Wahr und Falsch

Das Wahre und das Falsche

Ayatollah Morteza Motahhari

 

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Inhaltsverzeichnis

Warum präsentieren die Marxisten die Geschichte als etwas Ungewisses und Suspektes?

Die Marxisten versuchen, die Menschheitsgeschichte als etwas Ungewisses, Vieldeutiges hinzustellen. Allein den Urkommunismus betrachten sie als eine glanzvolle Periode der Geschichte. So müßte ihrer Meinung nach die Periode der Zweiten Kommune und die gesamte Menschheitsgeschichte seit dem Auftreten des Privateigentums eine Zeit der Herrschaft des Falschen, der Ungerechtigkeit, der Korruption, der Niedertracht, des Massakrierens, des Betrugs, der List und Tücke gewesen sein. So erklären sie den Vormarsch der Wahrheit im Laufe der Menschheitsgeschichte: Dieser Vormarsch sei nichts anderes gewesen als Arglist, eine suspekte Ungewißheit über den anderen. Selbst Religionen und Propheten spielten keine Rolle, sie hätten den Menschen nicht verändert, der Mensch selbst hätte sie sich nur erschaffen. Sie seien Werkzeuge in den Händen des Menschen gewesen, damit Obskuritäten, Unwissenheit und Verdummung produziert werden könnten, eine Droge, um das Volk seiner Denkfähigkeit zu berauben. Hat jemand wirklich einmal von Gerechtigkeit und Wahrheit gesprochen, so war bestimmt etwas Verdächtiges dabei. Ist es denn möglich, daß jemand in einer Zeit des Privateigentums tatsächlich Verteidiger des Wahren, der Wahrheit und der Gerechtigkeit sei? Hin und wieder akzeptieren die Marxisten Bewegungen von seiten der Unterdrückten, die in der Geschichte stattgefunden haben (die Unterdrückten haben revoltiert, um ihr Recht zu bekommen, nicht um die Gerechtigkeit zu installieren. Aber sie bekommen ihr Recht nur, wenn Gerechtigkeit geübt wird). Aber diese Bewegungen, die zu einer Zeit stattfanden, als die Produktion privates Eigentum, Bourgeoisie, Feudalismus, Sklaverei erforderlich machte, konnten zu keinem idealen Resultat führen. Der Überbau kann nur eine gewisse Zeit gegen den Unterbau laufen, nicht auf unbeschränkte Dauer. Hat es eventuell in der Geschichte ein Aufleuchten gegeben, provoziert durch das Interesse für die Humanität, so war es nur ein vorübergehendes. Es wurde zum Erlöschen gebracht, und Finsternis herrschte erneut, und das, was gekommen war, den Menschen zu erretten, hat ihn doch wieder mehr und mehr in sein Elend getaucht. Haben die Religionen auch begrenzte Wirkungen verzeichnen können, so konnten sie doch keinen Knoten des Menschlichen Lebens entwirren. Sie sind wie Platons Utopie geblieben, die nur einen idealen Plan vorstellte, geistig, unrealisierbar. Niemand konnte sie zur Verwirklichung bringen. Nicht einmal Plato selbst konnte auch nur ein einziges Dorf nach seinem eigenen Plan begründen, und so widerrief er am Ende seines Lebens seine These. Diese Vorgänge werden also nur als historische Momente angesehen.

Regierte auch der Fürst der Gläubigen[1] fünf Jahre mit wahrer, echter Gerechtigkeit, so beträgt seine Regierungszeit im Vergleich zu der Dauer der Menschheitsgeschichte nur eine kurze Sekunde. Daher kann man sie nicht als "Periode der Wahrheit und Gerechtigkeit" anrechnen. Was also die Geschichte regiert hat, ist allein Dunkelheit und Ungewißheit. Es handelt sich hierbei um eine Sorte listiger Argumentation, die manchmal selbst Gläubige betrügt. Es ist einer jener verräterischen Pläne, die Religion in Mißkredit zu bringen. Denn das, was die Unterdrückten und Freiheitskämpfer verteidigen, ist die ganze Geschichte hindurch immer der Verkünder von Freiheit und Gerechtigkeit gewesen: Die Religion. Selbst die alten Philosophen haben nicht an derartige Probleme gedacht. Es war die Religion, die Gerechtigkeit geübt hat, sie hat vom Kampf gegen die Unterdrückung, von Freiheit und Ehrenhaftigkeit, von Gleichheit und Brüderlichkeit gesprochen. Es ist die größte Verleumdung gegen die Geschichte, das alles abzuleugnen. In einem meiner Vorträge, der den Titel "Das Hussain Epos" trägt, habe ich gewisse Prediger kritisiert, Leute, welche die Passion unseres dritten Imams (a.s.) vortragen, und habe dabei gesagt:

