Die Pluralität der Religionen und der religiöse
Pluralismus
Dial. d. Relig. 1. Jg., Heft 2, S. 130-178
I. Der Pluralismus und die dialogische Situation
v. Strietencron:
Religiösen Pluralismus hat es schon seit dem Altertum
gegeben. Nur zeigte sich das Faktum vor allem an den Rändern
eines Kulturkreises und in den großen Handelszentren. Die
breite Mehrheit blieb von der Präsenz von Andersgläubigen
relativ unberührt. Heute nun sind wir durch den weltweiten
Handel, durch Verkehrsmittel, durch internationalen Tourismus
und vor allem durch Rundfunk und Fernsehen mit allen Teilen
der Welt verknüpft. Unser Erfahrungshorizont hat sich global
erweitert, die Interdependenz hat sich auf dem Ernährungs-,
Energie- und Rohstoffsektor vervielfacht, und der Handel mit
Fertigprodukten lebt von einem weltweiten Absatz. In dieser
Situation, so scheint mir, können wir den Andersgläubigen
nicht mehr übersehen. Er begegnet uns hier und überall. Und
was machen in dieser Situation die Religionen?
Früher war es einfach: Wenn die eigene Religion richtig ist
und allein den wahren Weg zur Erlösung weist, dann müssen die
anderen falsch sein; und wenn sie falsch sind, müssen sie
bekämpft werden. Oder man schickte Missionare aus, um die
anderen zu überzeugen, dass auch sie einen besseren Weg wählen
könnten.
Was hat sich geändert, wenn man heute den Dialog von
Religionen sucht? Wozu soll er eigentlich führen? Hat man den
Absolutheitsanspruch der eigenen Wahrheit zugunsten eines
echten Pluralismus von mehreren Wahrheiten aufgegeben? Oder
will man den anderen weiterhin überzeugen, d.h. den
Missionsgedanken nur hinter der Maske des Dialogs verstecken?
Oder ist man vielleicht sogar bereit, die eigene religiöse
Identität zugunsten einer künftigen Universalreligion
aufzugeben?
Jürgen Moltmann:
Nach meinen Erfahrungen in Dialogen mit Marxisten oder auch
mit Juden handelt es sich weder um die Auflösung der eigenen
Identität noch um die Bewahrung dieser Identität. In einem
Dialog lernt man einen anderen verstehen und sich selber mit
den Augen des anderen zu verstehen, so dass es eigentlich zu
einem neuen Profil kommt in der Hinwendung zum anderen. Das
berührt die eigentliche Identität nicht essentiell, sie wird
auch an dieser Stelle noch nicht in Frage gestellt. Im
Gegenteil:
Wenn mir ein Marxist begegnen würde und sagte, er wäre auch
nur ein Humanist, würde ich keinen Anlass sehen, mit ihm
weiterzureden. Wenn ein Hindu sagen würde, er wäre für eine
Universalreligion und für Pluralismus, würde ich mit ihm nicht
weiterreden. Das wäre ja völlig uninteressant, denn nur ein
scharfes Profil ist dialogwürdig.
Darüber hinaus würde ich gerne noch etwas sagen zu dem
Pluralismus von Religion oder der Pluralität von Religionen.
Ich glaube nicht, dass dies Menschen dazu zwingt, eine Wahl
treffen zu müssen. Im Gegenteil, der Agnostizismus ist die
erste Antwort auf die Pluralität von Religionen. Das sehen wir
in vielen Gesellschaften. Zweitens, es handelt sich nicht nur
um die Koexistenz von verschiedenen Religionen, sondern um die
Koexistenz verschiedener Lebensstile. Was ist der Islam ohne
die Pari3a, was ist das Judentum ohne die Thora, was ist das
Christentum ohne die Bergpredigt? Wenn wir die Religionen
ernst nehmen, dann stoßen sie sich so im Raume, dass diese,
leichtfertige Toleranz, es seien eben alles Religionen, die
uns als Angebot in unserer Religionsfreiheit begegnen, uns
dabei eigentlich vergeht. Das zeigt auch der Streit ums
Kopftuch bei muslimischen Mädchen an französischen Schulen. Je
mehr man in die existenzielle Tiefendimension einer Religion
kommt, umso schwieriger wird es mit dem Dialog. Lassen Sie
mich schießen mit der Frage nach Artikel 18 der
Menschenrechte: Ist Religionsfreiheit ein persönliches
individuelles Menschenrecht? Welche Religion anerkennt das
persönliche individuelle Menschenrecht, diese betreffende
Religion auch verlassen zu können?
