Der Islam im Dialog

Der Islam im Dialog - Aufsätze

Prof. Abdoldjavad Falaturi

Inhaltsverzeichnis

Die Pluralität der Religionen und der religiöse Pluralismus

Dial. d. Relig. 1. Jg., Heft 2, S. 130-178

I. Der Pluralismus und die dialogische Situation

v. Strietencron:

Religiösen Pluralismus hat es schon seit dem Altertum gegeben. Nur zeigte sich das Faktum vor allem an den Rändern eines Kulturkreises und in den großen Handelszentren. Die breite Mehrheit blieb von der Präsenz von Andersgläubigen relativ unberührt. Heute nun sind wir durch den weltweiten Handel, durch Verkehrsmittel, durch internationalen Tourismus und vor allem durch Rundfunk und Fernsehen mit allen Teilen der Welt verknüpft. Unser Erfahrungshorizont hat sich global erweitert, die Interdependenz hat sich auf dem Ernährungs-, Energie- und Rohstoffsektor vervielfacht, und der Handel mit Fertigprodukten lebt von einem weltweiten Absatz. In dieser Situation, so scheint mir, können wir den Andersgläubigen nicht mehr übersehen. Er begegnet uns hier und überall. Und was machen in dieser Situation die Religionen?

Früher war es einfach: Wenn die eigene Religion richtig ist und allein den wahren Weg zur Erlösung weist, dann müssen die anderen falsch sein; und wenn sie falsch sind, müssen sie bekämpft werden. Oder man schickte Missionare aus, um die anderen zu überzeugen, dass auch sie einen besseren Weg wählen könnten.

Was hat sich geändert, wenn man heute den Dialog von Religionen sucht? Wozu soll er eigentlich führen? Hat man den Absolutheitsanspruch der eigenen Wahrheit zugunsten eines echten Pluralismus von mehreren Wahrheiten aufgegeben? Oder will man den anderen weiterhin überzeugen, d.h. den Missionsgedanken nur hinter der Maske des Dialogs verstecken? Oder ist man vielleicht sogar bereit, die eigene religiöse Identität zugunsten einer künftigen Universalreligion aufzugeben?

Jürgen Moltmann:

Nach meinen Erfahrungen in Dialogen mit Marxisten oder auch mit Juden handelt es sich weder um die Auflösung der eigenen Identität noch um die Bewahrung dieser Identität. In einem Dialog lernt man einen anderen verstehen und sich selber mit den Augen des anderen zu verstehen, so dass es eigentlich zu einem neuen Profil kommt in der Hinwendung zum anderen. Das berührt die eigentliche Identität nicht essentiell, sie wird auch an dieser Stelle noch nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil:

Wenn mir ein Marxist begegnen würde und sagte, er wäre auch nur ein Humanist, würde ich keinen Anlass sehen, mit ihm weiterzureden. Wenn ein Hindu sagen würde, er wäre für eine Universalreligion und für Pluralismus, würde ich mit ihm nicht weiterreden. Das wäre ja völlig uninteressant, denn nur ein scharfes Profil ist dialogwürdig.

Darüber hinaus würde ich gerne noch etwas sagen zu dem Pluralismus von Religion oder der Pluralität von Religionen. Ich glaube nicht, dass dies Menschen dazu zwingt, eine Wahl treffen zu müssen. Im Gegenteil, der Agnostizismus ist die erste Antwort auf die Pluralität von Religionen. Das sehen wir in vielen Gesellschaften. Zweitens, es handelt sich nicht nur um die Koexistenz von verschiedenen Religionen, sondern um die Koexistenz verschiedener Lebensstile. Was ist der Islam ohne die Pari3a, was ist das Judentum ohne die Thora, was ist das Christentum ohne die Bergpredigt? Wenn wir die Religionen ernst nehmen, dann stoßen sie sich so im Raume, dass diese, leichtfertige Toleranz, es seien eben alles Religionen, die uns als Angebot in unserer Religionsfreiheit begegnen, uns dabei eigentlich vergeht. Das zeigt auch der Streit ums Kopftuch bei muslimischen Mädchen an französischen Schulen. Je mehr man in die existenzielle Tiefendimension einer Religion kommt, umso schwieriger wird es mit dem Dialog. Lassen Sie mich schießen mit der Frage nach Artikel 18 der Menschenrechte: Ist Religionsfreiheit ein persönliches individuelles Menschenrecht? Welche Religion anerkennt das persönliche individuelle Menschenrecht, diese betreffende Religion auch verlassen zu können?

