Auf fernen Meeren

Auf fernen Meeren

Tagebuchfragmente und Briefe

1924 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Brief Pierre Lotis an einen Freund in Konstantinopel.

An Bord des »Tonnerre«.

Lorient, 8. März 1878.

Mein lieber Pogarritz!

Sie behaupten, ich hätte Ihnen einmal das Leben gerettet, und seither gehörten Sie mir ein wenig. Sie behaupten auch, dies Leben, an dem Sie nicht mehr hängen, freudig hergeben zu wollen ... Heute brauche ich Sie, – sind Sie bereit? Es handelt sich um etwas sehr Ernstes und ich rufe Sie aus meiner tiefen Not.

Sie haben ein gutes, tapferes Herz, und mir ist, als wären Sie mein Bruder... Zögern Sie nur nicht aus Interesse für mich, halten Sie mir keine Reden, machen Sie mir keine Vorwürfe, denn all das wäre banal und unnütz, wäre meiner und Ihrer nicht würdig. Sie wissen, daß, wenn ich etwas will, ich es ganz will und nichts daran zu ändern ist. Sind Sie bereit, mir ein Opfer zu bringen, dann tun Sie es ohne Zögern, gehen Sie daran, ohne nachzudenken, – und dann wird es um Leben und Tod gehen zwischen Ihnen und mir. Sind Sie einverstanden?

Es handelt sich um jenes junge türkische Weib, das Sie »meine Odaliske« nennen, indem Sie über meine Tollheit lächeln ... Dies Lächeln ziemt sich heute nicht mehr. Denn aus dem Liebesabenteuer ward nun für sie und mich eine Angelegenheit voll höchster, schrecklichster Bedrängnis. Gestern, am 7. März, erhielt ich auf ich weiß nicht welchem Wege einen Brief von ihr, von meiner geliebten Aziyadé, – ich hatte Ihnen früher schon ihren Namen genannt. Einen Brief voll tiefster Seelenpein, ein feierliches Appellieren an all meine einstigen Schwüre, an mein Mitleid, an meine Liebe für sie.

Die Russen sind rings um Konstantinopel, man organisiert in Eile die Verteidigung von Stambul, den Massenaufstand, den Heiligen Krieg: Alle Greise greifen zu den Waffen und ihr alter Gebieter Abeddin, dessen Herz noch in fanatischer Tapferkeit glüht, wird in den ersten Reihen streiten. Als einer der ersten wird er fallen. Und sie wird Witwe sein ...

Sie wissen, welches Los einer türkischen Witwe harrt, wenn sie jung und schön ist: Im voraus schon ist sie dem Freund des Gatten vermählt, der ihrer begehrt.

Der Unvermeidliche für Aziyadé wäre Osman Effendi, den Sie einmal mit mir beim Empfang der Magyaren in Séraskérat gesehen haben. Er ist jung, kühn und eifersüchtig, ihn wird man nicht töten, denn er ist bei der Intendanz und kämpft nicht mit. Und würde Aziyadé sein Weib, so wäre sie ebenso verloren für mich, als wenn sie gestorben wäre ...

Darum will sie um jeden Preis fliehen; sie weiß, daß die Wirrnis, die Stambul jetzt erfüllt, diese Flucht nur begünstigen kann und daß in solchem Augenblick alles gewagt werden darf. Nur muß der Boden der Türkei so rasch als möglich verlassen werden, und die arme Kleine kann keine einzige christliche Sprache, spricht nicht einmal Griechisch. Sie hat keine Ahnung von unseren Gebräuchen, weiß nicht, wie man reist, kennt weder ein Paketboot noch Geographie. Daher braucht sie einen Begleiter.

Mein Freund Achmet, den Sie gekannt haben, der so ergeben als unternehmend war, kann ihr in nichts mehr dienen, denn er hat Stambul längst verlassen, und es ist fast zweifellos, daß er zu dieser Stunde nicht mehr lebt.

Einige Male in diesem Winter ließ Achmet mir durch einen Griechen schreiben, der die französische Sprache radebrecht und der keine Ahnung davon hat, wie unsere Monate heißen, noch wie wir Briefe datieren. Ich weiß, er ist gegen Dezember oder Januar in den Krieg gezogen, war mit bei den großen Balkanschlachten, und kam plötzlich mit einem Sanitätszug vom Roten Halbmond zurück, – als armer verwundeter Kranker. Einen Teil des Winters verbrachte er in Stambul, ans Bett gefesselt und in tiefer Not... Von den beiden Pferden, die, wie Sie sich erinnern werden, sein ganzes Vermögen waren, wurde das eine für den Krieg angefordert, das andere ist tot.

Am 5. Februar erhielt ich einen Brief von ihm, in welchem er mich um ein wenig Geld bat. Ich sandte ihm, was mir möglich war, und ich weiß, er muß sehr elend daran gewesen sein, wenn es so weit kam, daß er Hilfe suchte.

Am 2. März erhielt ich einen letzten Brief in türkischer Sprache. Sein Freund Ali Agha übersandte mir ihn, und er war aus Adrianopel datiert. Denn Achmet war wieder für den Krieg ausgehoben worden, trotzdem er sich nur mit Mühe aufrecht halten konnte; er war verwundet, lag im Sterben und sandte mir seine letzten Grüße. Das ist des armen Achmet Geschichte.

Ich hätte ja selbst gehen können, um Aziyadé zu holen. Gestern hatte ich es beschlossen, doch heute habe ich nachgedacht. Kein Mittel steht mir zur Verfügung, um, sei es für jetzt oder für später, die Bewilligung zu einer Reise nach Konstantinopel zu erlangen. Ich habe auch kein Geld, um abzureisen. Sie werden einwenden, daß es immer möglich ist, zu desertieren, und daß man auch ohne Geld auf manche Weise reisen kann. Ich weiß das alles, und gestern war ich bereit, es zu tun. Aber ich habe meine Ehre als französischer Offizier, und das bedeutet mir doch mehr, als ich ursprünglich dachte.