Albert Friedlander:
Als Rabbiner würde ich mich natürlich dem anschließen, was
Herr Moltmann gerade gesagt hat. Auch in den Dialogen, die
schon zwischen Islam, Judentum, Christentum geführt worden
sind und in die wir uns auch immer wieder neu hinein begeben,
treffen wir auf das Motiv, dass wir zum Teil wenigstens auch
darum zusammen kommen, weil die Welt um uns herum areligiös
geworden ist. Gewiss wird es besonders wichtig zu erkennen,
wie wir zusammen arbeiten können in einem Dialog, wo wir auch
durch den anderen definiert werden, wie Herr Moltmann eben
gesagt hat. Zum Teil waren die größten Denker des Judentums in
der modernen Zeit - ich denke an Martin Buber und Leo Baeck,
auch an Franz Rosenzweig - Figuren, die man als Apologeten
angreifen konnte, weil, wie auch Rosenzweig selbst über Baeck
und dann über Max Brod sagte, diese Apologeten am Rande des
Judentums standen, weil sie Fragen beantworteten, die von
außen kamen. Sowie sie die Frage angenommen hatten, hatte sich
schon ihre Sprache geändert, hatten sie schon Konzepte
hineingebracht in ihr eigenes Verständnis, was das Judentum
für sie bedeutete, das sich so auch zum Teil veränderte: Es
zeigte sich, dass es keinen Dialog gibt, kein Gespräch mit
anderen Religionen, das nicht die beiden Religionen zum Teil
verändern könnte. Ich würde das als etwas Positives sehen,
aber es ist auch etwas, was man als gefährlich ansehen könnte.
Positiv deshalb, weil man etwas von dem anderen annehmen kann.
Um ein biblisches Wort zu wählen: „Liebe den Nächsten wie dich
selbst." In diesem Text kommen wir auch zum Verständnis, dass
wir uns selbst lieben müssen, um den anderen zu lieben. Oder:
Liebe den Nächsten, er ist wie du - was auch eine Übersetzung
dieses Textes sein kann. In diesem Sinne wäre dann die
Identitätsfindung auch eine Frucht des Dialogs, und dies ist
eben eine Erneuerung, eine Vergrö-
ßerung, ein Wachsen innerhalb einer Religion, die sich den
anderen Religionen öffnet. Es wird hier, glaube ich, nicht nur
um die drei schon genannten Offenbarungsreligionen Judentum,
Christentum, Islam, gehen können, weil das schon eine etwas
imperialistische Perspektive wäre, die eurozentrisch ist.
Jetzt haben die anderen Religionen des Ostens zum Recht ihrer
eigenen Sprache gefunden und sie können und müssen uns auch
vieles sagen, wo wir verstehen müssen, dass auch dann, wenn
vieles gleich ist, nicht alles identisch ist. Dass wir in
diesem Gespräch vielleicht ein klareres Verständnis für unsere
eigene Identität bekommen werden, wenn wir genau hören, was
der andere sagt und auch wie er es sagt oder sie es sagt, das
wäre ein Anfang meiner Überlegungen zu unserer Frage und zu
der Situation, in der wir uns heute befinden.
Falaturi:
Ja, ich möchte mich gerne auch anschließen und zu den drei
Fällen, die Sie genannt haben, noch einen vierten Fall
hinzurechnen: dass man nämlich im Dialog lernt, den Partner
kennenzulernen, wie er ist mit dem Ziel - und das ist wichtig
- ihm Recht zu geben, an seiner Religion festzuhalten so wie
ich an meiner. Dabei soll ich ja nicht meinen, dass meine
Religion die absolute Wahrheit ist, so dass ich den anderen
irgendwie für mich gewinnen möchte oder ihm zeigen will, wie
schwach er ist. Das ist leider oft so gewesen. Aus meinen
guten und schlechten Erfahrungen geht hervor, dass mindestens
zu 80% die Dialoge, die mit Muslimen geführt werden, letzten
Endes darauf hinauslaufen, dass der muslimische Teilnehmer
oder Partner auf der Anklagebank sitzt; und der Christ redet
gar nicht von seinen Schwächen und Stärken, sondern trägt
immerfort die Schwäche des Muslims vor, und wenn der es nun
wagt, auch fruchtbare Teile oder Werte seiner Religion
vorzutragen, wird er - weniger unter Gelehrten, aber sofort
wenn eine größere Öffentlichkeit dazukommt - als
unglaubwürdiger Advokat angesehen. Das ist nur darin
begründet, dass man sich letzten Endes nicht ganz von dem
Gefühl trennen kann, dass man glaubt, im Besitz der absoluten
Wahrheit zu sein und die anderen Religionen weniger Wahrheit
in sich tragen oder Defekte haben. Das war jetzt ein bisschen
provokativ, aber genau das soll es auch sein! Jeder soll
schließlich auch über seine persönlichen Erfahrungen etwas
sagen dürfen.
