Die Theorie des Islam
Die Theorie des Islam widerspricht der
des Marxismus. Wie ich bereits gesagt habe, basiert der Lauf
aller Existenz auf der Wahrheit, und diese stellt der Islam
als etwas Authentisches vor. Das Falsche lehnt er nicht ab,
betrachtet es jedoch nicht als etwas Authentisches. Darum
verhält sich der Heilige Qur’an in Bezug auf die Geschichte
optimistisch und gesteht dem Menschen eine gewisse Vornehmheit
zu. Der Heilige Qur’an behauptet nicht, daß der Mensch ein
Werkzeug sei, das dem Lauf eines blinden Determinismus Folge
zu leisten hätte. Er gesteht dem Menschen nämlich sowohl auf
Grund der Fähigkeit zum Glauben als auch wegen seiner
Erschaffung und seiner Neigung zu Wahrheit und Gerechtigkeit
eine bestimmte Authentizität zu. Er glaubt an eine natürliche
Neigung des Menschen zu Aufrichtigkeit, moralischem
Pflichtbewußtsein und Gerechtigkeit.
Dem Heiligen Qur’an zufolge ist der
Mensch ein von seinem Ursprung gläubiges Wesen. Er neigt zu
Wahrheit, das bedeutet: Er hat die vollkommene Zuneigung zum
Guten und zur absoluten Wahrheit. Gleichzeitig besitzt er
Freiheit und Autonomie, wenn es damit auch gut möglich ist,
daß er von seinem Weg abkommt. Das sieht der Heilige Qur’an
jedoch als vorübergehend an. Damit wird das Abwegige, Falsche
als Relativum entlarvt, als Phänomen, als Hindernis. Woher
kommt Unterdrückung? Daher, daß der Unterdrücker seine
göttlichen Sinne, anstatt sie auf göttliche Weise zu nutzen,
auf nicht-göttliche nutzt, vielmehr auf satanische Weise. Die
Falschheit wird durch eine notwendige Richtungsänderung des
menschlichen Werts geboren, das heißt, der Tatsache, frei und
autonom zu sein.
Die Wahrheit ist etwas Authentisches; das
Falsche ist nicht authentisch. Es besteht immer ein Kontrast
zwischen dem Authentischen und Nicht-Authentischen. Aber nicht
immer wird die Wahrheit besiegt, nicht immer geht das Falsche
als Sieger hervor. Was immer überdauert hat und das
Fortbestehen aller Existenz und Zivilisation garantiert hat,
ist die Wahrheit. Das Falsche war nur ein Vorzeigestück von
kurzem Glanz, verurteilt zum Untergang. Die menschliche Natur
ist überall die gleiche, auch in der UDSSR[1].
Wir sprechen nicht von jenen zehn Millionen Kommunisten, von
denen die Hälfte vielleicht nur Opfer einer Täuschung ist.
Wenn wir von den übrigen 190 Millionen sprechen, so handelt es
sich bei ihnen nur um instinktiv humane Wesen, das heißt, um
instinktiv Moslem seiende, schließlich, um gesunde Menschen.
In der Gesellschaft, wie sie die Marxisten vorgestellt haben,
überschattet Finsternis das Licht, siegt die Niedertracht über
das Gute, lügen alle Menschen, betrügen sich alle, weist
niemand einen tugendhaften Punkt auf, hat keiner Glauben oder
Wahrheit. Solch eine Gesellschaft könnte sich nicht mehr
halten. Es besteht ein Unterschied zwischen einer kranken
Gesellschaft und einer, in der der Mensch Sieger bleibt. Man
braucht ja nicht die grossen Ausnahmen zum Maßstab zu nehmen.
Die Gesellschaft ist wie ein Individuum.
Die Ärzte sagen: Der Zustand, der die Existenz des Körpers
garantiert, muß sich zwischen zwei Grenzen halten. Ihnen
zufolge oszilliert also das Temperament: Blutdruck
beispielsweise hat eine Maximalgrenze und eine Minimalgrenze.
Überschreitet der Blutdruck seine Grenzen, kann der Mensch
nicht mehr weiterleben. Er muß also im Gleichgewicht bleiben.
Der Mensch sucht sein Temperatur im Gleichgewicht zu halten.
Ebensowenig darf die Harnsäure gewisse Grenzen nicht
überschreiten. Weiße und rote Blutkörperchen dürfen nicht aus
ihren Grenzen treten. Auch Glucose darf ihre Grenzen nicht
überschreiten. Genauso ist es mit der Gesellschaft.