Albert Friedlander:

Als Rabbiner würde ich mich natürlich dem anschließen, was Herr Moltmann gerade gesagt hat. Auch in den Dialogen, die schon zwischen Islam, Judentum, Christentum geführt worden sind und in die wir uns auch immer wieder neu hinein begeben, treffen wir auf das Motiv, dass wir zum Teil wenigstens auch darum zusammen kommen, weil die Welt um uns herum areligiös geworden ist. Gewiss wird es besonders wichtig zu erkennen, wie wir zusammen arbeiten können in einem Dialog, wo wir auch durch den anderen definiert werden, wie Herr Moltmann eben gesagt hat. Zum Teil waren die größten Denker des Judentums in der modernen Zeit - ich denke an Martin Buber und Leo Baeck, auch an Franz Rosenzweig - Figuren, die man als Apologeten angreifen konnte, weil, wie auch Rosenzweig selbst über Baeck und dann über Max Brod sagte, diese Apologeten am Rande des Judentums standen, weil sie Fragen beantworteten, die von außen kamen. Sowie sie die Frage angenommen hatten, hatte sich schon ihre Sprache geändert, hatten sie schon Konzepte hineingebracht in ihr eigenes Verständnis, was das Judentum für sie bedeutete, das sich so auch zum Teil veränderte: Es zeigte sich, dass es keinen Dialog gibt, kein Gespräch mit anderen Religionen, das nicht die beiden Religionen zum Teil verändern könnte. Ich würde das als etwas Positives sehen, aber es ist auch etwas, was man als gefährlich ansehen könnte. Positiv deshalb, weil man etwas von dem anderen annehmen kann. Um ein biblisches Wort zu wählen: „Liebe den Nächsten wie dich selbst." In diesem Text kommen wir auch zum Verständnis, dass wir uns selbst lieben müssen, um den anderen zu lieben. Oder: Liebe den Nächsten, er ist wie du - was auch eine Übersetzung dieses Textes sein kann. In diesem Sinne wäre dann die Identitätsfindung auch eine Frucht des Dialogs, und dies ist eben eine Erneuerung, eine Vergrö-

ßerung, ein Wachsen innerhalb einer Religion, die sich den anderen Religionen öffnet. Es wird hier, glaube ich, nicht nur um die drei schon genannten Offenbarungsreligionen Judentum, Christentum, Islam, gehen können, weil das schon eine etwas imperialistische Perspektive wäre, die eurozentrisch ist. Jetzt haben die anderen Religionen des Ostens zum Recht ihrer eigenen Sprache gefunden und sie können und müssen uns auch vieles sagen, wo wir verstehen müssen, dass auch dann, wenn vieles gleich ist, nicht alles identisch ist. Dass wir in diesem Gespräch vielleicht ein klareres Verständnis für unsere eigene Identität bekommen werden, wenn wir genau hören, was der andere sagt und auch wie er es sagt oder sie es sagt, das wäre ein Anfang meiner Überlegungen zu unserer Frage und zu der Situation, in der wir uns heute befinden.

Falaturi:

Ja, ich möchte mich gerne auch anschließen und zu den drei Fällen, die Sie genannt haben, noch einen vierten Fall hinzurechnen: dass man nämlich im Dialog lernt, den Partner kennenzulernen, wie er ist mit dem Ziel - und das ist wichtig - ihm Recht zu geben, an seiner Religion festzuhalten so wie ich an meiner. Dabei soll ich ja nicht meinen, dass meine Religion die absolute Wahrheit ist, so dass ich den anderen irgendwie für mich gewinnen möchte oder ihm zeigen will, wie schwach er ist. Das ist leider oft so gewesen. Aus meinen guten und schlechten Erfahrungen geht hervor, dass mindestens zu 80% die Dialoge, die mit Muslimen geführt werden, letzten Endes darauf hinauslaufen, dass der muslimische Teilnehmer oder Partner auf der Anklagebank sitzt; und der Christ redet gar nicht von seinen Schwächen und Stärken, sondern trägt immerfort die Schwäche des Muslims vor, und wenn der es nun wagt, auch fruchtbare Teile oder Werte seiner Religion vorzutragen, wird er - weniger unter Gelehrten, aber sofort wenn eine größere Öffentlichkeit dazukommt - als unglaubwürdiger Advokat angesehen. Das ist nur darin begründet, dass man sich letzten Endes nicht ganz von dem Gefühl trennen kann, dass man glaubt, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein und die anderen Religionen weniger Wahrheit in sich tragen oder Defekte haben. Das war jetzt ein bisschen provokativ, aber genau das soll es auch sein! Jeder soll schließlich auch über seine persönlichen Erfahrungen etwas sagen dürfen.