Dagyab Rinpoche:
Einerseits bin ich sehr betrübt nach Ihrer Erklärung, aber
andererseits bin ich doch auch froh, dass Sie auf dieses Thema
eingegangen sind. Ich kann davon ausgehen, dass wir alle
irgendeine Art von Religion praktizieren und in diese Religion
Vertrauen haben. In der Welt gibt es fünf große Religionen:
Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus. In
der Praxis sind leider diese Religionen lange Zeit zu
Exponenten des Kämpfens, des Streitens und der
Auseinandersetzungen zwischen Menschen geworden. Das ist sehr,
sehr bedauerlich. Aber wir wollen diesen Stil nicht weiter
verfolgen, wir müssen vielmehr dazu beitragen, das zu
vermeiden, weil wir als religiöse Menschen versuchen, anderen
Menschen zu helfen, andere Menschen zu unterstützen, ob das
Christen oder Buddhisten oder Muslime sind oder wer auch
immer. Die Religionsstifter unserer Religionen haben alle für
die zukünftigen Menschen ein Erbe hinterlassen, nämlich ihre
Lehren. Sie haben mit ihren Geboten keineswegs ans Kämpfen
gedacht, ganz und gar nicht. Wir sind natürlich ein kleiner
Kreis, aber trotzdem lohnt es, sich zu bemühen und eine
vernünftige Basis für einen Dialog zu finden, so dass diese
Streitsachen vermieden werden können. Das finde ich sehr
wichtig.
Seiichi Yagi:
In Japan besteht die faktische Pluralität der Religionen
schon lange aus Schintoismus, Buddhismus, Konfuzianismus und
Christentum, und religiöse Kämpfe gab es wenig. Auf der
anderen Seite ist es merkwürdig, dass Gespräche zwischen den
Religionen auch sehr selten geführt worden sind. Das Gespräch
zwischen Buddhismus und Christentum ist ein neues Phänomen bei
uns, etwa seit 1960. Das ist eine sehr aussichtsreiche
Entwicklung, und ich habe von Anfang an daran teilgenommen.
Aber auf der anderen Seite weiß ich nicht, ob ich mich als
Pluralisten bezeichnen kann.
Nehmen wir hier den Schintoismus als Beispiel. Ich
bestreite nicht, dass der Schintoismus mit seinem
Reinheitsideal sehr viel zur japanischen Kultur beigetragen
und mit seinen Feiern und Festen den Sinn für
Gemeinschaftlichkeit gepflegt hat. Aber der Schintoismus hat
fast nur Mythen, und er hat kaum eine Theologie oder
Philosophie entwickelt, die auf unsere modernen Fragen
sinnvolle Antworten geben könnte, so dass es auch in Japan
fast aussichtslos ist, mit dem Schintoismus einen Dialog
führen zu wollen. Das Christentum ist bei uns eine Minderheit,
und trotzdem ist es kulturell einflussreich. Als ich den
Buddhismus tiefer kennenlernte, habe ich in ihm tiefgreifende
Gemeinsamkeiten mit dem Christentum gefunden, aber auch
Unterschiede hinsichtlich der Überwindung der Uneigentlichkeit
der menschlichen Existenz. Diese Gemeinsamkeiten und
Unterschiede fordern den Dialog heraus, und aus der Erfahrung
kann ich sagen, dass der Dialog mit dem Buddhismus
aussichtsreich ist. Ich glaube nicht, dass jede Religion qua
Religion gleichen Wahrheitsanspruch erheben kann. Vielleicht
dürfte ich nachher noch etwas dazu sagen. Aber aus den
Gründen, die ich eben vorgetragen habe, bin ich nicht in der
Lage, den Pluralismus als „ismus" zu vertreten.
Moltmann:
Herr Falaturi, der Dialog zwischen Mehrheiten und
Minderheiten ist für die Minderheiten immer schwierig. Der
Dialog in arabischen Ländern mit christlichen Minderheiten ist
sozusagen nie geführt worden, in Ägypten etwa mit den Kopten,
und wenn Sie beachten, dass unsere Religionen gelegentlich
auch Staatsreligionen sind oder gewesen sind, dann wird es
doppelt schwierig, von einem Dialog zu reden. Darum finde ich
Ihre Klage etwas einseitig, denn man könnte mit einer
Gegenklage von Christen in islamischen Ländern antworten. Die
besten Dialoge gibt es da, wo beide Gruppen etwa gleich stark
sind.
