Spannungsfelder
Was die Spannungsfelder anbetrifft, so handelt es sich
innerhalb der Religionen in der ersten Linie um das
Spannungsfeld zwischen dem Anspruch der verkündeten Lehre und
der alltäglichen Verhaltensweise ihrer Anhänger. Ich vermeide
hier bewusst, dieses Phänomen als Spannungsfeld zwischen
Anspruch und Wirklichkeit der jeweiligen Religion zu
bezeichnen. Die Wirklichkeit einer Religion ist die
vollständige Verwirklichung derselben. Die landläufige
Formulierung „Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit" ist
unkorrekt, ja falsch, wenn man mit der Wirklichkeit die
Abweichung von der Lehre im Auge hat. Wir sind bei den
Dialogveranstaltungen oft Zeuge dieser Verwechslung. Man redet
vom Islam oder vom Christentum positiv oder negativ und meint
damit die Taten ja ganz deutlich, d. h. die mit dem Islam-
oder Christentum unvereinbaren Taten ihrer Anhänger.
Es geht hier keineswegs um die Beschönigung der Religionen
und deren Freisprechung von Problemen. Nein! Es geht lediglich
um die Notwendigkeit der Einhaltung der gleichen Ebene bei
jedem Dialog, wenn dieser von einer Erfolgsabsicht getragen
werden soll.
Ein weiteres Spannungsfeld, das nicht minder zum
Vertauschen verschiedener Ebenen führt, ist das zwischen der
Lehre und dem sich daraus unvermeidlich entwickelten
Volksglauben.
Es ist nicht gemeint, dass man den Volksglauben als falsch
zurückweisen soll. Nein. Es ist sogar interessant, auf der
Ebene der interreligiösen Volksglauben oder sogar Aberglauben
Dialoge zu führen, um den Gründen und der Art dieser Phänomen
nachgehen zu können, vorausgesetzt, dass sich dabei bei dem
einen oder bei dem anderen kein Ebenentausch einschleicht.
Ein weiteres, ebenso unvermeidbares Spannungsfeld ist das
zwischen der Lehre und dem wissenschaftlichen Umgang damit.
Jede Lehre - jüdische, christliche, islamische usw. Lehre -
gibt von sich aus Anlass zu verschiedenen Ansätzen:
Interpretationsansätze. Das ist - im Unterschied zu einer
Philosophie, die möglichst widerspruchsfrei sein soll, - die
positive Eigenart der Offenbarungstexte, die durch ihre
konkrete - nicht abstrakt gedachte - Lebensbezogenheit auf
unterschiedliche Situationen, situationsgemäß und
situationsgerecht reagieren und sogar unterschiedliche
Aussagen über das gleiche Phänomen machen. Der Dialog wird
mehr Erfolg erzielen, wenn es den Dialogpartnern gelingen
würde, klarheitshalber historische Bezugssituationen zu
rekonstruieren, anstatt mittels theologischer Spekulationen
die Lage zu verkomplizieren und den Dialog in eine Sackgasse
zu führen.
Ein recht störendes Spannungsfeld rührt von der aktuellen
Weltpolitik her. Hier sind es die Anhänger dieser oder jener
Religion, die im Einklang mit oder im Widerspruch zu dieser
oder jener politischen Erscheinung im Namen ihrer Religion
auftreten. Wegen ihrer Aktualität tauchen solche Erscheinungen
bei vielen Zwiegesprächen vordergründig auf. Durch
Ebenentausch und Undifferenziertheit bekommt das Gespräch eine
verkehrte Laufbahn, vor allem dort, wo - wie angedeutet - eine
ähnliche Absicht dahinter steckt.
Die Pro- und Kontraeinstellung der Muslime zum Aufruf
Saddams zum jihad brachte den Islam und die Gespräche darüber
in eine solch komplizierte Situation, obwohl weder das eine
noch das andere - weder mit der Lehre des Islam noch mit
dessen Praxis etwas zu tun hatte - es war ein rein politisches
Phänomen im Rahmen der Beziehungen zwischen dem Westen und dem
islamischen Orient.