Dagyab Rinpoche:

Einerseits bin ich sehr betrübt nach Ihrer Erklärung, aber andererseits bin ich doch auch froh, dass Sie auf dieses Thema eingegangen sind. Ich kann davon ausgehen, dass wir alle irgendeine Art von Religion praktizieren und in diese Religion Vertrauen haben. In der Welt gibt es fünf große Religionen: Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus. In der Praxis sind leider diese Religionen lange Zeit zu Exponenten des Kämpfens, des Streitens und der Auseinandersetzungen zwischen Menschen geworden. Das ist sehr, sehr bedauerlich. Aber wir wollen diesen Stil nicht weiter verfolgen, wir müssen vielmehr dazu beitragen, das zu vermeiden, weil wir als religiöse Menschen versuchen, anderen Menschen zu helfen, andere Menschen zu unterstützen, ob das Christen oder Buddhisten oder Muslime sind oder wer auch immer. Die Religionsstifter unserer Religionen haben alle für die zukünftigen Menschen ein Erbe hinterlassen, nämlich ihre Lehren. Sie haben mit ihren Geboten keineswegs ans Kämpfen gedacht, ganz und gar nicht. Wir sind natürlich ein kleiner Kreis, aber trotzdem lohnt es, sich zu bemühen und eine vernünftige Basis für einen Dialog zu finden, so dass diese Streitsachen vermieden werden können. Das finde ich sehr wichtig.

Seiichi Yagi:

In Japan besteht die faktische Pluralität der Religionen schon lange aus Schintoismus, Buddhismus, Konfuzianismus und Christentum, und religiöse Kämpfe gab es wenig. Auf der anderen Seite ist es merkwürdig, dass Gespräche zwischen den Religionen auch sehr selten geführt worden sind. Das Gespräch zwischen Buddhismus und Christentum ist ein neues Phänomen bei uns, etwa seit 1960. Das ist eine sehr aussichtsreiche Entwicklung, und ich habe von Anfang an daran teilgenommen. Aber auf der anderen Seite weiß ich nicht, ob ich mich als Pluralisten bezeichnen kann.

Nehmen wir hier den Schintoismus als Beispiel. Ich bestreite nicht, dass der Schintoismus mit seinem Reinheitsideal sehr viel zur japanischen Kultur beigetragen und mit seinen Feiern und Festen den Sinn für Gemeinschaftlichkeit gepflegt hat. Aber der Schintoismus hat fast nur Mythen, und er hat kaum eine Theologie oder Philosophie entwickelt, die auf unsere modernen Fragen sinnvolle Antworten geben könnte, so dass es auch in Japan fast aussichtslos ist, mit dem Schintoismus einen Dialog führen zu wollen. Das Christentum ist bei uns eine Minderheit, und trotzdem ist es kulturell einflussreich. Als ich den Buddhismus tiefer kennenlernte, habe ich in ihm tiefgreifende Gemeinsamkeiten mit dem Christentum gefunden, aber auch Unterschiede hinsichtlich der Überwindung der Uneigentlichkeit der menschlichen Existenz. Diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede fordern den Dialog heraus, und aus der Erfahrung kann ich sagen, dass der Dialog mit dem Buddhismus aussichtsreich ist. Ich glaube nicht, dass jede Religion qua Religion gleichen Wahrheitsanspruch erheben kann. Vielleicht dürfte ich nachher noch etwas dazu sagen. Aber aus den Gründen, die ich eben vorgetragen habe, bin ich nicht in der Lage, den Pluralismus als „ismus" zu vertreten.

Moltmann:

Herr Falaturi, der Dialog zwischen Mehrheiten und Minderheiten ist für die Minderheiten immer schwierig. Der Dialog in arabischen Ländern mit christlichen Minderheiten ist sozusagen nie geführt worden, in Ägypten etwa mit den Kopten, und wenn Sie beachten, dass unsere Religionen gelegentlich auch Staatsreligionen sind oder gewesen sind, dann wird es doppelt schwierig, von einem Dialog zu reden. Darum finde ich Ihre Klage etwas einseitig, denn man könnte mit einer Gegenklage von Christen in islamischen Ländern antworten. Die besten Dialoge gibt es da, wo beide Gruppen etwa gleich stark sind.

