, deren imposante Gestalten auf ihren edlen, in ganz
Asien hochberühmten Rennern Bewunderung und zugleich Schrecken
einflößen mußten. Ich für meinen Teil fühlte mich nicht zum
Krieger geboren, und wenn ich auch äußerlich meinen
Waffengefährten so wenig nachstand, daß der Sultan in mir
einen künftigen Helden witterte, so graute mir, ehrlich
gestanden, eigentlich gräßlich vor dem Augenblicke, der meinen
Mannesmut auf die Probe stellen würde.
Meisterhaft und mit bewundernswerter Sicherheit führte uns
der Sultan über die bewaldeten schwierigen Gebirgspfade und
durch die unbebauten, unwirtlichen Ebenen Persiens. Er kannte
jede Bergkuppe, zog mit erstaunlichem Scharfsinne aus den
Fußspuren von Menschen und Tieren die treffendsten Schlüsse,
bestimmte danach die Herkunft und die Anzahl der Reisenden,
und wußte, ob sie mit bepackten oder unbepackten Tieren
gereist waren. Wir drangen mit der größten Vorsicht in
bewohnte Gegenden vor, rasteten am Tage und ritten des Nachts.
Unsere Nahrung für Menschen und Tiere erlangten wir durch die
wandernden Stämme, die wir vor unserem Eintritt in die große
Salzwüste aufsuchten, und jagten dann, mit neuen Vorräten
versorgt, so schnell dahin, als unsere Pferde zu laufen
imstande waren. Endlich, nach mühevoll zurückgelegten 700
Meilen, gelangten wir in die Umgebung Ispahans. Nun nahte der
Augenblick heran, der uns für unsere Strapazen entschädigen
und meinen Mut auf die Probe stellen sollte. Als ich erfuhr,
daß meine Gefährten beabsichtigten, durch einen der mir gar
wohl bekannten unbewachten Zugänge nächtlicherweile in die
Stadt zu gelangen, dann direkt in die Karawanserei
einzudringen, um die Barmittel der Kaufleute zu rauben, da
sank mir vor Schreck das Herz in der Brust. Bei meiner genauen
Kenntnis Ispahans war es mir ein leichtes, meinen Genossen
einen Pfad durch die Trümmerfelder der Ruinen zu
zeigen, die Ispahan umgeben, und sie in die bewohnten, aber zu
nächtlicher Stunde gänzlich menschenleeren Viertel zu
geleiten. In der Nähe der Karawanserei stiegen wir von den
Pferden, banden sie im Torbogen eines der verlassenen Häuser,
die sich so häufig selbst in den belebtesten Vierteln
vorfinden, fest und schlichen dann lautlos durch die schmalen
Gassen bis ans Tor der Karawanserei. Mir schlug das Herz! –
hatte ich doch gerade in diesem Stadtviertel meine glückliche
Jugendzeit verlebt und kannte jeden Winkel.
»Ali Mohammed,« rief ich und pochte mit einem Steine gegen
das festverschlossene Eingangstor. »Öffne, die Karawane von
Bagdad ist angekommen!«
»Welche Karawane?« fragte schlaftrunken der Torhüter. »Du
willst mich wohl zum Narren halten – die Karawane ist gestern
schon angekommen.«
Als ich mich in Widersprüche verwickelt sah, mußte ich
schon meinen Namen zu Hilfe nehmen und rief: »Ich bringe
Nachrichten von der Karawane, mit der Hadschi Baba, des
Kerbelaī Sohn, und Osman Aga auszogen.«
»Wenn du jener Hadschi bist, der mich einst so trefflich
rasierte und der so lange abwesend war, dann sei willkommen.«
Daraufhin wurden die schweren Torflügel aufgeriegelt, ein
altes, nur mit Unterhosen bekleidetes Männchen trat heraus.
Der Schein seines eisernen Lämpchens ließ gewahren, daß der
Hof eine große Anzahl von Kaufleuten und eine Fülle
aufgestapelter Waren barg. Im Nu war der alte Mann
überwältigt, wir fielen über die ahnungslosen Kaufleute her,
rafften in kurzer Zeit alles erreichbare Gold und Silber
zusammen und ergriffen in der allgemeinen Verwirrung drei
Kaufleute, deren weiche Betten, seidene Decken und gestickte
Polster auf Reichtum deuteten und später ein hohes Lösegeld
erhoffen ließen. Geknebelt, Hände und Füße auf eine besondere
turkmenische Art gefesselt, schleppten wir sie weg, banden sie
rückwärts auf die schnellsten Pferde, und ein Teil der
Turkmenen stürmte mit ihnen davon. Ich, der die Karawanserei
so genau kannte, wußte, welche Gemächer die reichsten
Kaufleute gewöhnlich innehatten und wo sie ihr Bargeld
aufzuheben pflegten, schlich mich so leise wie nur möglich ins
Zimmer, das Osman Aga einst bewohnt hatte, ergriff das
Kästchen, in welchem die Kaufleute stets ihr Geld verwahrten,
und suchte das Weite. Zu meiner größten Freude hatte ich darin
einen schweren Beutel gefunden, den ich, in meinem Wams
verborgen, weiterschleppte, konnte aber, der Finsternis wegen,
nicht feststellen, ob er Gold oder Silber enthielt.
