Die reformatorische These und der Marxismus unter der
Betrachtung als Wissenschaft
Man sagt, der Marxismus sei eine Wissenschaft; das
bedeutet, er ist keine These. Ein Gärtner kennt genau die
botanischen Gesetze, die der Reproduktion, der Krankheiten und
des gesunden Zustands der Pflanzen. Dieser Gesetze bedient er
sich, um die Vorgänge der Natur zu erkennen und sich ihnen
anzupassen. Die Natur zu beherrschen bedeutet nichts weiter,
als sie erkennen zu können. Aber der Gärtner kann nicht in
vierundzwanzig Stunden ein Bäumchen großziehen, um die
gewünschten Früchte davon zu ernten. Das steht außerhalb
seiner Macht. Genauso befindet sich der Lauf der Natur
außerhalb der menschlichen Willkür. Das Maximum wozu der
Mensch fähig ist, ist die Natur zu erkennen und sich
entsprechend anzupassen. Die Marxisten geben vor, ihre
Ideologie sei eine Wissenschaft, die den Lauf der Gesellschaft
entdecken könnte. Aber wie der Baum gezwungenermaßen einen
unveränderbaren Prozeß durchmacht, befindet auch die
Gesellschaft sich in einem unableugnebaren Prozeß begriffen.
Wie die Natur vier Abschnitte durchlaufen muß, um den fünften
zu erlangen, und diese vier notwendigen Etappen nicht aus dem
Wege räumen kann, wie der Fötus sich im Mutterleib entwickelt,
indem er verschiedene Entwicklungsstadien durchläuft, so kann
auch die Gesellschaft nicht die Abschnitte ihres
Entwicklungsprozesses, die sie passieren muß, umgehen. Ein
Arzt vermag nur die Gesundheit des Fötus zu garantieren, seine
Lage im Mutterleib zu regulieren, die Schmerzen der Mutter bei
ihrer Niederkunft zu verringern, er kann verhindern, daß die
Geburt sich zu sehr verzögert, damit das Kind nicht zu groß
wird und ein Kaiserschnitt vermieden werden kann. Er kann sich
also mehr oder weniger in die Angelegenheiten der Natur
einmischen, aber ohne dabei eine gewisse Grenze zu
überschreiten.
Die Gesellschaft durchläuft auch einen ähnlichen
vorgeschriebenen Prozeß. Sie muß unbedingt gewisse Abschnitte
passieren: Vom Urkommunismus zur Sklavenhalterschaft, dann zum
Feudalismus, um schließlich bei Bourgeoisie und Kapitalismus
anzulangen. Nachdem sie diese Etappen durchgemacht hat, wird
sie den Endsozialismus erreichen. Wollte man die Gesellschaft
vom Feudalstaat in den Sozialstaat versetzen, ohne daß sie
diese Zwischenstufen passierte, so wäre das genauso, wie wenn
man einen Fötus plötzlich in ein Kind verwandeln wollte, das
kurz vor der Geburt stünde, was unmöglich ist.
Die Gesellschaft ist nicht in der Lage, mit
Siebenmeilenstiefeln davonzueilen. Eine These, die unter
Annahme der Freiheit und im Rückgriff auf Wissenschaft und
Glaube dem Menschen zum vollkommenen Frieden, zur
Vollkommenheit und zum absoluten Wohlergehen verhelfen will,
ist unrealisierbar. Eine reformatorische These muß eine These
sein, die ein Beispiel gibt, nach welchem der Mensch sich
reformieren kann. Der Marxismus gibt vor, so etwas nicht zu
besitzen. Er gibt vor, keine praktische Idee, keine praktische
Philosophie zu haben. Er sagt: "Im Feudalstaat ist es nutzlos,
wenn du dich anstrengst, versuche diese Etappe rascher als
vorhergesehen zu lassen, daß du den Zustand des Bourgeoisie
Staats erreichst. Befindet sich die Gesellschaft in der
kapitalistischen Phase, versuche, sie mehr und mehr Opfer
innerer Auseinandersetzungen werden zu lassen, damit die
Revolution schneller zum Ausbruch kommt." So also kann man
erklären, daß man keine reformatorische These aufzuweisen hat.
Eine reformatorische These zu haben bedeutet, den Menschen
mit Hilfe des Menschen zu reformieren. Das basiert auf zwei
fundamentalen Ideen: Erstens, daß in der Natur des Menschen
eine Neigung zur Wahrheit existiert; zweitens, daß der Mensch
frei und autonom ist, selbst wählen zu können. Prägte den
Menschen nichts außer Niedertracht, so könnte man den Menschen
nicht in die Obhut des Menschen geben. Die Propheten (a.s.)
kamen, um den Menschen mit Hilfe des Menschen zu reformieren.