Falaturi:

Ich darf direkt antworten? Dass es in den islamischen Ländern, vor allen Dingen in der letzten Zeit, keinen Dialog gegeben hat, ist in der Tatsache begründet, dass - man mag das gut oder schlecht finden - die Christen seit Jahrhunderten unter den Muslimen gelebt haben, ohne dass so ein Dialog erforderlich gewesen wäre, um ihren Status zu ändern oder etwas Neues für ihre Lebenssituation zu gewinnen. Ich sage nicht, dass das unbedingt positiv gewesen ist, aber das erste Angebot zum Dialog mit den Juden und Christen hat der Koran gemacht, d. h. der Koran selbst und der Islam selbst ist von seinem Wesen her dialogfähig und möchte auch den Dialog führen, und ich zweifle daran, lieber Herr Kollege, dass die neue Dialogtendenz im Westen überhaupt und tatsächlich aus reiner Liebe zu den Religionen und Menschen entstanden ist.

Ich bin seit 36 Jahren hier. Vier Monate nachdem ich in Deutschland angekommen war, habe ich, ohne dass damals von Dialog die Rede war, mit dem Dialog angefangen und zwar im Sinne einer grundlegenden Einheit der drei monotheistischen Religionen. Einheit meint hier, dass sie lernen, sich besser verstehen zu können. Ich bin vom Wesen her dialogoffen. Aber auf der anderen Seite habe ich eine wirklich ehrliche Dialoghaltung nur selten festgestellt, und ich zweifle daran, dass die Motive zum Dialog bei meinen Partnern tatsächlich im wesentlichen religiöse gewesen sind. Dieser Dialog in der Neuzeit war ein Schild gegen den Kommunismus, gegen den Atheismus in der Welt - und das ist etwas ganz anderes.

Dies sind Probleme, die wir hier nicht durchdiskutieren können. Aber ich wollte sagen: Wenn Sie sich beklagen, dass in den islamischen Ländern kein Dialog geführt worden ist, so hat man diesen Dialog — gut oder schlecht — nicht für notwendig gehalten, weil die Existenz der Minderheiten dort gesichert war, wie gesagt: gut oder schlecht. Es ist eine Tatsache, dass diese Minderheiten bis heute in den islamischen Ländern leben konnten, was umgekehrt im Bereich der christlichen Länder nie der Fall gewesen ist. Die Geschichte zeigt, dass es diese Minderheiten nicht so schlecht gehabt haben, wie früher die Minderheiten innerhalb der christlichen Welt. Wenn wir so streiten, bin ich gerne bereit, auch noch einmal die Geschichte aufzurollen, aber ich glaube, das sind unterschiedliche Vergleiche, die jeweils auch ein bisschen hinken.

v. Strietencron:

Ich möchte nun aber doch das Votum zum friedlichen Gespräch, das Herr Dagyab einbrachte, aufgreifen. Wollen Sie, Herr Ott, noch direkt dazu etwas sagen?

Heinrich Ott:

Ich könnte zwar zu diesem Gesprächsgang schon einiges sagen, verstehe aber meine Rolle hier eher als Zuhörer. Ich gehe von Ihrem ersten Votum aus, wo Sie eigentlich drei Optionen hingestellt und gefragt haben: Ist es (a) so, dass wir zu einem echten Pluralismus finden, ist es (b) so, dass wir nur aus Taktik von unserem Absolutheitsanspruch abweichen oder etwas abgeben, oder ist es (c) so, dass wir auf eine künftige umfassendere Religiosität zugehen? Diese Trias von Möglichkeiten scheint mir schon überzeugend, wenn man die Szene etwas gliedern will. Aber man muss wohl noch etwas mehr differenzieren. Mir scheint eine Frage wichtig. Schauen wir von innen, vom Selbstverständnis einer Religion oder einer bestimmten Gruppe in einer Religion oder eines bestimmten religiösen Denkens aus, oder schauen wir von außen, soziologisch. Die drei Optionen scheinen mir zunächst sehr adäquate Ordnungsprinzipien für die Sicht von außen zu sein. Von innen sieht es vielleicht noch einmal anders aus. Dabei möchte ich die Frage nach dem Begriff der Identität aufwerfen: Sollen wir unsere Identität, werden wir unsere Identität in dieser, in jener Religion preisgeben, wollen wir sie behaupten, müssen wir sie bewahren usw.? Was genau ist denn Identität? Denn erst, wenn wir diesen Grundbegriff geklärt haben, können wir eigentlich logisch den Diskurs weiterführen, und da hat mir das Votum von Albert Friedlander sehr eingeleuchtet, wenn ich ihn richtig verstehe, dass nämlich Identität sich eigentlich im Vollzug des Dialogs definiert. Sie ist nicht einfach gegeben. Es stoßen nicht einfach Identitäten aufeinander, sondern es ist ein ständiger Prozess der Identitätssuche in jeder Religion. Ich spreche jetzt nicht historisch, sondern von der heutigen Situation, wie ich sie verstehe. Und zu dieser Identitätssuche gehört dann auch der Dialog. Diese Aspekte sind ineinander verflochten. Ich würde heute ganz zugespitzt so sagen: Die Situation hat sich so entwickelt für uns Christen - ich kann ja nur für uns sprechen - dass wir keinen christlichen Glaubensinhalt mehr definieren können ohne Blick auf die anderen Religionen. Wir können sozusagen unsere christliche Identität nicht mehr allein intern, esoterisch in unserem eigenen Kulturkreis, in unserer Tradition definieren. Ich möchte gern davon ausgehen, dass wir die Wahrheit nicht besitzen, auch wenn wir eine Offenbarung empfangen haben, an die wir glauben. Damit ist ein Dialog zwischen Gott und uns, ein Bezug gestiftet, aber nicht ein Wahrheitsbesitz auf unserer Seite kraft des Faktums, dass wir die Offenbarung empfangen haben. Weil wir die Wahrheit nicht besitzen, muss immer angenommen werden, dass wir von anderen lernen können, dass also zugunsten unserer eigenen Identitätsfindung ein Stück Wahrheit vom anderen in unsere Wahrheit durch die Begegnung mit dem anderen eingeführt wird. In diesem Sinne sehe ich das Dialoggeschehen primär positiv. Wir kämpfen nicht gegeneinander, sondern wir helfen einander. Das wäre vielleicht auch auf der Linie von Dagyab Rinponche.

v. Strietencron:

Das wäre in der Tat eine ganz wesentliche Veränderung, dieses Erkennen und Zugeben, dass wir die Wahrheit nicht besitzen. Denn die Religionskonflikte der Vergangenheit beruhten zwar sicherlich auch auf unterschiedlichen Lebensstilen, Wirtschaftsinteressen und Machtansprüchen, bezogen ihre Legitimität aber letztlich aus dogmatischen Differenzen. Man ging davon aus, dass man selber die Wahrheit besitzt und andere eben nicht. Sie, Herr Ott, haben jetzt ein ganz wesentliches Zugeständnis an den Dialog gemacht, eine Möglichkeit, ihn fruchtbar werden zu lassen. Ich hatte dasselbe bei Herrn Friedlander herausgehört, nämlich die Möglichkeit, dass beide Partner im Dialog, wenn nicht sich selbst, so doch ihre Standpunkte ändern können. Wenn wir in die Geschichte zurückschauen, hat es die Möglichkeit des Wandels immer schon gegeben. Auch Dogmen haben sich verändert. Offenbarung wurde immer wieder durch Interpretation neu bestimmt, religiöse Tradition hat sich stets den neuen Möglichkeiten der Exegese angepasst.

Wir sollten festhalten, dass der Dialog zum Scheitern verurteilt ist, wenn man vom absoluten Wahrheitsanspruch ausgeht. Da kann man die Position des anderen zwar kennenlernen, aber das führt nur zur Feststellung: Er glaubt, es sei so; ich weiß, es ist anders. Zu einer Veränderung der Standpunkte kommt es dabei nicht. Erst wenn man den absoluten Wahrheitsanspruch aufgibt, die Offenbarung versteht als etwas, was keimhaft ist und wachsen kann, und in dem Moment, wo man Religion nicht nur als Theologie sondern als formende Kraft unterschiedlicher Lebensstile betrachtet, mit all den vielen Möglichkeiten von Veränderungen innerhalb eines Lebensstiles, kann es eine große Vielfalt von möglichen kleinen Veränderungen und eine gegenseitige Annäherung durch Gespräch geben.