Als unser Werk beinahe vollendet war, begann man in der
Stadt Lärm zu schlagen. Alle Bewohner der Karawanserei,
Diener, Maultiertreiber und Pferdewärter flüchteten sich auf
das flache Hausdach, Scharen von benachbarten Einwohnern
stürmten herbei und wußten nicht recht, was los war. Die
Polizei erschien, auch alle Bediensteten der Stadtverwaltung.
Diese kletterten ebenfalls aufs Dach und vermehrten mit ihren
wilden Ausrufen: »Schlagt zu« – »Haltet« – »Ergreift sie« –
»Tötet sie« – den allgemeinen Tumult, ohne irgend etwas gegen
die Feinde zu unternehmen. Ein paar Flintenschüsse wurden aufs
Geratewohl abgegeben, und dank der allgemeinen Verwirrung
gelang es uns, ohne weitere Fährlichkeit zu entkommen.
Während des Tumultes war ich oft versucht, der
fürchterlichen Rotte, der ich nun angehörte, zu entfliehen
und, in einem Winkel versteckt, ihren Abzug abzuwarten. Aber
dann überlegte ich mir, daß, selbst wenn es mir gelingen
sollte, mich zu verstecken, meine Gewandung, noch bevor ich
nur erklären könnte, wer ich eigentlich sei, mich verraten und
der blinden Wut des Pöbels, dessen wilde Ausschreitungen mir
von früheren Anlässen her, zur Genüge bekannt waren,
preisgeben würde.
Ich befand mich, in Gedanken versunken, gerade vor dem
Laden meines Vaters, die frohen Tage der hier verlebten
Kindheit kamen mir in Erinnerung; ich grübelte, was ich nun
beginnen sollte, als mich von rückwärts eine rohe Faust am
Arme packte und mir Sultan Aslan selbst mit grimmigster Miene
drohte, er würde mich, merke er, daß ich sein in mich
gesetztes Vertrauen täuschen wolle, auf der Stelle
niedermachen. Um einen Beweis meiner Unerschrockenheit und
Treue zu liefern, stürzte ich mich auf einen an uns ängstlich
vorbeilaufenden Perser, warf ihn zu Boden, schrie laut, ich
wolle ihn töten, wenn er mir nicht gutwillig in die
Gefangenschaft folge. »Um des Imâm Husseïn willen, beim Leben
deines Vaters, beim Barte Omars, gib mich frei,« flehte der
Mann in mir wohlbekannten persischen Klagelauten. Ich erkannte
sofort diese Stimme – sie konnte nur die meines eigenen Vaters
sein. Beim Schein einer Laterne sah ich seine Züge. Im
Augenblicke ließ ich seinen Bart, in den ich die Finger fest
eingekrallt hatte, los, und nur zu gerne hätte ich mich vor
ihn hingestellt und ehrfürchtig seine Hände geküßt, weil wir
Perser gewohnt sind, unseren Eltern mit dem schuldigen Respekt
gegenüberzutreten. Aber ein Aufgeben des Kampfes bedeutete für
mich Todesgefahr, darum rang ich zum Scheine weiter, schlug
anscheinend, um meiner Wildheit rechten Nachdruck zu
verleihen, wütend auf den Mann ein, meine Schläge aber trafen
nur den Packsattel eines Esels, der in der Nähe stand, wo mein
Vater lag. Unterdessen vernahm ich, wie dieser mit sich selbst
sprach: »Ach, wäre Hadschi hier! – der hätte niemals
zugegeben, daß man mir in dieser Weise mitspielte!« –
Diese Worte machten mir einen so tiefen Eindruck, daß ich
ihn sofort losließ und den in meiner Nähe befindlichen
Turkmenen in türkischer Sprache zurief: »Laßt den Mann laufen
er ist nur ein Barbier!« Ich verließ, ohne mich weiter um
etwas zu kümmern, den Schauplatz unserer Tätigkeit, bestieg
eilends mein Pferd und raste in gestrecktem Galopp aus der
Stadt.