Der Jemand, der dort nötig ist, um mich zu vertreten und Aziyadé zu helfen, – wollen Sie, mein Freund, selbst dieser Jemand sein? Ich frage es, Sie beschwörend, in heißer Angst ... mich dünkt, Sie werden es mir nicht abschlagen ... Dann aber, Bruder, werde ich Ihnen mit Leib und Seele zu Diensten stehen, und es wird nichts auf der Welt geben, was ich für Sie nicht zu vollbringen bereit sein werde ...

In dem Augenblick der gegenwärtigen Krise ist das, was ich von Ihnen verlange, vielleicht weniger gefährlich, als Sie glauben. Ich werde an die Attachés der Gesandtschaft schreiben, werde Ihnen Verbindungen und Dokumente verschaffen, werde Sie sogar unserem Gesandten empfehlen. Sagen Sie, wollen Sie es tun? Wenn nicht, dann senden Sie mir gleich eine Depesche. Dann werde ich abreisen ...

Doch wenn Sie bereit sind, mein Freund, dann verlieren Sie weder einen Tag, noch eine Stunde, noch selbst eine Minute. Denn so müssen Sie es beginnen: Bedecken Sie Ihr Haupt mit einem Fez, und begeben Sie sich über die Brücke von Kara-Keni nach Stambul. Dort mündet die Straße Onu Capou, an der entlang Sie gehen müssen, bis Sie der kleinen Moschee At-Bazar-Bachi ansichtig werden. Knapp ehe Sie sie erreichen, werden Sie eine Sackgasse sehen, und an deren Ende steht ein altes, rotgemaltes Haus (alle anderen Häuser sind gelb). Neben der Eingangstür ist ein vorspringendes vergittertes Fenster. An den Laden dieses Fensters klopfen Sie. Es ist das Fenster der Negerin Kadidja, von der ich Ihnen schon gesprochen habe. Ein altes kluges, listiges Geschöpf und auf Leben und Sterben Aziyadé ergeben, die einst ihre Herrin war. Klopfen Sie sechsmal mit kurzen Schlägen, dann glaubt sie, daß ich es bin. In früherer Zeit waren diese sechs Schläge das zwischen uns verabredete Zeichen. Ist die alte Frau nicht daheim, so werden Sie wiederkommen müssen. Nachbarn oder Nachbarinnen werden Sie ausfragen. Sie sprechen hinreichend gut Türkisch, um sich für einen Muselman ausgeben zu können (und Ihre Physiognomie ist auch typisch). Sie werden sagen, Sie seien gekommen, ein heiliges Amulett zu erstehen. Und da die Alte solche verkauft, wird niemand verwundert sein.

Treffen Sie dann Kadidja, so übergeben Sie ihr diesen Brief für Aziyadé. Sagen Sie ihr, daß ich Sie sende, und daß Sie bereit sind, für ihre Herrin alles zu tun, was ich getan haben würde. (Denken Sie daran, daß sie mich unter dem Namen Loti oder Arif Ussam kennt.)

Geben Sie ihr Ihre Adresse. Erklären Sie ihr, daß Sie Aziyadé zur Flucht behilflich sein wollen, wenn sie entschlossen ist, zu fliehen. Daß Sie bereit sind, sie in Galata, in Ihrem eigenen Hause aufzunehmen und verborgen zu halten. Dann müssen Sie sich nach Möglichkeit von Stambul fernhalten, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, denn die Alte wird möglicherweise überwacht. Ich vertraue Ihnen Aziyadé an, als ob Sie mein Bruder wären. Sie werden beurteilen können, ob die arme Kleine Aufopferung und Liebe verdient, Sie werden sehen, wie reizend sie ist, und werden verstehen, warum ich so handle.

Kadidja wird für Sie eine nützliche Hilfskraft sein, sie ist das pfiffigste Geschöpf, das ich kenne. Befolgen Sie alle ihre Ratschläge. Zögern Sie nicht, mich zu verständigen, wenn Sie irgend etwas brauchen. Und übrigens wird alles, was Sie tun, wohlgetan sein.

Sie werden Geld benötigen: gehen Sie nach Pera, zu Villier, dem Gesandtschaftssekretär. Er hat 500 frcs., die ich ihm eben sandte, um meine Schuld an Abdullah Effendi (der mir nach der Feuersbrunst in Eyoub Geld borgte,) zu bezahlen. Er wird Ihnen dieses Geld ausfolgen, denn ich habe ihm geschrieben, es für Sie aufzubewahren. Villier ist auch ein tapferer Bursche, doch weder genug kühn, noch mir so sehr ergeben, um das zu vollbringen, was ich von Ihnen erbitte, mein lieber Pogarritz, worum ich keinen andern bitten würde. Aber er wird sich entschlossen aufraffen, um Ihnen behilflich zu sein.

Mir wäre es am liebsten, wenn Aziyadé sich auf einem Paketboot der Compagnie Fraissinet einschiffte, das gegen Marseille steuert. Sie finden sicher jemand Verläßlichen unter den Emigranten, dem Sie sie überantworten können, und außerdem kenne ich fast jeden Kommandanten jener Paketboote, und Sie könnten in meinem Namen sprechen.

In Marseille würde ich selbst sie in Empfang nehmen.

Fürchten Sie nicht, mein lieber Freund, daß Sie sich hier in ein Romankapitel verwickeln: Dies ist bestimmt kein solches. Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre: Ist sie erst einmal auf französischem Boden, wird Aziyadé meine Frau. –

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