Falaturi:

Nur noch eine Ergänzung. Wenn wir es religionsgeschichtlich betrachten, dann haben wir hier eigentlich kein Problem. Die Zeit der Juden in Spanien war eine goldene Zeit, wo sich zwei Kulturen zusammen gefunden haben, und das ist vom heutigen Judentum nicht wegzudenken. Aber dann müssen wir auch erkennen, dass wir nicht hier sind als einfache Vertreter des Christentums, des Judentums, des Islams. Ich bin hier als Jude, Sie sind hier als Muslim und als Christ. Da kommt noch ein eigenes Bekenntnis hinzu; die Tatsache, dass man Christ oder Jude oder Buddhist ist, ist ein Teil einer Identität, die sich nicht verkleinern lässt. Man lebt innerhalb einer Offenbarung. Man könnte anerkennen, dass es andere Offenbarungen gibt, aber in einem gewissen Sinne, in uns selbst, müssen wir das bleiben, was wir sind, trotz und obwohl wir wissen, dass wir uns in Begegnungen immer verändern, dass wir in der Zukunft vielleicht etwas anderes sind als in diesem Moment. Aber dieser Streit ist auch ein positiver Streit. Man muss sich auch innerhalb einer Gruppe entwickeln. Wir sollten in Rechnung stellen, dass in einigen Religionen die Betonung mehr auf dem Individuum liegt, bei anderen ist es mehr eine Art Gruppenerlebnis. Es ist ein Unterschied, ob Erkenntnis eine Art persönliches Glaubensbekenntnis ist oder ein Erlebnis, eine Wahrheit, die innerhalb von Riten, innerhalb einer Gesellschaft, einer Gemeinschaft gefunden wird. Wir erkennen, dass wir zu Gott hinstreben, und wir können dann auch erkennen, dass andere auf ihre andere Weise dies auch tun. Darauf kommen wir später noch zurück.

von Brück:

Vielleicht ist es sinnvoll, wenn wir kurz innehalten und fragen: Was haben wir jetzt eigentlich besprochen? Ich möchte versuchen, dies unter drei Gesichtspunkten zu bündeln, bevor wir dann in die nächste Gesprächsrunde eintreten können.

Zunächst aber zwei Vorbemerkungen. Erstens: Wir betrachten Religion ja nicht nur unter der historischen, distanzierten, religionsgeschichtlichen Perspektive, Herr Friedlander. Das können und müssen wir zwar auch tun, bliebe es aber dabei, würde unser Unternehmen hier irrelevant für die Konfliktsituation, in denen sich Menschen aus verschiedenen Religionen ja offensichtlich befinden. Zweitens: Wenn wir sagen, wir sollen irgendwie auch bleiben, was wir sind, so müsste hier der Begriff des Bleibens wie auch des Seins geklärt werden, denn dieses Bleiben ist natürlich ein Werden, also ein Prozess der Identitätsfindung, die im Werden ist. Woran aber ist dieser Prozess orientiert? Das ist in anderen Worten die Frage nach dem, was sich geschichtlich wandelt und was konstant bleibt. Wenn wir in die Geschichte der Religionen blicken, sehen wir, wie stark sie sich gewandelt haben, selbst in der relativ kurzen Zeit, die wir überblicken, nämlich allenfalls 2000 bis 3000 Jahre. Das ist menschheitsgeschichtlich eine sehr kurze Zeit. Ich möchte nun versuchen, drei Themenkreise aus unserem bisherigen Gespräch zu beschreiben, die dann auch hilfreich sein könnten, wenn wir im nächsten Gesprächsgang noch einmal die ganze Pluralismus- und Pluralitätsfrage unter anderen Gesichtspunkten erörtern.

1. Von Herrn Moltmann - und dann noch ergänzt von Herrn Falaturi - waren zwei Menschenrechte angesprochen worden: Das Recht, die Religion verlassen zu können, in die man geboren ist; und das Recht an dieser spezifischen Religion, in der man sich findet, festhalten zu können. Das ist, ein wenig abstrakter formuliert, die Frage nach der Identität. Identität ist nichts Statisches, sie ist im Werden und bildet sich in der Gemeinschaft mit anderen heraus, sowohl individualpsychologisch wie natürlich auch in ganzen Traditionen und Religionen, die dann einen relativ stabilen Referenzrahmen für die spezifische und individuelle Identitätsfindung abgeben können. Aber Identität hat immer auch mit Abgrenzung zu tun. Damit wird dann die schwierige Frage nach der Bedeutung des Streites und des Kampfes aufgeworfen, denn nur so kommt Abgrenzung zustande. Die Dinge sind recht klar, wenn man in die christliche Geschichte blickt. Die christliche Theologie entwickelte sich als Abgrenzung von der Gnosis, von römischen imperialen Ansprüchen, später in konfessionalistischen Auseinandersetzungen usw. Das ist aber in anderen Traditionen, wie z.B. in der buddhistischen oder hinduistischen Geschichte, nicht viel anders. Die buddhistischen Denkmuster und Lebensformen entwickelten sich im Widerspruch von und in Abgrenzug zu den brahmanischen Traditionen. Und der spätere Hinduismus formierte sich zum Teil in direkter Auseinandersetzung mit buddhistischen Denk- und Lebensformen. Es gibt hier also eine Herausbildung von Identitätsmustern, die in der Abgrenzung und auch in einer bestimmten Form und einer bestimmten Kultur des Streites, die von allen Beteiligten mehr oder weniger akzeptiert wird, entstehen. Das muss man deutlich sehen. In diesem Sinne möchte ich fragen: Was bedeutet dieser produktive Streit für unsere Identitätsfindung, sowohl individuell als auch in bezug auf Traditionen und Religionen? Auch für unseren heutigen Dialog? Das wäre also mein erster Fragenkreis.