Falaturi:
Ich darf direkt antworten? Dass es in den islamischen
Ländern, vor allen Dingen in der letzten Zeit, keinen Dialog
gegeben hat, ist in der Tatsache begründet, dass - man mag das
gut oder schlecht finden - die Christen seit Jahrhunderten
unter den Muslimen gelebt haben, ohne dass so ein Dialog
erforderlich gewesen wäre, um ihren Status zu ändern oder
etwas Neues für ihre Lebenssituation zu gewinnen. Ich sage
nicht, dass das unbedingt positiv gewesen ist, aber das erste
Angebot zum Dialog mit den Juden und Christen hat der Koran
gemacht, d. h. der Koran selbst und der Islam selbst ist von
seinem Wesen her dialogfähig und möchte auch den Dialog
führen, und ich zweifle daran, lieber Herr Kollege, dass die
neue Dialogtendenz im Westen überhaupt und tatsächlich aus
reiner Liebe zu den Religionen und Menschen entstanden ist.
Ich bin seit 36 Jahren hier. Vier Monate nachdem ich in
Deutschland angekommen war, habe ich, ohne dass damals von
Dialog die Rede war, mit dem Dialog angefangen und zwar im
Sinne einer grundlegenden Einheit der drei monotheistischen
Religionen. Einheit meint hier, dass sie lernen, sich besser
verstehen zu können. Ich bin vom Wesen her dialogoffen. Aber
auf der anderen Seite habe ich eine wirklich ehrliche
Dialoghaltung nur selten festgestellt, und ich zweifle daran,
dass die Motive zum Dialog bei meinen Partnern tatsächlich im
wesentlichen religiöse gewesen sind. Dieser Dialog in der
Neuzeit war ein Schild gegen den Kommunismus, gegen den
Atheismus in der Welt - und das ist etwas ganz anderes.
Dies sind Probleme, die wir hier nicht durchdiskutieren
können. Aber ich wollte sagen: Wenn Sie sich beklagen, dass in
den islamischen Ländern kein Dialog geführt worden ist, so hat
man diesen Dialog — gut oder schlecht — nicht für notwendig
gehalten, weil die Existenz der Minderheiten dort gesichert
war, wie gesagt: gut oder schlecht. Es ist eine Tatsache, dass
diese Minderheiten bis heute in den islamischen Ländern leben
konnten, was umgekehrt im Bereich der christlichen Länder nie
der Fall gewesen ist. Die Geschichte zeigt, dass es diese
Minderheiten nicht so schlecht gehabt haben, wie früher die
Minderheiten innerhalb der christlichen Welt. Wenn wir so
streiten, bin ich gerne bereit, auch noch einmal die
Geschichte aufzurollen, aber ich glaube, das sind
unterschiedliche Vergleiche, die jeweils auch ein bisschen
hinken.
v. Strietencron:
Ich möchte nun aber doch das Votum zum friedlichen
Gespräch, das Herr Dagyab einbrachte, aufgreifen. Wollen Sie,
Herr Ott, noch direkt dazu etwas sagen?
Heinrich Ott:
Ich könnte zwar zu diesem Gesprächsgang schon einiges
sagen, verstehe aber meine Rolle hier eher als Zuhörer. Ich
gehe von Ihrem ersten Votum aus, wo Sie eigentlich drei
Optionen hingestellt und gefragt haben: Ist es (a) so, dass
wir zu einem echten Pluralismus finden, ist es (b) so, dass
wir nur aus Taktik von unserem Absolutheitsanspruch abweichen
oder etwas abgeben, oder ist es (c) so, dass wir auf eine
künftige umfassendere Religiosität zugehen? Diese Trias von
Möglichkeiten scheint mir schon überzeugend, wenn man die
Szene etwas gliedern will. Aber man muss wohl noch etwas mehr
differenzieren. Mir scheint eine Frage wichtig. Schauen wir
von innen, vom Selbstverständnis einer Religion oder einer
bestimmten Gruppe in einer Religion oder eines bestimmten
religiösen Denkens aus, oder schauen wir von außen,
soziologisch. Die drei Optionen scheinen mir zunächst sehr
adäquate Ordnungsprinzipien für die Sicht von außen zu sein.
Von innen sieht es vielleicht noch einmal anders aus. Dabei
möchte ich die Frage nach dem Begriff der Identität aufwerfen:
Sollen wir unsere Identität, werden wir unsere Identität in
dieser, in jener Religion preisgeben, wollen wir sie
behaupten, müssen wir sie bewahren usw.? Was genau ist denn
Identität? Denn erst, wenn wir diesen Grundbegriff geklärt
haben, können wir eigentlich logisch den Diskurs weiterführen,
und da hat mir das Votum von Albert Friedlander sehr
eingeleuchtet, wenn ich ihn richtig verstehe, dass nämlich
Identität sich eigentlich im Vollzug des Dialogs definiert.
