Wahr und Falsch

Das Wahre und das Falsche

Ayatollah Morteza Motahhari

 

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Inhaltsverzeichnis

Die Theorie des Islam

Die Theorie des Islam widerspricht der des Marxismus. Wie ich bereits gesagt habe, basiert der Lauf aller Existenz auf der Wahrheit, und diese stellt der Islam als etwas Authentisches vor. Das Falsche lehnt er nicht ab, betrachtet es jedoch nicht als etwas Authentisches. Darum verhält sich der Heilige Qur’an in Bezug auf die Geschichte optimistisch und gesteht dem Menschen eine gewisse Vornehmheit zu. Der Heilige Qur’an behauptet nicht, daß der Mensch ein Werkzeug sei, das dem Lauf eines blinden Determinismus Folge zu leisten hätte. Er gesteht dem Menschen nämlich sowohl auf Grund der Fähigkeit zum Glauben als auch wegen seiner Erschaffung und seiner Neigung zu Wahrheit und Gerechtigkeit eine bestimmte Authentizität zu. Er glaubt an eine natürliche Neigung des Menschen zu Aufrichtigkeit, moralischem Pflichtbewußtsein und Gerechtigkeit.

Dem Heiligen Qur’an zufolge ist der Mensch ein von seinem Ursprung gläubiges Wesen. Er neigt zu Wahrheit, das bedeutet: Er hat die vollkommene Zuneigung zum Guten und zur absoluten Wahrheit. Gleichzeitig besitzt er Freiheit und Autonomie, wenn es damit auch gut möglich ist, daß er von seinem Weg abkommt. Das sieht der Heilige Qur’an jedoch als vorübergehend an. Damit wird das Abwegige, Falsche als Relativum entlarvt, als Phänomen, als Hindernis. Woher kommt Unterdrückung? Daher, daß der Unterdrücker seine göttlichen Sinne, anstatt sie auf göttliche Weise zu nutzen, auf nicht-göttliche nutzt, vielmehr auf satanische Weise. Die Falschheit wird durch eine notwendige Richtungsänderung des menschlichen Werts geboren, das heißt, der Tatsache, frei und autonom zu sein.

Die Wahrheit ist etwas Authentisches; das Falsche ist nicht authentisch. Es besteht immer ein Kontrast zwischen dem Authentischen und Nicht-Authentischen. Aber nicht immer wird die Wahrheit besiegt, nicht immer geht das Falsche als Sieger hervor. Was immer überdauert hat und das Fortbestehen aller Existenz und Zivilisation garantiert hat, ist die Wahrheit. Das Falsche war nur ein Vorzeigestück von kurzem Glanz, verurteilt zum Untergang. Die menschliche Natur ist überall die gleiche, auch in der UDSSR[1]. Wir sprechen nicht von jenen zehn Millionen Kommunisten, von denen die Hälfte vielleicht nur Opfer einer Täuschung ist. Wenn wir von den übrigen 190 Millionen sprechen, so handelt es sich bei ihnen nur um instinktiv humane Wesen, das heißt, um instinktiv Moslem seiende, schließlich, um gesunde Menschen. In der Gesellschaft, wie sie die Marxisten vorgestellt haben, überschattet Finsternis das Licht, siegt die Niedertracht über das Gute, lügen alle Menschen, betrügen sich alle, weist niemand einen tugendhaften Punkt auf, hat keiner Glauben oder Wahrheit. Solch eine Gesellschaft könnte sich nicht mehr halten. Es besteht ein Unterschied zwischen einer kranken Gesellschaft und einer, in der der Mensch Sieger bleibt. Man braucht ja nicht die grossen Ausnahmen zum Maßstab zu nehmen.

Die Gesellschaft ist wie ein Individuum. Die Ärzte sagen: Der Zustand, der die Existenz des Körpers garantiert, muß sich zwischen zwei Grenzen halten. Ihnen zufolge oszilliert also das Temperament: Blutdruck beispielsweise hat eine Maximalgrenze und eine Minimalgrenze. Überschreitet der Blutdruck seine Grenzen, kann der Mensch nicht mehr weiterleben. Er muß also im Gleichgewicht bleiben. Der Mensch sucht sein Temperatur im Gleichgewicht zu halten. Ebensowenig darf die Harnsäure gewisse Grenzen nicht überschreiten. Weiße und rote Blutkörperchen dürfen nicht aus ihren Grenzen treten. Auch Glucose darf ihre Grenzen nicht überschreiten. Genauso ist es mit der Gesellschaft. Überschreiten Wahres und Wahrheit eine gewisse Grenze, so wäre die Gesellschaft tot. Die Tatsache, daß die Gesellschaft sterblich ist, zeigt, daß sie zwischen zwei äußersten Grenzen oszilliert. Bewahrt sie Mäßigung, so handelt es sich um eine fortschrittliche Gesellschaft. Umgekehrt ist es gut möglich, daß von beiden Seiten ein gewisser Bruch eintritt. Welche Gesellschaften sind laut Heiligem Qur’an bereits zugrunde gegangen? Diejenigen, in denen das Falsche gesiegt hat. Der Heilige Qur’an besteht darauf, daß eine Gesellschaft ihr Gleichgewicht bewahren soll. Man darf eine kranke Gesellschaft nicht mit einer verwechseln, in der das Falsche Sieger geworden ist. Schon immer hat es einen Kampf gegeben zwischen dem Wahren und dem Falschen. Man beobachtet, wie das Falsche das Wahre vorübergehend zugedeckt hat, ohne Macht zu besitzen und längere Zeit fortdauern zu können.

Ich habe einmal eine Geschichte gehört, die ich für geeignet halte, daß ich sie hier wiedergebe: Ein Geistlicher aus der Provinz Fars sucht sich, als er sich in Teheran aufhält, ein Hotel, in dem man ihm sein Geld stiehlt. Niemanden kennt er und weiß nun nicht mehr, was er tun soll; da denkt er an die "Empfehlung des Führers der Gläubigen[2] an Malik-al-Aschtar" (einen der Gefährten) mit schöner Schrift auf ein Luxuspapier zu schreiben und sie dem Premierminister[3] zuzusenden, einerseits, um ihm damit eine neue Orientierung zu verschaffen, und andererseits, um sich selbst aus dieser Schwierigkeit zu retten, indem er vielleicht sein Geld zurückbekommen würde. Er gibt sich die größte Mühe beim Schreiben, und dann macht er sich auf zum Premierminister. Dieser fragt ihn, um was es sich da handle. "Um die Empfehlung des Führers der Gläubigen an Malik-al-Aschtar", antwortet er. Der Minister unterbricht seine Arbeit einige Augenblicke und setzt sie dann wieder fort. Der Geistliche wartet eine Zeit lang, und wie er sich anschickt zu gehen, sagt der Minister zu ihm: "Warten Sie, mein Herr." Er setzt sich also wieder. Leute kommen und gehen. Der Premierminister hält ihn fest. Alle verlassen das Büro. Nur ein paar Bedienstete bleiben zurück. Wieder will der Mann gehen, aber der Minister hält ihn auf und sagt: "Setzen Sie sich, ich habe Ihnen etwas zu sagen." Dann befiehlt er dem Portier, die Tür zu schließen, damit niemand lauschen könnte. Er wendet sich dem Geistlichen zu und fragt ihn, indem er sich zu ihm beugt: "Warum haben Sie das geschrieben?" "Weil Sie Premierminister sind und ich dachte, daß der beste Dienst, den ich Ihnen erweisen könnte, der wäre, die "Empfehlung des Führers der Gläubigen" auf ein Papier zu schreiben, denn es ist eine Empfehlung, wie man besser regiert, und welche die islamischen Normen beim Regieren berücksichtigt." Indem der Premierminister ihn bittet, sich noch weiter vorzubeugen, flüstert er ihm leise ins Ohr: "Hat Ali selbst diese Empfehlungen auch realisiert?" "Selbstverständlich." "Aber hat er nicht, indem er sie realisierte, die Herrscher in Zorn versetzt? Was hat er selbst davon gehabt, daß Sie nun kommen und mir diese Empfehlungen überbringen?" Der Geistliche antwortete ihm: "Warum haben Sie mir diese Fragen nicht vor den Leuten gestellt? Warum haben Sie gewartet, bis alle weggegangen waren? Sie haben die Bediensteten weggeschickt, Sie haben mich gebeten, mich Ihnen zu näheren - warum haben Sie so leise gesprochen? Wovor fürchteten Sie sich? Vor diesen Leuten da draußen? Was haben die denn schon? Ist es etwas anderes als der Einfluß Alis über ihre Geister, der Sie fürchten macht? Wo befindet sich jetzt Muawiya[4]? Sie selbst müssen ihn ja verfluchen. Nicht Imam Ali (a.s.) also hat versagt, denn noch heute hat Imam Alis (a.s.) Logik Partisanen. Noch heute ist es die Wahrheit, die über alles siegt." Das ist nur eine Geschichte, aber sie erklärt die Wirklichkeit. Das Falsche hat eine relative, störende Existenz. Es ist nur etwas Vorübergehendes; das, was immer da ist, ist das Wahre. Jedesmal, wenn sich eine Gesellschaft in Richtung zum Falschen hin orientiert hat, war sie zum Nichtsein verdammt. Das heißt: Das Wahre abzulehnen und uns zum Falschen hinzuwenden, bringt uns nur in den Untergang. Das Falsche ist etwas Sterbliches, zum Nichtsein verurteilt. Es stirbt von innen her, genauso wie man heute sagt: Die und die Zivilisation ist zum Tode verurteilt, womit man meint: Sie stirbt von innen her. Manche Sorten fortschreitendem Sterbens müssen notwendigerweise nicht unvorhergesehen eintreten.

[1]  Zur Zeit der Verfassung dieses Buches (lange vor der Islamischen Revolution 1979) existierte die UDSSR noch und ihr Untergang war nicht absehbar.

[2] Imam Ali (a.s.)

[3] Zur Schah-Zeit vor der Islamische Revolution im Iran

[4]      Feind Imam Alis (a.s.) und Vater Yazids, der später als Gewaltherrscher das Massaker an Imam Hussain (a.s.) und seinen Gefährten befehligte.

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