2. Das zweite Problem hängt auch mit einem Satz zusammen, den Herr Moltmann prägte, nämlich mit seiner These vom Agnostizismus als erster Antwort auf die Pluralität der Religionen, jedenfalls auf die bewusst wahrgenommene. Die Frage ist ja nun, was unsere Situation heute so verschieden von den Situationen macht, die wir in der Geschichte der Religionen beobachten können, die auch pluralistisch waren und als Begegnungssituationen verstanden werden können? Man braucht nur Indien anzuschauen, die frühe islamische Geschichte oder die chinesische Religionsgeschichte - überall trifft man auf mehr oder minder intensive gegenseitige Durchdringung der Religionen. Das trifft gewiss auch auf die japanische Religionsgeschichte zu, Herr Yagi, jedenfalls bis zur Tokugawa-Zeit, wo sich doch verschiedene Traditionen noch gegenseitig durchdrungen und herausgebildet haben. Was also macht unsere Situation so spezifisch? Ist es der Agnostizismus europäischer Prägung, der sich seit der Aufklärung, seit der Französischen Revolution in bestimmten Formen herausgebildet hat? Und wäre dies eine Bedingung für die Art des Dialogs, den wir heute führen, oder nicht? Ich glaube nicht so sehr, dass nach dem Zweiten Weltkrieg der Dialog vor allem als Schild gegen den Atheismus geführt wurde und so verstanden worden ist, obwohl es das auch gibt, etwa bei der Begründung des Dialogs in der Vereinigungskirche während der 70er und frühen 80er Jahre. Aber mir scheint, wenn man etwa die ersten Dokumente dieser Art nach dem Zweiten Weltkrieg anschaut, vor allem die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils und auch des Ökumenischen Rates der Kirchen, dann wird als Motiv für den Dialog vor allem die Anerkennung der Schuld der Christen im Zweiten Weltkrieg und beim Holocaust deutlich, sowie auch die gemeinsame Verantwortung in der Bedrohung angesichts gegenwärtiger Gefahren: der Kriegsgefahr, der ökologischen Gefahr, dem Flüchtlingselend usw. Die Weltkonferenz der Religionen für den Frieden (WCRP) ist ganz und gar auf diese Themen ausgerichtet. Aber auch dann muss man fragen: Was heißt hier erkennen, dass wir die Wahrheit nicht besitzen? Oder den absoluten Wahrheitsanspruch aufgeben? Das kann man zwar so formulieren, und da ist natürlich auch etwas Richtiges gesehen, weil man Wahrheit ohnehin nicht besitzen kann. Aber was bedeutet hier eigentlich Wahrheit? Bedeutet es einen Referenzrahmen, an dem ich mein Handeln angesichts eines unbedingten Anspruchs orientiere, so ist damit der Religionsbegriff unmittelbar verbunden. Was heißt es dann aber, wenn ich meine Religion zur Disposition stelle, sie verbessern möchte, indem ich Wahrheitsansprüche aufgebe? Und was bedeutet es, wenn verschiedene Wahrheitsansprüche aufeinander prallen? Wir hatten das Beispiel von der Pari3a und der Bergpredigt gehört. Ist dieser Vergleich sinnvoll, da doch die Pari3a im Islam eine ganz andere Rolle spielt als die Bergpredigt innerhalb des Christentums? Die Fragen nach normativen Impulsen sind ja hier sehr verschieden. Dennoch können wir fragen: Wie könnte der Islam in der heutigen Situation die Pari3a so verstehen, dass sie von vorneherein nicht alle anderen ausgrenzen muss? Oder wie könnte das Christentum die Bergpredigt verstehen, um vielleicht sich selbst in diesem Sinne auch zu reformieren? Diese Fragen nach Agnostizismus, Wahrheit, Dialog, Notwendigkeit zum Dialog können wir nicht schnell lösen. Vielleicht genügt es zunächst, wenn wir ehrlich und bescheiden sind und sagen, dass wir die Wahrheit nicht besitzen. Ich stimme dem zu, wir besitzen sie nicht. Aber wenn wir nicht von der Wahrheit ergriffen sind und dann auch für die Wahrheit zu streiten bereit sind, können wir unsere Religionen, ganz egal welche, aufgeben. Denn dann haben wir keine Handlungsorientierung mehr und die Religion würde irrelevant.