Sie ist nicht einfach gegeben. Es stoßen nicht einfach
Identitäten aufeinander, sondern es ist ein ständiger Prozess
der Identitätssuche in jeder Religion. Ich spreche jetzt nicht
historisch, sondern von der heutigen Situation, wie ich sie
verstehe. Und zu dieser Identitätssuche gehört dann auch der
Dialog. Diese Aspekte sind ineinander verflochten. Ich würde
heute ganz zugespitzt so sagen: Die Situation hat sich so
entwickelt für uns Christen - ich kann ja nur für uns sprechen
- dass wir keinen christlichen Glaubensinhalt mehr definieren
können ohne Blick auf die anderen Religionen. Wir können
sozusagen unsere christliche Identität nicht mehr allein
intern, esoterisch in unserem eigenen Kulturkreis, in unserer
Tradition definieren. Ich möchte gern davon ausgehen, dass wir
die Wahrheit nicht besitzen, auch wenn wir eine Offenbarung
empfangen haben, an die wir glauben. Damit ist ein Dialog
zwischen Gott und uns, ein Bezug gestiftet, aber nicht ein
Wahrheitsbesitz auf unserer Seite kraft des Faktums, dass wir
die Offenbarung empfangen haben. Weil wir die Wahrheit nicht
besitzen, muss immer angenommen werden, dass wir von anderen
lernen können, dass also zugunsten unserer eigenen
Identitätsfindung ein Stück Wahrheit vom anderen in unsere
Wahrheit durch die Begegnung mit dem anderen eingeführt wird.
In diesem Sinne sehe ich das Dialoggeschehen primär positiv.
Wir kämpfen nicht gegeneinander, sondern wir helfen einander.
Das wäre vielleicht auch auf der Linie von Dagyab Rinponche.
v. Strietencron:
Das wäre in der Tat eine ganz wesentliche Veränderung,
dieses Erkennen und Zugeben, dass wir die Wahrheit nicht
besitzen. Denn die Religionskonflikte der Vergangenheit
beruhten zwar sicherlich auch auf unterschiedlichen
Lebensstilen, Wirtschaftsinteressen und Machtansprüchen,
bezogen ihre Legitimität aber letztlich aus dogmatischen
Differenzen. Man ging davon aus, dass man selber die Wahrheit
besitzt und andere eben nicht. Sie, Herr Ott, haben jetzt ein
ganz wesentliches Zugeständnis an den Dialog gemacht, eine
Möglichkeit, ihn fruchtbar werden zu lassen. Ich hatte
dasselbe bei Herrn Friedlander herausgehört, nämlich die
Möglichkeit, dass beide Partner im Dialog, wenn nicht sich
selbst, so doch ihre Standpunkte ändern können. Wenn wir in
die Geschichte zurückschauen, hat es die Möglichkeit des
Wandels immer schon gegeben. Auch Dogmen haben sich verändert.
Offenbarung wurde immer wieder durch Interpretation neu
bestimmt, religiöse Tradition hat sich stets den neuen
Möglichkeiten der Exegese angepasst.
Wir sollten festhalten, dass der Dialog zum Scheitern
verurteilt ist, wenn man vom absoluten Wahrheitsanspruch
ausgeht. Da kann man die Position des anderen zwar
kennenlernen, aber das führt nur zur Feststellung: Er glaubt,
es sei so; ich weiß, es ist anders. Zu einer Veränderung der
Standpunkte kommt es dabei nicht. Erst wenn man den absoluten
Wahrheitsanspruch aufgibt, die Offenbarung versteht als etwas,
was keimhaft ist und wachsen kann, und in dem Moment, wo man
Religion nicht nur als Theologie sondern als formende Kraft
unterschiedlicher Lebensstile betrachtet, mit all den vielen
Möglichkeiten von Veränderungen innerhalb eines Lebensstiles,
kann es eine große Vielfalt von möglichen kleinen
Veränderungen und eine gegenseitige Annäherung durch Gespräch
geben.
