Auf fernen Meeren

Auf fernen Meeren

Tagebuchfragmente und Briefe

1924 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Joinville (Turnschule), 25. Januar 1875.

Heute abend, als ein trüber Wintertag zu Ende und unser gewohnt elendes Mahl verzehrt war, fühlte ich mich plötzlich, mitten im Lärm und Gewirr gleichgültiger Stimmen, durch die Macht der Erinnerung auf das bewegte Meer versetzt, in die reine Luft der Tropen. Wie in einem Traum sah ich den alten »Espadon«, an den die Wogen schlugen, und all meine damaligen Eindrücke, die schon fern und vergessen schienen, erstanden mit verblüffender Wirklichkeitstreue aufs neue in mir.

Jener Augustabend zunächst, an dem ich, immer vier Stufen auf einmal nehmend, die Schiffsbrücke hinabstürmte und dem Kommandanten meldete: »Der Pic von Teneriffa vom Backbord aus in Sicht!« Ich war damals zweiter Offizier des »Espadon«, dieses kleinen halb zerfallenen Schiffes, das vom Senegal kam. Doch wir liebten uns alle an Bord, all meine Matrosen liebten mich, und es war mir sehr leid, als ich es verlassen mußte.

Berny, der lange Steuermann Francis Berny, der ein wenig mein Liebling war, spähte scharf, doch er sah noch nichts ... »Es stimmt,« sagte unser braver Kapitän, als er mit dem Fernrohr die Tatsache festgestellt hatte. »Aber, Leutnant, was haben Sie für gute Augen ...« Und blitzschnell drang die frohe Kunde bis in den untersten Schiffsraum: »Der Leutnant hat Land gesehen, den Pic von Teneriffa, vom Backbord aus!

Seit vierzehn Tagen war alles für uns in Frage gestellt, das schlechte Wetter hinderte ohne Unterlaß, und unser alter Kasten stand dauernd unter Wasser. Wir alle waren durchnäßt und ein wenig entmutigt und ganz erschöpft vor Müdigkeit. –

Seltsam ist es schon, dies Gefühl, mit wenigen Freunden aufs offene Meer verschlagen zu sein mit schwankem Boden unter den Füßen, und das, was in solcher Zeit die Seele bewegt, kann nur ein Matrosenherz verstehen ...

An jenem Abend jagte der Passatwind über unseren Häuptern die kleinen Wolken vor sich her, das Zeichen schlechten Wetters in den Tropen, die Sonne war versunken, der Abend kalt, das Meer bewegt, und feuchte Nebel lagen über uns ... Lange schon suchte mein Auge das Land in der Richtung, in der ich am Tag erwartet hatte, es auftauchen zu sehen ... Fern über einem schmalen Nebelband hob sich kaum sichtbar vom noch hellen Himmel ein hohes Etwas ab, doch brauchte man Seemannsaugen, um es zu erspähen. Ich hatte den unbestimmten Umriß des Pics von Teneriffa erkannt, dessen Silhouette sich mir eingeprägt hatte, als ich, drei Jahre früher, zum erstenmal die Welt durchfuhr.

Der heftige Wind, der uns mit salziger Feuchtigkeit überschüttete, wurde kälter und kälter, und das Meer schwoll hoch an beim Nahen der Nacht, doch an Bord war wieder Freude eingekehrt, und laut sangen die Matrosen ... Denn Land war da, ganz nahe vor uns, das Land von Teneriffa. Dieser so sehr umstrittene Punkt der Überfahrt war erreicht, und wir waren am Ende unserer Leiden ...

Ganz erstarrt betraten der Kapitän und ich die Kompaßhütte, um trotz des Schwankens den genauen Weg unseres Schiffes in die Karten einzuzeichnen.

Diese Erinnerung vom Bord des »Espadon« nimmt unter allen anderen eine besondere Stelle ein ... Die stete Gefahr, der heftige Sturm, die bewegte See, die Ungewißheit des morgen, und damit verbunden, das schöne Wissen um erfüllte Pflicht, ... die Verantwortlichkeit jeder Stunde, jeder Minute, die unumschränkte Notwendigkeit, alle Hilfsmittel meiner Intelligenz und meiner Kenntnisse der Allgemeinheit dienen zu lassen. Hier erfüllte ich meine beschwerlichen Seemannspflichten mit einem Herzen voller Leidenschaft, während in meinem innersten Leben unendliche Wandlungen sich vollzogen.

Ich fühlte neue Lebenskraft nach aller Erschlaffung im Senegal, indem ich die scharfe Luft des großen Ozeans atmete, die aus gemäßigteren Zonen zu uns hernieder strich. Die Heimat stand leuchtend am Ziel dieser Reise, zugleich jene Frau, die ich anbetete, und all die lieben Verwandten, die ich nun wiedersehen sollte ...

Doch dieser zauberhafte Traum verflog, und rauh fiel ich wieder in die Wirklichkeit zurück, in den rauchgeschwärzten Schiffsraum, die winterliche Erstarrung und den Lärm der derben Gespräche ringsumher. Wieder verwirrten sich meine Gedanken, die ich nur mühsam weiterspinnen konnte ... Dennoch entsann ich mich, daß ich beim Verlassen der Kompaßhütte die dunkle Brücke hinabstieg, bis ich mein Zimmer fand, den einzigen Winkel des Schiffes, in dem noch eine Lampe brannte. Dies einzige Zimmer war verschont geblieben, – sein Wohlstand stach grell ab von all der andern Not.

Hinter der Portiere war es da wie in einem exotischen Heiligtum voll leuchtender Farben. Überall glänzende Waffen, blinkende Rüstungen, Rosetten, die aus Perlmutter und den Flügeln der Tropenvögel kunstvoll gefertigt waren ...! All diese Pracht hatte ich hier aufgehäuft, weil sie sie sehen sollte.

Auf meinem Streckbett saß bei meinem Eintritt ein Mann. Blutrot war sein Gewand. Es war der Spahi von Cora (Jean Peyral).

Als er mich sah, hob er traurig den schönen Köpf: »Leutnant,« sprach er, »ist's wahr, haben Sie Land gesehen? ... Gleichviel, mir wäre recht, wenn wir es nie erreichten!«

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