3. Wir müssen die Frage stellen: Was ist eigentlich der Grund für den Religionsstreit oder für den Streit der Religionen in der Vergangenheit? Ist es wirklich nur die Bösartigkeit des Menschen oder die Ignoranz der Machtbesessenen oder die Verquickung zwischen Religion und Staat, die wir fast aus allen Kulturen kennen? Oder ist dieser Streit nicht vielleicht auch ein Faktor, der unausweichlich mit der Frage nach Wahrheit zusammenhängt, der mit der Identitätssuche zusammenhängt und so in irgendeiner Form der menschlichen Geschichte immanent ist? Wenn wir in unsere Traditionen schauen, und gerade auch in die formativen Zeiten des Christentums, des Buddhismus, dann hat es Streit gegeben, aber es war immer eine bestimmte Form von Streit, eine bestimmte und allgemein akzeptierte Streitkultur, die sich in einen bestimmten Rahmen einfügte. Vielleicht müssten wir heute fragen, heute Abend, welche Form von Streitkultur könnte oder müsste sich entwickeln, damit wir unsere Probleme ohne zerstörerische Aggression lösen können? Denn es wurde doch auch in unserem Gespräch vorhin spannend und interessant, wo wir anfingen miteinander zu streiten, als Herr Moltmann und Herr Falaturi in Widerrede miteinander stritten. Ansonsten bliebe der Dialog langweilig und angesichts der realen Probleme völlig irrelevant.

Diese Frage also möchte ich hervorheben, und vielleicht darf ich einen kurzen Hinweis geben, wie ich mir eine Lösung vorstellen könnte, und zwar in Anknüpfung an das, was Herr Yagi sagte. Er sagte, es ist ganz schwierig in Japan, mit dem Schintoismus einen Dialog zu führen. Es ist genauso schwierig, etwa in Indien mit den Stammesreligionen in den Bergen Orissas oder Tamil Nadus einen Dialog zu führen. Warum? Weil das Weltbild und die Lebenssituationen, die soziologischen Strukturen, die diese Religionen hervorbringen, ganz andere sind, als unsere. Meist sind dies schriftlose Kulturen. Es ist leicht, einen Dialog mit Buddhisten zu führen, weil die geschichtliche Entwicklung des Buddhismus religionssoziologisch in vieler Hinsicht gerade bei allen Unterschieden zur christlichen Entwicklung relativ ähnlich verlaufen ist. Ich will jetzt die Parallelen nicht nennen.

Könnte man sagen, dass wir als unsere Dialogbasis tatsächlich so etwas wie eine Wahrnehmung gemeinsamer Lebenssituationen in psychologischer, soziologischer und politischer Hinsicht brauchen? Und dass dies dann ein Rahmen wäre, in dem auch Streitkultur, Wahrheitsfrage usw. diskutiert werden können?

Falaturi:

Darf ich ganz kurz auf einen Punkt hinweisen. Ich sehe überhaupt keinen Widerspruch zwischen der Tatsache, dass ich meinen Partner in seiner Religion bestätige und ihn anerkenne und ihm das Recht gebe, seine Religion und seine Identität zu bewahren, und der anderen Tatsache, dass ich dabei die Wahrheit meiner Identität gar nicht aufgebe. Ich beschränke aber die Wahrheit nicht auf meine. Ich zitiere sinngemäß den Spruch eines Mystikers, den ich vom Koran aus auch bestätigen kann: Die Wege zu Gott sind so viele wie es Menschen gibt. Warum soll es nicht so sein? Warum soll die christliche Wahrheit aufgegeben werden, wenn der Christ meine islamische Identität bestätigt und ihr zustimmt? Ich sehe keinen Widerspruch, schon gar nicht, dass meine Wahrheit geschwächt würde.

v. Strietencron:

Mit dieser Aussage von Herrn Falaturi sind wir schon übergegangen zu unserem zweiten Diskussionspunkt, dem wir uns nun intensiv zuwenden sollten:

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