Falaturi:
Nur noch eine Ergänzung. Wenn wir es religionsgeschichtlich
betrachten, dann haben wir hier eigentlich kein Problem. Die
Zeit der Juden in Spanien war eine goldene Zeit, wo sich zwei
Kulturen zusammen gefunden haben, und das ist vom heutigen
Judentum nicht wegzudenken. Aber dann müssen wir auch
erkennen, dass wir nicht hier sind als einfache Vertreter des
Christentums, des Judentums, des Islams. Ich bin hier als
Jude, Sie sind hier als Muslim und als Christ. Da kommt noch
ein eigenes Bekenntnis hinzu; die Tatsache, dass man Christ
oder Jude oder Buddhist ist, ist ein Teil einer Identität, die
sich nicht verkleinern lässt. Man lebt innerhalb einer
Offenbarung. Man könnte anerkennen, dass es andere
Offenbarungen gibt, aber in einem gewissen Sinne, in uns
selbst, müssen wir das bleiben, was wir sind, trotz und obwohl
wir wissen, dass wir uns in Begegnungen immer verändern, dass
wir in der Zukunft vielleicht etwas anderes sind als in diesem
Moment. Aber dieser Streit ist auch ein positiver Streit. Man
muss sich auch innerhalb einer Gruppe entwickeln. Wir sollten
in Rechnung stellen, dass in einigen Religionen die Betonung
mehr auf dem Individuum liegt, bei anderen ist es mehr eine
Art Gruppenerlebnis. Es ist ein Unterschied, ob Erkenntnis
eine Art persönliches Glaubensbekenntnis ist oder ein
Erlebnis, eine Wahrheit, die innerhalb von Riten, innerhalb
einer Gesellschaft, einer Gemeinschaft gefunden wird. Wir
erkennen, dass wir zu Gott hinstreben, und wir können dann
auch erkennen, dass andere auf ihre andere Weise dies auch
tun. Darauf kommen wir später noch zurück.
von Brück:
Vielleicht ist es sinnvoll, wenn wir kurz innehalten und
fragen: Was haben wir jetzt eigentlich besprochen? Ich möchte
versuchen, dies unter drei Gesichtspunkten zu bündeln, bevor
wir dann in die nächste Gesprächsrunde eintreten können.
Zunächst aber zwei Vorbemerkungen. Erstens: Wir betrachten
Religion ja nicht nur unter der historischen, distanzierten,
religionsgeschichtlichen Perspektive, Herr Friedlander. Das
können und müssen wir zwar auch tun, bliebe es aber dabei,
würde unser Unternehmen hier irrelevant für die
Konfliktsituation, in denen sich Menschen aus verschiedenen
Religionen ja offensichtlich befinden. Zweitens: Wenn wir
sagen, wir sollen irgendwie auch bleiben, was wir sind, so
müsste hier der Begriff des Bleibens wie auch des Seins
geklärt werden, denn dieses Bleiben ist natürlich ein Werden,
also ein Prozess der Identitätsfindung, die im Werden ist.
Woran aber ist dieser Prozess orientiert? Das ist in anderen
Worten die Frage nach dem, was sich geschichtlich wandelt und
was konstant bleibt. Wenn wir in die Geschichte der Religionen
blicken, sehen wir, wie stark sie sich gewandelt haben, selbst
in der relativ kurzen Zeit, die wir überblicken, nämlich
allenfalls 2000 bis 3000 Jahre. Das ist
menschheitsgeschichtlich eine sehr kurze Zeit. Ich möchte nun
versuchen, drei Themenkreise aus unserem bisherigen Gespräch
zu beschreiben, die dann auch hilfreich sein könnten, wenn wir
im nächsten Gesprächsgang noch einmal die ganze Pluralismus-
und Pluralitätsfrage unter anderen Gesichtspunkten erörtern.
1. Von Herrn Moltmann - und dann noch ergänzt von Herrn
Falaturi - waren zwei Menschenrechte angesprochen worden: Das
Recht, die Religion verlassen zu können, in die man geboren
ist; und das Recht an dieser spezifischen Religion, in der man
sich findet, festhalten zu können. Das ist, ein wenig
abstrakter formuliert, die Frage nach der Identität. Identität
ist nichts Statisches, sie ist im Werden und bildet sich in
der Gemeinschaft mit anderen heraus, sowohl
individualpsychologisch wie natürlich auch in ganzen
Traditionen und Religionen, die dann einen relativ stabilen
Referenzrahmen für die spezifische und individuelle
Identitätsfindung abgeben können. Aber Identität hat immer
auch mit Abgrenzung zu tun. Damit wird dann die schwierige
Frage nach der Bedeutung des Streites und des Kampfes
aufgeworfen, denn nur so kommt Abgrenzung zustande. Die Dinge
sind recht klar, wenn man in die christliche Geschichte
blickt. Die christliche Theologie entwickelte sich als
Abgrenzung von der Gnosis, von römischen imperialen
Ansprüchen, später in konfessionalistischen
Auseinandersetzungen usw. Das ist aber in anderen Traditionen,
wie z.B. in der buddhistischen oder hinduistischen Geschichte,
nicht viel anders. Die buddhistischen Denkmuster und
Lebensformen entwickelten sich im Widerspruch von und in
Abgrenzug zu den brahmanischen Traditionen. Und der spätere
Hinduismus formierte sich zum Teil in direkter
Auseinandersetzung mit buddhistischen Denk- und Lebensformen.
