Wahr und Falsch

Das Wahre und das Falsche

Ayatollah Morteza Motahhari

 

zum
Inhaltsverzeichnis

Die reformatorische These und der Marxismus unter der Betrachtung als Wissenschaft

Man sagt, der Marxismus sei eine Wissenschaft; das bedeutet, er ist keine These. Ein Gärtner kennt genau die botanischen Gesetze, die der Reproduktion, der Krankheiten und des gesunden Zustands der Pflanzen. Dieser Gesetze bedient er sich, um die Vorgänge der Natur zu erkennen und sich ihnen anzupassen. Die Natur zu beherrschen bedeutet nichts weiter, als sie erkennen zu können. Aber der Gärtner kann nicht in vierundzwanzig Stunden ein Bäumchen großziehen, um die gewünschten Früchte davon zu ernten. Das steht außerhalb seiner Macht. Genauso befindet sich der Lauf der Natur außerhalb der menschlichen Willkür. Das Maximum wozu der Mensch fähig ist, ist die Natur zu erkennen und sich entsprechend anzupassen. Die Marxisten geben vor, ihre Ideologie sei eine Wissenschaft, die den Lauf der Gesellschaft entdecken könnte. Aber wie der Baum gezwungenermaßen einen unveränderbaren Prozeß durchmacht, befindet auch die Gesellschaft sich in einem unableugnebaren Prozeß begriffen. Wie die Natur vier Abschnitte durchlaufen muß, um den fünften zu erlangen, und diese vier notwendigen Etappen nicht aus dem Wege räumen kann, wie der Fötus sich im Mutterleib entwickelt, indem er verschiedene Entwicklungsstadien durchläuft, so kann auch die Gesellschaft nicht die Abschnitte ihres Entwicklungsprozesses, die sie passieren muß, umgehen. Ein Arzt vermag nur die Gesundheit des Fötus zu garantieren, seine Lage im Mutterleib zu regulieren, die Schmerzen der Mutter bei ihrer Niederkunft zu verringern, er kann verhindern, daß die Geburt sich zu sehr verzögert, damit das Kind nicht zu groß wird und ein Kaiserschnitt vermieden werden kann. Er kann sich also mehr oder weniger in die Angelegenheiten der Natur einmischen, aber ohne dabei eine gewisse Grenze zu überschreiten.

Die Gesellschaft durchläuft auch einen ähnlichen vorgeschriebenen Prozeß. Sie muß unbedingt gewisse Abschnitte passieren: Vom Urkommunismus zur Sklavenhalterschaft, dann zum Feudalismus, um schließlich bei Bourgeoisie und Kapitalismus anzulangen. Nachdem sie diese Etappen durchgemacht hat, wird sie den Endsozialismus erreichen. Wollte man die Gesellschaft vom Feudalstaat in den Sozialstaat versetzen, ohne daß sie diese Zwischenstufen passierte, so wäre das genauso, wie wenn man einen Fötus plötzlich in ein Kind verwandeln wollte, das kurz vor der Geburt stünde, was unmöglich ist.

Die Gesellschaft ist nicht in der Lage, mit Siebenmeilenstiefeln davonzueilen. Eine These, die unter Annahme der Freiheit und im Rückgriff auf Wissenschaft und Glaube dem Menschen zum vollkommenen Frieden, zur Vollkommenheit und zum absoluten Wohlergehen verhelfen will, ist unrealisierbar. Eine reformatorische These muß eine These sein, die ein Beispiel gibt, nach welchem der Mensch sich reformieren kann. Der Marxismus gibt vor, so etwas nicht zu besitzen. Er gibt vor, keine praktische Idee, keine praktische Philosophie zu haben. Er sagt: "Im Feudalstaat ist es nutzlos, wenn du dich anstrengst, versuche diese Etappe rascher als vorhergesehen zu lassen, daß du den Zustand des Bourgeoisie Staats erreichst. Befindet sich die Gesellschaft in der kapitalistischen Phase, versuche, sie mehr und mehr Opfer innerer Auseinandersetzungen werden zu lassen, damit die Revolution schneller zum Ausbruch kommt." So also kann man erklären, daß man keine reformatorische These aufzuweisen hat.

Eine reformatorische These zu haben bedeutet, den Menschen mit Hilfe des Menschen zu reformieren. Das basiert auf zwei fundamentalen Ideen: Erstens, daß in der Natur des Menschen eine Neigung zur Wahrheit existiert; zweitens, daß der Mensch frei und autonom ist, selbst wählen zu können. Prägte den Menschen nichts außer Niedertracht, so könnte man den Menschen nicht in die Obhut des Menschen geben. Die Propheten (a.s.) kamen, um den Menschen mit Hilfe des Menschen zu reformieren. Sie kamen nicht, daß der Mensch mit Hilfe von Engeln reformiert würde. Der Heilige Qur’an sagt:

"Wir haben die Gesandten geschickt, daß sie die Wahrheit predigen; wir gaben ihnen die Gesetze und die Waage, damit sie die Menschen auf dem Weg der Gerechtigkeit leiten möchten."