Aschura, der zehnte Tag des Monats Muharram[2], hat zwei Aspekte, zwei Seiten, zwei Gesichter: ein weißes und ein schwarzes, wie eine Geldmünze, die zwei Seiten hat. Die eine Seite repräsentiert Unterdrückung, Verbrechen, Grausamkeit, Feigheit und Härte. Die Helden dieser Seite sind Omar-ibn-Sa'd, Schimr, Sinan-ibn-Anas, Harmale Kufi usw. Während diese Seite die finsterste der Geschichte ist, ist die andere eine der glanzvollsten. Sie repräsentiert die reine Wahrheit: Hingabe, Begeisterung, Geduld und Einwilligungsbereitschaft. Die Helden dieser Seite sind Imam Hussain (a.s.), seine Brüder, seine Kinder, seine Neffen, seine Freunde. Vergleicht man die Schönheit dieser Seite mit der Häßlichkeit jener anderen, so läßt sich klar die Überlegenheit der Ersteren erkennen. Diejenigen, die die Geschichte von Aschura vortragen, pflegen jedoch den Zuhörern immer seine finstere Seite darzustellen. Man kommt fast dazu zu sagen, es gäbe im Prinzip gar keine weiße Seite. Es wird so getan, als wären Imam Hussein (a.s.) und seine Kameraden nur zugrunde gegangen, als wären sie nur unterdrückt worden und hätten keinerlei Heldentum erlangt. Obwohl, wie ich sagte, diese Geschichte zwei Aspekte hat und ihr schöner Aspekt wesentlich bemerkenswerter ist als ihr häßlicher.

Diese Kritik ist jener ähnlich, die man den materialistischen Historikern vorhalten könnte, die nur von den dunklen Seiten der Geschichte zu berichten versuchen. Denn von ihren Schönheiten zu sprechen, ist nicht im Interesse ihrer Philosophie. Zeigten sie die Schönheiten der Geschichte auf, würde der historische Materialismus ad absurdum geführt. Denn sie sagen, seit das Privateigentum auf der Bildfläche der Geschichte erschienen ist, haben die Menschen ihre menschlichen Seite vollkommen vergessen, und, wie Marx vorgibt, der Mensch sei entfremdet und in Umwandlung begriffen. Sowohl Ausbeuter als auch Ausgebeuteter sei von sich selbst entfremdet. Nur in der Zeit, als der Urkommunismus herrschte, sei der Mensch ein echt menschliches Wesen gewesen; und am Tag, an dem er den Zustand des Endkommunismus erlangt haben würde, würde er wieder zum "menschlichen Wesen". Zwischen diesen beiden Perioden verlasse der Mensch die Menschlichkeit, und seine Geschichte weise daher keinen einzigen strahlenden Moment mehr auf. Was ist nun zu tun? Es muß abgewartet werden, bis der Wagen, der uns durch die Geschichte fährt, alle auf dem Wege liegenden vorgeschriebenen Stationen passiert hat und die Endstation erreicht. Diese korrespondiert mit dem Zeitpunkt, an dem die Produktionsmittel den Sozialismus und den Kommunismus fordern. Denn im Bezug auf das In-Er­schei­nung-Treten des Sozialismus, begleitet von Wahrheit und Gerechtigkeit, spielt der Mensch keine Rolle, er kann es nicht beschleunigen oder verzögern. Der Sozialismus muß spontan und natürlich seine Fortschritte nehmen, bis er im vorgesehenen Augenblick in Erscheinung tritt.

[1] Imam Ali (a.s.)

[2] Am 10. Muharram (1. Monat im islamischen Mondkalender fand das Mar­tyrium des Enkels des Propheten Imam Hussain (a.s.) und seiner treuen Gefährten in Kerbela statt. Der Tag wird Aschura genannt.

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