Es gibt hier also eine Herausbildung von Identitätsmustern,
die in der Abgrenzung und auch in einer bestimmten Form und
einer bestimmten Kultur des Streites, die von allen
Beteiligten mehr oder weniger akzeptiert wird, entstehen. Das
muss man deutlich sehen. In diesem Sinne möchte ich fragen:
Was bedeutet dieser produktive Streit für unsere
Identitätsfindung, sowohl individuell als auch in bezug auf
Traditionen und Religionen? Auch für unseren heutigen Dialog?
Das wäre also mein erster Fragenkreis.
2. Das zweite Problem hängt auch mit einem Satz zusammen,
den Herr Moltmann prägte, nämlich mit seiner These vom
Agnostizismus als erster Antwort auf die Pluralität der
Religionen, jedenfalls auf die bewusst wahrgenommene. Die
Frage ist ja nun, was unsere Situation heute so verschieden
von den Situationen macht, die wir in der Geschichte der
Religionen beobachten können, die auch pluralistisch waren und
als Begegnungssituationen verstanden werden können? Man
braucht nur Indien anzuschauen, die frühe islamische
Geschichte oder die chinesische Religionsgeschichte - überall
trifft man auf mehr oder minder intensive gegenseitige
Durchdringung der Religionen. Das trifft gewiss auch auf die
japanische Religionsgeschichte zu, Herr Yagi, jedenfalls bis
zur Tokugawa-Zeit, wo sich doch verschiedene Traditionen noch
gegenseitig durchdrungen und herausgebildet haben. Was also
macht unsere Situation so spezifisch? Ist es der Agnostizismus
europäischer Prägung, der sich seit der Aufklärung, seit der
Französischen Revolution in bestimmten Formen herausgebildet
hat? Und wäre dies eine Bedingung für die Art des Dialogs, den
wir heute führen, oder nicht? Ich glaube nicht so sehr, dass
nach dem Zweiten Weltkrieg der Dialog vor allem als Schild
gegen den Atheismus geführt wurde und so verstanden worden
ist, obwohl es das auch gibt, etwa bei der Begründung des
Dialogs in der Vereinigungskirche während der 70er und frühen
80er Jahre. Aber mir scheint, wenn man etwa die ersten
Dokumente dieser Art nach dem Zweiten Weltkrieg anschaut, vor
allem die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils und auch
des Ökumenischen Rates der Kirchen, dann wird als Motiv für
den Dialog vor allem die Anerkennung der Schuld der Christen
im Zweiten Weltkrieg und beim Holocaust deutlich, sowie auch
die gemeinsame Verantwortung in der Bedrohung angesichts
gegenwärtiger Gefahren: der Kriegsgefahr, der ökologischen
Gefahr, dem Flüchtlingselend usw. Die Weltkonferenz der
Religionen für den Frieden (WCRP) ist ganz und gar auf diese
Themen ausgerichtet. Aber auch dann muss man fragen: Was heißt
hier erkennen, dass wir die Wahrheit nicht besitzen? Oder den
absoluten Wahrheitsanspruch aufgeben? Das kann man zwar so
formulieren, und da ist natürlich auch etwas Richtiges
gesehen, weil man Wahrheit ohnehin nicht besitzen kann. Aber
was bedeutet hier eigentlich Wahrheit? Bedeutet es einen
Referenzrahmen, an dem ich mein Handeln angesichts eines
unbedingten Anspruchs orientiere, so ist damit der
Religionsbegriff unmittelbar verbunden. Was heißt es dann
aber, wenn ich meine Religion zur Disposition stelle, sie
verbessern möchte, indem ich Wahrheitsansprüche aufgebe? Und
was bedeutet es, wenn verschiedene Wahrheitsansprüche
aufeinander prallen? Wir hatten das Beispiel von der Pari3a
und der Bergpredigt gehört. Ist dieser Vergleich sinnvoll, da
doch die Pari3a im Islam eine ganz andere Rolle spielt als die
Bergpredigt innerhalb des Christentums? Die Fragen nach
normativen Impulsen sind ja hier sehr verschieden. Dennoch
können wir fragen: Wie könnte der Islam in der heutigen
Situation die Pari3a so verstehen, dass sie von vorneherein
nicht alle anderen ausgrenzen muss? Oder wie könnte das
Christentum die Bergpredigt verstehen, um vielleicht sich
selbst in diesem Sinne auch zu reformieren? Diese Fragen nach
Agnostizismus, Wahrheit, Dialog, Notwendigkeit zum Dialog
können wir nicht schnell lösen. Vielleicht genügt es zunächst,
wenn wir ehrlich und bescheiden sind und sagen, dass wir die
Wahrheit nicht besitzen. Ich stimme dem zu, wir besitzen sie
nicht. Aber wenn wir nicht von der Wahrheit ergriffen sind und
dann auch für die Wahrheit zu streiten bereit sind, können wir
unsere Religionen, ganz egal welche, aufgeben. Denn dann haben
wir keine Handlungsorientierung mehr und die Religion würde
irrelevant.