Sie kamen nicht, daß der Mensch mit Hilfe von Engeln
reformiert würde. Der Heilige Qur’an sagt:
"Wir haben die Gesandten geschickt, daß sie die Wahrheit
predigen; wir gaben ihnen die Gesetze und die Waage, damit sie
die Menschen auf dem Weg der Gerechtigkeit leiten möchten."
Er sagt nicht, die Gesandten sollten die Menschen zum Weg
der Gerechtigkeit hinstoßen, sondern, die sollten sie leiten.
Das heißt, die Gesandten wollten die Gesellschaft mit Hilfe
der Menschen dieser Gesellschaft selbst reformieren. So etwas
ist eine reformatorische These. Aber jene sogenannte "wissen¬schaftliche
Hypothese" stimmte nicht einmal mit den Erfahrungen ihrer
eigenen Begründer überein. Selbst zu ihrer Zeit kamen sie
nicht damit zurande, die Hypothese experimentell zu
bestätigen. Sie haben sogar das Gegenteil davon behauptet.
Nicht nur die Gesellschaftsgeschichte stand nicht Zeuge für
sie, sondern im Gegenteil, die Geschichtsschreiber bewiesen
sogar, daß die Situation der Welt nicht der Vorstellung der
Marxisten entsprach. Außerdem widersprachen sich Marx und
Engels selbst gegen Ende ihres Lebens, nachdem sie Evolutionen
und Revolutionen in Europa analysiert hatten. Lenin in Rußland
bewies sogar genau das Gegenteil dieser Theorie und zeigte
auf, daß das Wesentliche unter den sozialen Fundamenten die
Politik und nicht die Ökonomie sei. Er begründete Marxs
Sozialismus also in einer Gesellschaft, deren ökonomische
Infrastruktur ihn gar nicht mehr erforderte. Er begründete
eine Armee, also Macht, und eine Regierung, also Politik, eine
Partei, immer noch Politik. Marx hatte im Traum nicht an
solche Dinge gedacht. Nach Marx mußte die Klasse die Priorität
erlangen, nicht eine Partei: Er sagte, die Partei würde
kommunistisch, sobald sie sich der Arbeiterklasse annähere.
Lenin sagt: "Indem sich die Klasse der Partei annähert, wird
sie zur Klasse. Wir können dabei auch Mitglieder haben, die
nicht der Arbeiterklasse angehören."
Mao verwarf diese Grundsätze noch mehr. Er zeigte in China,
wie ein Kind mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts zu schreiten
imstande ist. Marx hatte erwartet, daß die Zeitumstände ihr
Kind zur Welt bringen würden. Diese Zeitumstände sah er in
England, Deutschland, Amerika und Frankreich voraus, wo der
Kapitalismus an das Höchstmaß heranreichte. Sie befanden sich
im neunten Monat ihrer Schwangerschaft, sie mußten also in
Bälde ihr Kind, den Sozialismus von England, von Frankreich,
von Amerika zur Welt bringen. Aber man wartete neun Monate,
neun Jahre, neunzehn, neunundzwanzig und schließlich
neunundachtzig Jahre, ohne daß diese "Länder in anderen
Umständen" ihre Kinder zur Welt gebracht hätten. Kann man je
darauf warten, daß sie eines Tages dieses Kind gebären werden?
Im Gegenteil wurden die sozialistischen Länder am ersten Tag
geboren, als der Embryo sich noch im Mutterleib zu formen
hatte. Im Augenblick nun sind es diese zurückgebliebensten
Länder, die Tendenzen zum Sozialismus haben.
In seinen vier Thesen sagt Mao mit einer absoluten Freiheit
und ohne dabei den Namen von Marx zu zitieren: "Es ist nicht
richtig, daß überall die wesentlichen Widersprüchlichkeiten
als wirtschaftliche betrachtet werden. Einmal ist der
wesentliche Widerspruch ein intellektueller, ein anderes Mal
ist der Überbau mit einem Rückgriff auf die Ökonomie zu
korrigieren." In einer Gesellschaft muß die Sozialordnung
verändert werden, damit die ökonomische Ordnung modifiziert
werden kann, d.h., es gibt heute nichts Absurderes als die
Vorstellung von Überbau und Unterbau. Unglücklicherweise
betrachteten die Jungen dieses Argument als wissenschaftlich.
Noch erstaunlicher ist, daß gewisse Leute den Islam diesen
Vorstellungen zuordnen wollen: Sie sagen, auch der Islam
betrachte die Ökonomie als Unterbau. Diese Leute kennen aber
überhaupt nicht den Islam und im übrigen genausowenig den
Marxismus. Diese Vorstellungen haben ihre Glaubwürdigkeit
verloren und nur noch einen pub¬lizistischen Aspekt
übrigbehalten. Ihre Fürsprecher jedoch wollen ihre
Beziehungsgrößen Führer und Ideologie nicht verleugnen. Darum
sind die gezwungen, sie in ihren Veröffentlichungen zu
zitieren.