Er sagt nicht, die Gesandten sollten die Menschen zum Weg der Gerechtigkeit hinstoßen, sondern, die sollten sie leiten. Das heißt, die Gesandten wollten die Gesellschaft mit Hilfe der Menschen dieser Gesellschaft selbst reformieren. So etwas ist eine reformatorische These. Aber jene sogenannte "wissen¬schaftliche Hypothese" stimmte nicht einmal mit den Erfahrungen ihrer eigenen Begründer überein. Selbst zu ihrer Zeit kamen sie nicht damit zurande, die Hypothese experimentell zu bestätigen. Sie haben sogar das Gegenteil davon behauptet. Nicht nur die Gesellschaftsgeschichte stand nicht Zeuge für sie, sondern im Gegenteil, die Geschichtsschreiber bewiesen sogar, daß die Situation der Welt nicht der Vorstellung der Marxisten entsprach. Außerdem widersprachen sich Marx und Engels selbst gegen Ende ihres Lebens, nachdem sie Evolutionen und Revolutionen in Europa analysiert hatten. Lenin in Rußland bewies sogar genau das Gegenteil dieser Theorie und zeigte auf, daß das Wesentliche unter den sozialen Fundamenten die Politik und nicht die Ökonomie sei. Er begründete Marxs Sozialismus also in einer Gesellschaft, deren ökonomische Infrastruktur ihn gar nicht mehr erforderte. Er begründete eine Armee, also Macht, und eine Regierung, also Politik, eine Partei, immer noch Politik. Marx hatte im Traum nicht an solche Dinge gedacht. Nach Marx mußte die Klasse die Priorität erlangen, nicht eine Partei: Er sagte, die Partei würde kommunistisch, sobald sie sich der Arbeiterklasse annähere. Lenin sagt: "Indem sich die Klasse der Partei annähert, wird sie zur Klasse. Wir können dabei auch Mitglieder haben, die nicht der Arbeiterklasse angehören."

Mao verwarf diese Grundsätze noch mehr. Er zeigte in China, wie ein Kind mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts zu schreiten imstande ist. Marx hatte erwartet, daß die Zeitumstände ihr Kind zur Welt bringen würden. Diese Zeitumstände sah er in England, Deutschland, Amerika und Frankreich voraus, wo der Kapitalismus an das Höchstmaß heranreichte. Sie befanden sich im neunten Monat ihrer Schwangerschaft, sie mußten also in Bälde ihr Kind, den Sozialismus von England, von Frankreich, von Amerika zur Welt bringen. Aber man wartete neun Monate, neun Jahre, neunzehn, neunundzwanzig und schließlich neunundachtzig Jahre, ohne daß diese "Länder in anderen Umständen" ihre Kinder zur Welt gebracht hätten. Kann man je darauf warten, daß sie eines Tages dieses Kind gebären werden? Im Gegenteil wurden die sozialistischen Länder am ersten Tag geboren, als der Embryo sich noch im Mutterleib zu formen hatte. Im Augenblick nun sind es diese zurückgebliebensten Länder, die Tendenzen zum Sozialismus haben.

In seinen vier Thesen sagt Mao mit einer absoluten Freiheit und ohne dabei den Namen von Marx zu zitieren: "Es ist nicht richtig, daß überall die wesentlichen Widersprüchlichkeiten als wirtschaftliche betrachtet werden. Einmal ist der wesentliche Widerspruch ein intellektueller, ein anderes Mal ist der Überbau mit einem Rückgriff auf die Ökonomie zu korrigieren." In einer Gesellschaft muß die Sozialordnung verändert werden, damit die ökonomische Ordnung modifiziert werden kann, d.h., es gibt heute nichts Absurderes als die Vorstellung von Überbau und Unterbau. Unglücklicherweise betrachteten die Jungen dieses Argument als wissenschaftlich. Noch erstaunlicher ist, daß gewisse Leute den Islam diesen Vorstellungen zuordnen wollen: Sie sagen, auch der Islam betrachte die Ökonomie als Unterbau. Diese Leute kennen aber überhaupt nicht den Islam und im übrigen genausowenig den Marxismus. Diese Vorstellungen haben ihre Glaubwürdigkeit verloren und nur noch einen pub¬lizistischen Aspekt übrigbehalten. Ihre Fürsprecher jedoch wollen ihre Beziehungsgrößen Führer und Ideologie nicht verleugnen. Darum sind die gezwungen, sie in ihren Veröffentlichungen zu zitieren.

© seit 2006 - m-haditec GmbH - info@eslam.de