3. Wir müssen die Frage stellen: Was ist eigentlich der
Grund für den Religionsstreit oder für den Streit der
Religionen in der Vergangenheit? Ist es wirklich nur die
Bösartigkeit des Menschen oder die Ignoranz der
Machtbesessenen oder die Verquickung zwischen Religion und
Staat, die wir fast aus allen Kulturen kennen? Oder ist dieser
Streit nicht vielleicht auch ein Faktor, der unausweichlich
mit der Frage nach Wahrheit zusammenhängt, der mit der
Identitätssuche zusammenhängt und so in irgendeiner Form der
menschlichen Geschichte immanent ist? Wenn wir in unsere
Traditionen schauen, und gerade auch in die formativen Zeiten
des Christentums, des Buddhismus, dann hat es Streit gegeben,
aber es war immer eine bestimmte Form von Streit, eine
bestimmte und allgemein akzeptierte Streitkultur, die sich in
einen bestimmten Rahmen einfügte. Vielleicht müssten wir heute
fragen, heute Abend, welche Form von Streitkultur könnte oder
müsste sich entwickeln, damit wir unsere Probleme ohne
zerstörerische Aggression lösen können? Denn es wurde doch
auch in unserem Gespräch vorhin spannend und interessant, wo
wir anfingen miteinander zu streiten, als Herr Moltmann und
Herr Falaturi in Widerrede miteinander stritten. Ansonsten
bliebe der Dialog langweilig und angesichts der realen
Probleme völlig irrelevant.
Diese Frage also möchte ich hervorheben, und vielleicht
darf ich einen kurzen Hinweis geben, wie ich mir eine Lösung
vorstellen könnte, und zwar in Anknüpfung an das, was Herr
Yagi sagte. Er sagte, es ist ganz schwierig in Japan, mit dem
Schintoismus einen Dialog zu führen. Es ist genauso schwierig,
etwa in Indien mit den Stammesreligionen in den Bergen Orissas
oder Tamil Nadus einen Dialog zu führen. Warum? Weil das
Weltbild und die Lebenssituationen, die soziologischen
Strukturen, die diese Religionen hervorbringen, ganz andere
sind, als unsere. Meist sind dies schriftlose Kulturen. Es ist
leicht, einen Dialog mit Buddhisten zu führen, weil die
geschichtliche Entwicklung des Buddhismus
religionssoziologisch in vieler Hinsicht gerade bei allen
Unterschieden zur christlichen Entwicklung relativ ähnlich
verlaufen ist. Ich will jetzt die Parallelen nicht nennen.
Könnte man sagen, dass wir als unsere Dialogbasis
tatsächlich so etwas wie eine Wahrnehmung gemeinsamer
Lebenssituationen in psychologischer, soziologischer und
politischer Hinsicht brauchen? Und dass dies dann ein Rahmen
wäre, in dem auch Streitkultur, Wahrheitsfrage usw. diskutiert
werden können?
Falaturi:
Darf ich ganz kurz auf einen Punkt hinweisen. Ich sehe
überhaupt keinen Widerspruch zwischen der Tatsache, dass ich
meinen Partner in seiner Religion bestätige und ihn anerkenne
und ihm das Recht gebe, seine Religion und seine Identität zu
bewahren, und der anderen Tatsache, dass ich dabei die
Wahrheit meiner Identität gar nicht aufgebe. Ich beschränke
aber die Wahrheit nicht auf meine. Ich zitiere sinngemäß den
Spruch eines Mystikers, den ich vom Koran aus auch bestätigen
kann: Die Wege zu Gott sind so viele wie es Menschen gibt.
Warum soll es nicht so sein? Warum soll die christliche
Wahrheit aufgegeben werden, wenn der Christ meine islamische
Identität bestätigt und ihr zustimmt? Ich sehe keinen
Widerspruch, schon gar nicht, dass meine Wahrheit geschwächt
würde.
v. Strietencron:
Mit dieser Aussage von Herrn Falaturi sind wir schon
übergegangen zu unserem zweiten Diskussionspunkt, dem wir uns
nun intensiv zuwenden sollten: