Auf fernen Meeren

Auf fernen Meeren

Tagebuchfragmente und Briefe

1924 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Brief von Pierre Lotis Mutter an den Sohn.

Rochefort, Montag, am 1. Mai 1876.

Warum, liebes Kind (wenn ich's auch gern sehe, daß Du rechnest), warum nahmst Du Dir die Mühe, mir die Liste Deiner Ausgaben einzusenden? Ich beanstande keine, versichere ich Dir. Ich glaube sogar, daß es wenig junge Leute gibt, die draußen in der Welt so wenig brauchen, wie Du, und ich beklage nur immer wieder, daß so schwere Lasten auf Dich gelegt worden sind.

Dabei kann ich mich doch der Sorge nicht erwehren, wenn ich sehe, daß Du mir manches verbirgst, aber andererseits tut es mir wohl, zu wissen, daß Du Dich Deiner Schwester mitteilst. Es scheint mir ein so gutes Zeichen, daß Du ihr wieder Dein Vertrauen schenkst, daß es mir fern liegt, glaub' es mir, mich über diese Separatbriefe zu beklagen. Nur kann ich Dir nicht oft genug ans Herz legen, Deine Briefe sorgfältigst verschlossen zu senden, besonders wenn Du Deiner Schwester von neuen Sorgen, die Dich drücken, sprichst, oder wenn Du ihr sonst ein Geheimnis anzuvertrauen hast. Wohl weiß ich, daß Du Lehrgeld zahlen mußtest, dafür, daß Du zu vertrauensselig warst. Hat dies Dein Lehrgeld Dich vorsichtiger gemacht? Hüte Dich wohl so zu sein, wie Du es diesbezüglich hier gewesen bist.

Es ist mir unmöglich, mein armer Liebling, mich der Erfolge zu freuen, die Du im Zirkus errungen hast ... Das sind nicht jene, muß ich Dir sagen, die meine Träume für Dich hofften ...

Der April war hier scheußlich, und der Mai kündigt sich nicht gerade herrlich an. Es regnet noch, und heute ist es bitter kalt. Nichts sprießt rasch, alles ist im Rückstand. Und was wir nie vorher gesehen haben: Hungrige Spatzen haben all unsere Glyzinienknospen abgeweidet, selbst jene, wo noch keine Blätter waren. Hoffentlich wachsen noch welche nach. Die abscheulichen kleinen Fresser haben sogar einen Teil unserer Rosenknospen vertilgt, und alle wären ihnen anheimgefallen, hätten wir nicht eine weiße Fahne gehißt, die jetzt über den Rosen flattert – eine Fahne, die nichts Aufrührerisches an sich hat.

Claire und ich bitten Dich, uns endlich mitzuteilen, was mit den Giraffenfellen geschehen soll, die Du aus dem Senegal brachtest. Sie sind fast ganz verfault und sind durchaus kein Schmuck für unseren Hof.

Leb wohl, geliebter Junge, all Deine armen Alten umarmen Dich von Herzen.

NadineNadine ist die Abkürzung für Renaudine, welcher Vorname sich in Pierre Lotis Familie häufig findet in Erinnerung an die Urväter, Renaudin genannt, die nach Holland emigrieren mußten, als das Edikt von Nantes widerrufen wurde. Auch der Kommandant des »Vengeur« hieß Renaudin und entstammte der gleichen Familie.

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