Überschreiten Wahres und Wahrheit eine gewisse Grenze, so wäre
die Gesellschaft tot. Die Tatsache, daß die Gesellschaft
sterblich ist, zeigt, daß sie zwischen zwei äußersten Grenzen
oszilliert. Bewahrt sie Mäßigung, so handelt es sich um eine
fortschrittliche Gesellschaft. Umgekehrt ist es gut möglich,
daß von beiden Seiten ein gewisser Bruch eintritt. Welche
Gesellschaften sind laut Heiligem Qur’an bereits zugrunde
gegangen? Diejenigen, in denen das Falsche gesiegt hat. Der
Heilige Qur’an besteht darauf, daß eine Gesellschaft ihr
Gleichgewicht bewahren soll. Man darf eine kranke Gesellschaft
nicht mit einer verwechseln, in der das Falsche Sieger
geworden ist. Schon immer hat es einen Kampf gegeben zwischen
dem Wahren und dem Falschen. Man beobachtet, wie das Falsche
das Wahre vorübergehend zugedeckt hat, ohne Macht zu besitzen
und längere Zeit fortdauern zu können.
Ich habe einmal eine Geschichte gehört,
die ich für geeignet halte, daß ich sie hier wiedergebe: Ein
Geistlicher aus der Provinz Fars sucht sich, als er sich in
Teheran aufhält, ein Hotel, in dem man ihm sein Geld stiehlt.
Niemanden kennt er und weiß nun nicht mehr, was er tun soll;
da denkt er an die "Empfehlung des Führers der Gläubigen[2]
an Malik-al-Aschtar" (einen der Gefährten) mit schöner Schrift
auf ein Luxuspapier zu schreiben und sie dem Premierminister[3]
zuzusenden, einerseits, um ihm damit eine neue Orientierung zu
verschaffen, und andererseits, um sich selbst aus dieser
Schwierigkeit zu retten, indem er vielleicht sein Geld
zurückbekommen würde. Er gibt sich die größte Mühe beim
Schreiben, und dann macht er sich auf zum Premierminister.
Dieser fragt ihn, um was es sich da handle. "Um die Empfehlung
des Führers der Gläubigen an Malik-al-Aschtar", antwortet er.
Der Minister unterbricht seine Arbeit einige Augenblicke und
setzt sie dann wieder fort. Der Geistliche wartet eine Zeit
lang, und wie er sich anschickt zu gehen, sagt der Minister zu
ihm: "Warten Sie, mein Herr." Er setzt sich also wieder. Leute
kommen und gehen. Der Premierminister hält ihn fest. Alle
verlassen das Büro. Nur ein paar Bedienstete bleiben zurück.
Wieder will der Mann gehen, aber der Minister hält ihn auf und
sagt: "Setzen Sie sich, ich habe Ihnen etwas zu sagen." Dann
befiehlt er dem Portier, die Tür zu schließen, damit niemand
lauschen könnte. Er wendet sich dem Geistlichen zu und fragt
ihn, indem er sich zu ihm beugt: "Warum haben Sie das
geschrieben?" "Weil Sie Premierminister sind und ich dachte,
daß der beste Dienst, den ich Ihnen erweisen könnte, der wäre,
die "Empfehlung des Führers der Gläubigen" auf ein Papier zu
schreiben, denn es ist eine Empfehlung, wie man besser
regiert, und welche die islamischen Normen beim Regieren
berücksichtigt." Indem der Premierminister ihn bittet, sich
noch weiter vorzubeugen, flüstert er ihm leise ins Ohr: "Hat
Ali selbst diese Empfehlungen auch realisiert?"
"Selbstverständlich." "Aber hat er nicht, indem er sie
realisierte, die Herrscher in Zorn versetzt? Was hat er selbst
davon gehabt, daß Sie nun kommen und mir diese Empfehlungen
überbringen?" Der Geistliche antwortete ihm: "Warum haben Sie
mir diese Fragen nicht vor den Leuten gestellt? Warum haben
Sie gewartet, bis alle weggegangen waren? Sie haben die
Bediensteten weggeschickt, Sie haben mich gebeten, mich Ihnen
zu näheren - warum haben Sie so leise gesprochen? Wovor
fürchteten Sie sich? Vor diesen Leuten da draußen? Was haben
die denn schon? Ist es etwas anderes als der Einfluß Alis über
ihre Geister, der Sie fürchten macht? Wo befindet sich jetzt
Muawiya[4]?
Sie selbst müssen ihn ja verfluchen. Nicht Imam Ali (a.s.)
also hat versagt, denn noch heute hat Imam Alis (a.s.) Logik
Partisanen. Noch heute ist es die Wahrheit, die über alles
siegt." Das ist nur eine Geschichte, aber sie erklärt die
Wirklichkeit. Das Falsche hat eine relative, störende
Existenz. Es ist nur etwas Vorübergehendes; das, was immer da
ist, ist das Wahre. Jedesmal, wenn sich eine Gesellschaft in
Richtung zum Falschen hin orientiert hat, war sie zum
Nichtsein verdammt. Das heißt: Das Wahre abzulehnen und uns
zum Falschen hinzuwenden, bringt uns nur in den Untergang. Das
Falsche ist etwas Sterbliches, zum Nichtsein verurteilt. Es
stirbt von innen her, genauso wie man heute sagt: Die und die
Zivilisation ist zum Tode verurteilt, womit man meint: Sie
stirbt von innen her. Manche Sorten fortschreitendem Sterbens
müssen notwendigerweise nicht unvorhergesehen eintreten.